Die erste Übersetzung, die ich von Ihnen gelesen habe, war Homers Ilias. 2008 hat diese Übersetzung große Diskussionen ausgelöst. Mein Eindruck ist, dass es damals vor allem um die Kategorisierung ging: Handelt es sich um eine Neuübersetzung, eine Neufassung oder eine Nachdichtung? Dasselbe Problem besteht bei den gerade erschienen Euripides-Dramen. Ihr Verlag spricht von einer Neuübersetzung, Oliver Lubrich schreibt im Nachwort jedoch über die Neufassung von Raoul Schrott. Als was würden Sie diese Texte bezeichnen?
Raoul Schrott: Bei den Euripides-Dramen handelt es sich um Neufassungen. Die Ilias hingegen war eine Übersetzung, weil ich dort nichts hinzugefügt habe, was nicht im Text selbst steckte. Für beide gilt, dass die Texte zur Hälfte aus dem bestehen, was zwischen den Zeilen kommuniziert wird. Vieles Wesentliche wird nur angedeutet, und je ferner die Kultur, desto größer der Aufwand, um all diese verdeckten oder selbstverständlichen Bedeutungen wieder herzustellen. Im Fall der Euripides-Dramen habe ich jedoch zusätzlich einige, vorsichtige Eingriffe vorgenommen, um der Aufführungspraxis des heutigen Theaters gerecht zu werden. Ich habe zum Beispiel die Orestie, die eigentlich aus zwei Teilen besteht, zu einem Stück gemacht. Und um eine Aufführungsweise anzudenken, wie sie für das griechische Theater typisch war – das ja ein Gesamtkunstwerk aus Dialogen, Musik, Tanz und Gesang darstellte – habe ich die Chorpassagen gereimt, obwohl es diesen Reim im griechischen Original nicht gibt. Die Chöre transportieren zudem das mythologische Material. Bei den damaligen Zuhörern konnte man dieses Wissen voraussetzen, was heute undenkbar ist. Ich selbst musste oft auch mythische Anspielungen und Hintergründe nachlesen. Da man das derart kryptisch Gewordene nicht einfach so stehen lassen kann, habe ich diesen Hintergrund an einigen Stellen wieder skizziert. Dennoch wurden die Chorpassagen so wenig wie möglich abgewandelt, um das, was sie einmal ausdrücken wollten, wieder hervorzuholen. Ich wollte den Text nicht gegenwärtig machen, sondern das Potential wieder herstellen, das er früher automatisch hatte.
Ihre Neufassungen der Euripides-Dramen wurden bereits vor einigen Jahren im Theater aufgeführt. Basierten die Aufführungen auf der jetzt erschienenen Textfassung?
Ja, die Bakchen waren beispielsweise eine Auftragsarbeit für das Wiener Burgtheater. Dadurch habe ich Euripides überhaupt erst kennengelernt. Und war hin und weg, was für ein fantastischer Schriftsteller, Psychologe und Dramatiker er ist. Er markiert den Beginn unserer Moderne und der Entwicklung des Individuums sowie der Demokratie. All das, was wir heute als gegeben voraussetzen, hat sich ja damals bei den Griechen erstmals herausgebildet. Euripides hat genau beobachtet, was mit Menschen passiert, die sich individualisieren, wie Emotionen funktionieren und wie sie den Menschen verändern. Das macht seine Dramen so interessant.
Hat sich der Text noch mal auf dem Weg zur Aufführung geändert?
Ich hatte keinerlei Erfahrung mit dem Theater. Daher habe ich mir bei den Bakchen besonders viel Mühe gegeben, die Sprache an die jeweiligen Charaktere anzupassen, was bei Euripides ganz gut funktioniert. Bei Homer klingt noch alles gleich formelhaft, bei Euripides aber hat sich die Sprache bereits differenziert und ist prosaisch flexibler geworden. Auch in der heutigen Zeit ist es ein Anspruch an Literatur, dass die Figuren ein ihnen angemessenes Stilregister verwenden. Ich habe deshalb versucht, jeder Figur eine Sprache anzumessen, die ihn psychologisch und sozial charakterisiert – was ein Fehlgriff war, denn Schauspieler lehnen so etwas ab. Mein Versuch, ihnen den Text so maßgeschneidert wie ein Jackett zu liefern, war falsch, weil sie eine nackte, skelettierte Sprache bevorzugen. Schauspieler würden am liebsten ein Telefonbuch vorlesen, den Rest liefert Mimik und Gestik.
