„Euri­pi­des mar­kiert den Beginn unse­rer Moderne“

Raoul Schrott hat die großen Stücke von Euripides neu übersetzt. Ein Gespräch über das Übersetzen, die Versäumnisse der Altphilologie und das erste feministische Drama der Weltgeschichte.

Interview:

Raoul Schrott vor seinem Bücherregal © Peter-Andreas Hassiepen

Die ers­te Über­set­zung, die ich von Ihnen gele­sen habe, war Homers Ili­as. 2008 hat die­se Über­set­zung gro­ße Dis­kus­sio­nen aus­ge­löst. Mein Ein­druck ist, dass es damals vor allem um die Kate­go­ri­sie­rung ging: Han­delt es sich um eine Neu­über­set­zung, eine Neu­fas­sung oder eine Nach­dich­tung? Das­sel­be Pro­blem besteht bei den gera­de erschie­nen Euri­pi­des-Dra­men. Ihr Ver­lag spricht von einer Neu­über­set­zung, Oli­ver Lubrich schreibt im Nach­wort jedoch über die Neu­fas­sung von Raoul Schrott. Als was wür­den Sie die­se Tex­te bezeichnen?

Raoul Schrott: Bei den Euri­pi­des-Dra­men han­delt es sich um Neu­fas­sun­gen. Die Ili­as hin­ge­gen war eine Über­set­zung, weil ich dort nichts hin­zu­ge­fügt habe, was nicht im Text selbst steck­te. Für bei­de gilt, dass die Tex­te zur Hälf­te aus dem bestehen, was zwi­schen den Zei­len kom­mu­ni­ziert wird. Vie­les Wesent­li­che wird nur ange­deu­tet, und je fer­ner die Kul­tur, des­to grö­ßer der Auf­wand, um all die­se ver­deck­ten oder selbst­ver­ständ­li­chen Bedeu­tun­gen wie­der her­zu­stel­len. Im Fall der Euri­pi­des-Dra­men habe ich jedoch zusätz­lich eini­ge, vor­sich­ti­ge Ein­grif­fe vor­ge­nom­men, um der Auf­füh­rungs­pra­xis des heu­ti­gen Thea­ters gerecht zu wer­den. Ich habe zum Bei­spiel die Ores­tie, die eigent­lich aus zwei Tei­len besteht, zu einem Stück gemacht. Und um eine Auf­füh­rungs­wei­se anzu­den­ken, wie sie für das grie­chi­sche Thea­ter typisch war – das ja ein Gesamt­kunst­werk aus Dia­lo­gen, Musik, Tanz und Gesang dar­stell­te – habe ich die Chor­pas­sa­gen gereimt, obwohl es die­sen Reim im grie­chi­schen Ori­gi­nal nicht gibt. Die Chö­re trans­por­tie­ren zudem das mytho­lo­gi­sche Mate­ri­al. Bei den dama­li­gen Zuhö­rern konn­te man die­ses Wis­sen vor­aus­set­zen, was heu­te undenk­bar ist. Ich selbst muss­te oft auch mythi­sche Anspie­lun­gen und Hin­ter­grün­de nach­le­sen. Da man das der­art kryp­tisch Gewor­de­ne nicht ein­fach so ste­hen las­sen kann, habe ich die­sen Hin­ter­grund an eini­gen Stel­len wie­der skiz­ziert. Den­noch wur­den die Chor­pas­sa­gen so wenig wie mög­lich abge­wan­delt, um das, was sie ein­mal aus­drü­cken woll­ten, wie­der her­vor­zu­ho­len. Ich woll­te den Text nicht gegen­wär­tig machen, son­dern das Poten­ti­al wie­der her­stel­len, das er frü­her auto­ma­tisch hatte.

Ihre Neu­fas­sun­gen der Euri­pi­des-Dra­men wur­den bereits vor eini­gen Jah­ren im Thea­ter auf­ge­führt. Basier­ten die Auf­füh­run­gen auf der jetzt erschie­ne­nen Text­fas­sung? 

Ja, die Bak­chen waren bei­spiels­wei­se eine Auf­trags­ar­beit für das Wie­ner Burg­thea­ter. Dadurch habe ich Euri­pi­des über­haupt erst ken­nen­ge­lernt. Und war hin und weg, was für ein fan­tas­ti­scher Schrift­stel­ler, Psy­cho­lo­ge und Dra­ma­ti­ker er ist. Er mar­kiert den Beginn unse­rer Moder­ne und der Ent­wick­lung des Indi­vi­du­ums sowie der Demo­kra­tie. All das, was wir heu­te als gege­ben vor­aus­set­zen, hat sich ja damals bei den Grie­chen erst­mals her­aus­ge­bil­det. Euri­pi­des hat genau beob­ach­tet, was mit Men­schen pas­siert, die sich indi­vi­dua­li­sie­ren, wie Emo­tio­nen funk­tio­nie­ren und wie sie den Men­schen ver­än­dern. Das macht sei­ne Dra­men so interessant.

