In den Niederlanden beherrscht seit einer Woche eine Debatte über die niederländische Übersetzung der Gedichte von Amanda Gorman die Literaturszene oder gar das ganze Land. Aus Übersetzer*innensicht ist die Diskussion unglaublich spannend und lange fällig, denn sie spiegelt aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Diskussionen wider. Aber fangen wir lieber vorne an.
Am 23. Februar postete Marieke Lucas Rijneveld, bekannt durch den Debütroman Was man sät, der im vergangenen Jahr mit dem International Booker Prize ausgezeichnet wurde, den folgenden Tweet:
Großartige Neuigkeiten! Ich fühle mich geehrt, das Inaugurationsgedicht „The Hill We Climb“ von Amanda Gorman und ihren ersten Gedichtband übersetzen zu dürfen. „The Hill We Climb“ wird am 30. März veröffentlicht, der erste Gedichtband erscheint am 21. August.
Hier die erste wichtige Information für die Diskussion: Rijneveld ist Schriftsteller*in und hat noch keinerlei Übersetzungserfahrung vorzuweisen. Darüber hinaus hatte Rijneveld in einem Interview im letzten Jahr erwähnt, dass das eigene Englisch schlecht sei. Aus diesem Grund liegt die Frage, warum der niederländische Verlag Meulenhoff Marieke Lucas Rijneveld ausgesucht hat, auf der Hand. Doch diese Frage war am Ende nicht diskussionsbestimmend.
Stattdessen mischten sich unter die Gratulant*innen auf Twitter aufgebrachte Kommentator*innen – denn Marieke Lucas Rijneveld ist Weiß. Über Rijneveld und Meulenhoff schwappte eine Flutwelle der Kritik. Auch die Aktivistin und Journalistin Janice Deul reagierte in der niederländischen Tageszeitung De Volkskrant mit einem vernichtenden Kommentar:
Eine unbegreifliche Entscheidung, aus meiner Sicht und aus der Sicht vieler anderer, die über die sozialen Medien ihrem Schmerz, der Frustration, der Wut und Enttäuschung Ausdruck verliehen haben. Havard-Alumna Gorman, großgezogen von einer alleinstehenden Mutter und wegen eines Sprachfehlers als „Special-Needs“-Kind abgestempelt, beschreibt sich selbst als „skinny Black girl“. Ihre Arbeit und ihr Leben sind durch ihre Erfahrungen und ihre Identität als Schwarze Frau gekennzeichnet. Ist es dann – gelinde gesagt – nicht eine verpasste Chance, Marieke Lucas Rijneveld mit dieser Aufgabe zu betrauen? Rijneveld ist Weiß, nicht-binär, hat keine Erfahrung in diesem Bereich, aber ist Meulenhoff zufolge die perfekte Wahl? […] Warum wird nicht ein*e Schriftsteller*in ausgewählt, der/die – wie Gorman – Spoken Word Artist ist, jung, weiblich und: unapologetically Black?
Meulenhoff und Rijneveld reagierten auf die Kritik und veröffentlichten am 24. Februar ein Statement, in dem sie die Übersetzer*innenwahl begründeten: Gorman und ihr Team hätten von Anfang an klare Anforderungen an die Übersetzer*innen gestellt. Die Übersetzer*in solle eine Person mit einer persönlichen Affinität zu Gormans Werk sein, auch in Bezug auf Stil und Ton. So hätten Gorman und Rijneveld beide sehr jung internationale Anerkennung für ihre Werke erfahren. Darüber hinaus würden beide für wichtige Themen einstehen, Marieke Lucas Rijneveld beispielsweise für Geschlechtergleichstellung. Amanda Gorman und ihr Team hätten sofort positiv auf den Vorschlag, Marieke Lucas Rijneveld zu engagieren, reagiert. Zudem sei unabhängig von dem oder der Übersetzer*in vorab mit Gormans Team vereinbart worden, „Sensitivity Readers“ einzusetzen, die die Texte kritisch begutachten sollten.