Wie sind Sie beim Übersetzen der Dramen vorgegangen? Haben Sie andere Euripides-Übersetzungen gelesen?
Auch. Es wäre bei dieser Übersetzung völlig sinnlos gewesen, den Originaltext zu nehmen und einfach loszulegen. Der Übersetzungsvorgang beginnt bei mir mit der philologischen Beschäftigung mit dem Text. Meistens habe ich dafür also die Kommentarbände durchgearbeitet, vorzugsweise von englischen Gräzisten. Die deutschen Gräzisten sind gute Grammatiker, aber bei der Fähigkeit zur Textinterpretation hinken sie hundert Jahre hinterher. Die Kommentarbände erklären die Etymologie eines Wortes und helfen dabei, die mythologischen Referenzen zu verstehen. Im zweiten Schritt folgt dann die eigentliche Interpretation, bei der man hermeneutisch aus dem Text heraus arbeitet. Erst mit dem dritten Schritt fängt das eigentliche Übersetzen wirklich an. Ich überlege dann, wie der Autor sich heute ausdrücken würde, damit das Stück die gleiche Wirkung entfaltet und das Publikum das Gleiche versteht wie damals – das Stück also ironisch, sarkastisch oder pathetisch auffasst. Das ist ein sehr intensiver Vorgang. Es gibt niemanden, der den Text genauer liest oder genauer kennt als ein Übersetzer.
Wie würden Sie die Sprache in den Originaltexten von Euripides charakterisieren?
Das Theater steht am Ende der Entwicklung vom Oralen zum Schriftlichen. Es ist kein Wunder, dass die Ilias ein Epos in einer poetischen Form ist, weil zu der Zeit von Homer noch das Orale dominant war. Als es noch keine Schrift gab, war die Metrik die einzige Möglichkeit zur Abspeicherung der Worte. Mit der Erfindung der Schrift hat sich das geändert. Das Wort wurde zu einem Gegenstand, den ich mir stundenlang anschauen kann. Bei Homer haben daher alle noch im gleichen Duktus gesprochen. Bei Euripides klingt das ganz anders, da man mithilfe der Schrift die Umgangssprache festhalten konnte. Das Poetische steckt bei Euripides in den Chorpassagen, ansonsten bestehen die Dramen vor allem aus Stichomythien. Euripides verwendet eine sehr klare Sprache, die ganz unverblümt und voller poetischer Bilder ist. Eine Sprache, die er sehr präzise einsetzt. Daran merkt man, was er für ein hervorragender Denker und Schriftsteller war.
In den Bakchen finden sich unübersetzte Stellen. Warum?
Mit Dionysos tritt der Gott des Theaters auf und damit dieser ein bisschen mehr Fallhöhe bekommt, habe ich einige Passagen aus dem griechischen Original übernommen. Das kaum einer auf Anhieb versteht, nicht wahr? So weiß man nicht genau, was er sagt. Das lässt ihn geheimnisvoll wirken. Und man hört doch zugleich das Original mit seinem Tonfall. Auch alles, was mit den Bakchen zu tun hat, ist sehr mysteriös, daher erschien es mir sinnvoll, diese Passagen zu übernehmen. Aber so etwas kann man nicht überall oder jedes Mal machen.
Ich habe einige ältere Übersetzungen gelesen. Dabei fiel mir vor allem auf, wie geschwollen die Figuren sprechen.
Ja, das ist ein ganz interessantes sozio-politisches Phänomen. Viele Übersetzer – egal ob es sich bei dem Autor um Homer, Hesiod oder Euripides handelt – imitieren den Duktus des 19. Jahrhunderts. Das hängt zum einen damit zusammen, dass das Griechische eine politische Funktion für die Bildung der deutschen Nation hatte. Zum anderen ist der ganze Zweig sehr akademisch besetzt. Ein völlig falscher Ansatz, da so nur Professoren übersetzen, die keine Fingerfertigkeit im Umgang mit Sprache und Poesie haben. Sie ahmen lediglich das nach, was sie für Literatur halten. Das Resultat ist ein Goethe-Schiller-Winkelmann-Deutsch. Schrecklich.
Das ist sehr schade, weil es antike Texte weniger zugänglich macht.
Heute liest man immer noch die gängigen Reclam-Ausgaben, selbst wenn deren Übersetzungen aus den 50er-60er-Jahren stammen. Damals hat man jedoch völlig anders geschrieben. Und obwohl der Zeitabstand nicht besonders groß ist, klingt selbst das schon, als wäre es hundert Jahre alt. Was Euripides aber damals abgebildet hat, war die Gegenwartssprache. Er hat keine antiquierte Sprache benutzt, um zu suggerieren, dass der Stoff zweihundert Jahre alt ist. Das Gleiche versuche ich. Mein Ziel beim Übersetzen ist es, aus dem Text alles herauszuholen, was in ihm steckt. Generell wird, finde ich, immer noch von einer Dichotomie zwischen wörtlichen und freien Übersetzungen ausgegangen. Es gibt keine wörtlichen Übersetzungen, auch nicht in der Altphilologie, weil wörtliche Übersetzungen nicht möglich sind. Man kann zwar einen Text Wort für Wort beschreiben, aber jede Sprache ist ein in sich geschlossenes, relationales System, das sich wie jede Kultur von der anderen unterscheidet. Ich habe es also beim Übersetzen immer mit einem Transfer zu tun.
Wenn antike Texte in den Medien besprochen werden, geht es oft um deren Aktualität. Sollte man die antiken Texte nicht besser um ihrer selbst willen lesen, und nicht weil Euripides noch immer relevant ist?
Das sind Marketingstrategien. Euripides gehört zur Weltliteratur und da ist die Auswahl, die die Zeit trifft, der strengste Kritiker. Das Übersetzen ist eine Art Ahnendienst, wie Arno Schmidt es genannt hat. Es gibt ein ganzes Korpus an Literatur, das am Leben gehalten werden will. Da sich Sprache stetig ändert, müssen Texte notwendigerweise immer wieder übersetzt werden. Meine Übersetzungen werden sich in hundert Jahren auch völlig altmodisch anhören, obwohl das im jetzigen Moment schwer vorstellbar ist. Texte müssen alle hundert Jahre neu übersetzt werden, weil sie sonst aus dem kulturellen Gedächtnis verschwinden. Es geht also nicht so sehr um die Aktualität eines Textes, obwohl diese auch eine Rolle spielt. Aber gute Texte haben so viele Facetten, dass sie das Menschliche überzeitlich immer wieder verarbeiten können. Solche inhaltlichen Aspekte sind nicht zwangsläufig kulturgebunden, sondern prototypisch menschlich. Bei der Orestie musste ich beispielweise an Baader Meinhof denken, und das Scherbengericht über Orestes legt dann dieselbe Art von Populismus bloß, wie man sie heute von der AfD oder der FPÖ kennt. Oder nehmen Sie die Bakchen: Ich kenne keinen besseren Text über das Sektenwesen.
Die antiken Texte haben aber dennoch etwas Befremdliches.
Zwei Aspekte spielen dabei eine Rolle: Zum einen kann man in der Vorstellungswelt der Antike nur zurück in die Vergangenheit blicken; das Einzige, was man weiß, ist das, was bereits geschehen ist. Die Zukunft dagegen ist so ungewiss, dass sie sich auch durch Weihsager kaum schauen lässt. Bei den Griechen lag also die Vergangenheit der Vorstellung nach vorne und die Zukunft zeigte sich hinter einem: sodass man sie nicht sah. Daher rührt Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, den der Wind rückwärts in die Zukunft bläst. Das bedeutet wiederum, dass jede Art von Schuld erblich bedingt ist. Was Orest passiert, ist eigentlich nur eine Folge des uralten Streits im Haus von Atreus und Thyestes. Dazu gab es die Ansicht von persönlicher Verantwortung nur sehr bedingt. Emotionen und Triebe wurden ja als Götter personifiziert, die einen dann von außen beeinflussten. Am eigenen Handeln waren somit immer die Götter Schuld – in Orestes Fall Apollons Orakel, das prophezeit hat, er habe seine Mutter umzubringen. Eigenverantwortung wird erstmals in der Orestie richtig angedeutet. Zum anderen fällt mir kein griechisches Stück ein, das tatsächlich in der Gegenwart spielt. Alle Probleme der Gegenwart werden anhand von mythologischen Vorlagen abgearbeitet. Das war typisch für das griechische Theater: Man hat mithilfe von Mythen die gegenwärtigen Zustände kritisiert.