Dieses Statement konnte der Kritik nicht den Wind aus den Segeln nehmen, und der Druck, der von außen auf Rijneveld ausgeübt wurde, nahm überhand: Rijneveld trat am 26. Februar vom Auftrag zurück. Auf Twitter schrieb Marieke Lucas Rijneveld unter anderem:
Hiermit möchte ich bekanntgeben, dass ich beschlossen habe, vom Auftrag für die Übersetzung von Amanda Gormans Werk zurückzutreten. Ich bin schockiert von der Aufregung rund um meine Beteiligung an der Verbreitung von Amanda Gormans Botschaft und habe Verständnis für die Menschen, die durch die Entscheidung Meulenhoffs, mich zu fragen, gekränkt sind.
Maaike de Noble, die Geschäftsführerin von Meulenhoff, schrieb kurz darauf, man habe in den vergangenen Tagen viele Erkenntnisse gewonnen und wolle weiter zuhören, lernen und den Dialog suchen. Der Verlag sei jetzt auf der Suche nach einem neuen Team.
Es steht außer Frage, dass Deul in ihrem Kommentar wichtige Punkte in Bezug auf die strukturelle Benachteiligung von BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) anspricht. Deul liefert auch gleich eine Liste mit BIPoC, die Spoken Word Artists sind (aber keine Übersetzer*innen) und fordert die niederländische Literaturszene dazu auf, die Menschen, die nur einen winzigen Teil des literarischen Systems ausmachten, zu „umarmen”. Talentierte BIPoC müssten gesehen, gehört und geschätzt werden, ihr Werk solle veröffentlicht und fair vergütet werden. Deul schließt mit den Worten: „Black Spoken Word Artists Matter.”
Der niederländische Verlag Meulenhoff hat definitiv eine wichtige Chance verpasst. Denn durch ihren Auftritt bei der Amtseinführung von Joe Biden löste Amanda Gorman weltweit begeisterte Reaktionen aus. Seit dem 21. Januar steht Gorman für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, für das Aufbrechen von festgefahrenen Strukturen, für die Bewegung Black Lives Matter. Das Magazin Time stilisiert die junge Dichterin zur Vertreterin der „Black Renaissance” der Kultur und macht sie so endgültig zu einer Symbolfigur. Meulenhoff hatte die Chance, auch in den Niederlanden ein Zeichen zu setzen, ein politisches Statement abzugeben. Auch wenn die von Deul genannten Spoken Word Artists keine Erfahrung im Übersetzen haben, hätten sie zusammen mit erfahrenen Übersetzer*innen ein Team bilden können. Profitiert hätten davon wahrscheinlich alle Beteiligten. Stattdessen entschied sich der niederländische Verlag dazu, eine Marketingstrategie zu verfolgen, die auf den größtmöglichen finanziellen Gewinn ausgelegt war. Eine vertane Chance, die die verkrusteten Strukturen der Literaturszene nur zu gut widerspiegelt, in der Diversität noch immer klein geschrieben wird.
Ich möchte auch aus Übersetzerinnenperspektive auf die Debatte eingehen und dafür zuerst einen Facebook-Kommentar zu Rijnevelds Rückzug zitieren:
[…] Meulenhoff, greift jetzt bitte durch und sucht die schwarze junge Frau. Und gebt auch Marieke Lucas Rijneveld den dringend nötigen Auftrag, ein Buch über nicht-binäre Identität zu übersetzen. […]
In diesem Kommentar wird die Ansicht vertreten, eine junge Schwarze Frau könne nur von einer jungen Schwarzen Frau übersetzt werden. Und da Marieke Lucas Rijneveld sich als nicht-binär identifiziert, kann, ja soll oder muss Rijneveld der Kommentarschreiberin zufolge ein Buch über nicht-binäre Identität übersetzen. Wird es zu einem Problem, wenn Frauen ausschließlich Frauen übersetzen dürfen, Männer ausschließlich Männer und Christen keine Muslime? Und wo zieht man die Grenze? Es ist eine Diskussion, die in Übersetzer*innenkreisen tatsächlich immer wieder aufkeimt: Wer darf was übersetzen? Wer kann welcher Perspektive Ausdruck verleihen? Kann ich als junge Übersetzerin den Text einer 80-jährigen Frau übersetzen? Einen schönen Beitrag zu diesem Thema hat Olga Radetzkaja in der Reihe TOLEDO Talks veröffentlicht.