Auf der Verlagsseite heißt es, die Alkestis sei das erste feministische Drama der Weltgeschichte. In dem Stück geht Alkestis für ihren Ehemann Admet freiwilllig in den Tod, weil dieser nicht sterben will, obwohl die Schicksalsgöttinnen ihn auserkoren haben. Was genau ist daran feministisch?
Die Griechen waren eine extrem frauenfeindliche Gesellschaft. Dass eine Frau für einen Mann in den Tod geht, nur um dadurch zu zeigen, wie falsch das Ganze war, ist für die Zeit revolutionär. Alkestis ist die tragische Figur, an der das Individuelle sehr genau herausgearbeitet wird. Sie hat mehr intellektuelles und existentielles Gewicht als alle anderen Figuren. Bei Admet merkt man, dass er sie nur benutzt.
Aber ist es treffend, das Stück als feministisches Drama zu bezeichnen?
Es kommt darauf an, was Sie unter Feminismus verstehen.
Laut seiner Definition ist feministische Literatur eine Fiktion oder ein Drama, das die feministischen Ziele unterstützt, also gleiche politische Rechte für Frauen fordert, und diese definiert, etabliert und verteidigt.
Das tut sie doch. Sie beansprucht die gleichen Rechte. Alkestis will wahrgenommen werden und das ist in gewisser Weise radikal. Das Einzige, was sie machen kann, ist erhobenen Hauptes in den Tod gehen, um einen Schlussstrich zu ziehen. Sie stilisiert sich auf keinen Fall als Opfer. Als Frau geht sie nicht willig in den Tod, weil ihr Ehemann so ein toller Kerl war. Euripides’ Drama ist komplexer als solche schwarz-weißen Auslegungen.
Es gibt eine Alkestis-Fassung von Hugo von Hofmannsthal. Darin hat er die Rolle von Admet verstärkt, um dessen Handlungen plausibler zu gestalten. Waren Sie auch versucht, bestimmte Motive stärker als im Original herauszuarbeiten, damit die Handlungen der Figuren für moderne Leserinnen und Leser nachvollziehbarer werden?
Nein, das fände ich völlig falsch. Meine Ambition ist es nicht, den Text in eine bestimmte Richtung zu lenken und daraus zum Beispiel ein feministisches Stück zu machen. Meine Ideen behalte ich mir für meine eigenen Arbeiten vor. Es gibt allerdings ein paar Elemente, die man anpassen muss. Zum Beispiel bringt Klytaimnestra Agamemnon in Elektra mit einer Axt um. In der Orestie ist dann aber plötzlich von einem Schwert die Rede. Auch ihr Liebhaber wird jedes Mal ein bisschen anders charakterisiert. Diese inhaltlichen Widersprüche innerhalb der Dramen habe ich versucht zu glätten. Das ist ein Eingriff, den ich legitim finde. Ich versuche beim Übersetzen in die Haut des Autors zu schlüpfen und ihm meine Sprache zur Verfügung zu stellen – so gut ich es eben kann. Beim Übersetzen von Homer habe ich mir beispielsweise immer vorgestellt, wie es wäre, wenn Homer seinen Text vor einem heutigen Publikum präsentieren würde, das kein Griechisch kann und von den Göttern nichts mehr weiß. Jede Übersetzung ist in diesem Sinne eine Imitation, also der Versuch etwas nachzubilden. Paul Celan zum Beispiel ist ein katastrophaler Übersetzer, weil er alles in seinem ganz eigenen Duktus macht und daher all seine Übersetzungen nach ihm klingen.
Ich denke, dass viele Leserinnen und Leser aber auch in Ihren Übersetzungen Raoul Schrott erkennen würden.
Das hoffe ich nicht. Vielleicht im Vergleich zu den gestelzten Übersetzungen, die es noch immer gibt. Aber wenn man sich anschaut, wie die Italiener, Engländer oder Franzosen antike Texte übersetzen, sind meine Übersetzungen überhaupt nichts Besonderes.
Euripides/Raoul Schrott: die großen Stücke – Alkestis, Bakchen, Elektra, Orestes
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