Gute Übersetzer*innen stellen sich in den Dienst des Ausgangstextes. Übersetzer*innen sind Kulturvermittler*innen, die im Idealfall alles daran setzen, den Ausgangstext angemessen in die Zielsprache zu übertragen und auf diese Weise einen bestimmten Kulturkreis einem anderen Kulturkreis zugänglich zu machen. Übersetzen ist immer auch Kulturtransfer. Die genaue und ausführliche Recherche gehört genauso zur Arbeit von Übersetzer*innen wie die Textarbeit. Und dazu gehört auch das Hinhören, der Dialog. Hat man keine persönliche Erfahrung mit einem bestimmten Themenfeld, sucht man nach Erfahrungen aus erster Hand. Natürlich können Weiße, privilegierte Übersetzer*innen niemals die Rassismuserfahrungen von BIPoC nachempfinden – das zu behaupten wäre vermessen und falsch – aber auch sie können sich in den Dienst des Textes und in den Dienst der Botschaft stellen.
Es ist auffällig, wie wenige BIPoC in der westlichen Übersetzerbranche zu finden sind. Dahinter verbirgt sich ein strukturelles Problem, das nicht kleingeredet werden darf. Übersetzer*innen grundsätzlich aufgrund ihrer mit der Autor*in übereinstimmenden Merkmale auszusuchen, bringt andere Probleme mit sich. Stattdessen sollte ein stärkeres Bewusstsein dafür entwickelt werden, warum es problematisch ist, wenn Weiße die Texte von BIPoC übersetzen und eine Offenheit für neue Arbeitsweisen geschaffen werden.
Offensichtlich wurde Rijneveld nicht aufgrund der übersetzerischen Qualitäten angefragt (wie gut diese auch sein mögen), sondern wegen der Popularität – gerade auch im englischsprachigen Raum. Der International Booker Prize hat Rijneveld schnell zu einer Berühmtheit der Literaturszene gemacht. Meulenhoff sah in der Kombination Gorman-Rijneveld wahrscheinlich ein riesiges Dollarzeichen. Dass dieser Marketingstreich dermaßen nach hinten losgeht, hat Meulenhoff sicher nicht erwartet. Es ist zwar nicht unüblich, dass Dichter*innen anderssprachige Gedichte übersetzen, ohne „hauptberuflich“ das Übersetzerfach auszuüben, doch es kommt selten vor, dass jemand mit einer solchen Aufgabe betraut wird, der sich weder mit ausgezeichneten Englischkenntnissen rühmt, noch Übersetzungserfahrung hat. Die nicht nachweisbaren Übersetzer*innenqualitäten wurden in der Öffentlichkeit nur am Rande bemängelt. Dabei ist das Übersetzen eine herausfordernde und facettenreiche Aufgabe, die nicht jeder zu meistern vermag und für die es nicht allein ausreicht, Schrifsteller*in zu sein.
Ende März erscheint auch die deutsche Übersetzung von Amanda Gormans Gedichtband bei Hoffmann und Campe in einer Übersetzung von Kübra Gümüsay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling. Der deutsche Verlag hat anscheinend etwas genauer über die Übersetzerinnenwahl nachgedacht, als die niederländischen Kolleg*innen.
Meulenhoff hat jedenfalls auf ganzer Linie versagt. Der Verlag hat weder den Aspekt der Diversität hinreichend berücksichtigt, noch die Herausforderungen, die das Übersetzen von Literatur mit sich bringt. Aber wir alle können aus diesem Fall etwas lernen: Lasst uns die Möglichkeiten, den strukturellen Rassismus der Kulturbranche zu durchbrechen, begrüßen und nutzen. Neue Wege wie Kooperationen von Spoken Word Artists, BIPoC und erfahrenen Übersetzer*innen können unser aller Blick weiten.