Hat sich der Text noch mal auf dem Weg zur Auf­füh­rung geän­dert? 

Ich hat­te kei­ner­lei Erfah­rung mit dem Thea­ter. Daher habe ich mir bei den Bak­chen beson­ders viel Mühe gege­ben, die Spra­che an die jewei­li­gen Cha­rak­te­re anzu­pas­sen, was bei Euri­pi­des ganz gut funk­tio­niert. Bei Homer klingt noch alles gleich for­mel­haft, bei Euri­pi­des aber hat sich die Spra­che bereits dif­fe­ren­ziert und ist pro­sa­isch fle­xi­bler gewor­den. Auch in der heu­ti­gen Zeit ist es ein Anspruch an Lite­ra­tur, dass die Figu­ren ein ihnen ange­mes­se­nes Stil­re­gis­ter ver­wen­den. Ich habe des­halb ver­sucht, jeder Figur eine Spra­che anzu­mes­sen, die ihn psy­cho­lo­gisch und sozi­al cha­rak­te­ri­siert – was ein Fehl­griff war, denn Schau­spie­ler leh­nen so etwas ab. Mein Ver­such, ihnen den Text so maß­ge­schnei­dert wie ein Jackett zu lie­fern, war falsch, weil sie eine nack­te, ske­let­tier­te Spra­che bevor­zu­gen. Schau­spie­ler wür­den am liebs­ten ein Tele­fon­buch vor­le­sen, den Rest lie­fert Mimik und Gestik. 

Wie sind Sie beim Über­set­zen der Dra­men vor­ge­gan­gen? Haben Sie ande­re Euri­pi­des-Über­set­zun­gen gelesen? 

Auch. Es wäre bei die­ser Über­set­zung völ­lig sinn­los gewe­sen, den Ori­gi­nal­text zu neh­men und ein­fach los­zu­le­gen. Der Über­set­zungs­vor­gang beginnt bei mir mit der phi­lo­lo­gi­schen Beschäf­ti­gung mit dem Text. Meis­tens habe ich dafür also die Kom­men­tar­bän­de durch­ge­ar­bei­tet, vor­zugs­wei­se von eng­li­schen Grä­zis­ten. Die deut­schen Grä­zis­ten sind gute Gram­ma­ti­ker, aber bei der Fähig­keit zur Text­in­ter­pre­ta­ti­on hin­ken sie hun­dert Jah­re hin­ter­her. Die Kom­men­tar­bän­de erklä­ren die Ety­mo­lo­gie eines Wor­tes und hel­fen dabei, die mytho­lo­gi­schen Refe­ren­zen zu ver­ste­hen. Im zwei­ten Schritt folgt dann die eigent­li­che Inter­pre­ta­ti­on, bei der man her­me­neu­tisch aus dem Text her­aus arbei­tet. Erst mit dem drit­ten Schritt fängt das eigent­li­che Über­set­zen wirk­lich an. Ich über­le­ge dann, wie der Autor sich heu­te aus­drü­cken wür­de, damit das Stück die glei­che Wir­kung ent­fal­tet und das Publi­kum das Glei­che ver­steht wie damals – das Stück also iro­nisch, sar­kas­tisch oder pathe­tisch auf­fasst. Das ist ein sehr inten­si­ver Vor­gang. Es gibt nie­man­den, der den Text genau­er liest oder genau­er kennt als ein Übersetzer.

Wie wür­den Sie die Spra­che in den Ori­gi­nal­tex­ten von Euri­pi­des charakterisieren?

Das Thea­ter steht am Ende der Ent­wick­lung vom Ora­len zum Schrift­li­chen. Es ist kein Wun­der, dass die Ili­as ein Epos in einer poe­ti­schen Form ist, weil zu der Zeit von Homer noch das Ora­le domi­nant war. Als es noch kei­ne Schrift gab, war die Metrik die ein­zi­ge Mög­lich­keit zur Abspei­che­rung der Wor­te. Mit der Erfin­dung der Schrift hat sich das geän­dert. Das Wort wur­de zu einem Gegen­stand, den ich mir stun­den­lang anschau­en kann. Bei Homer haben daher alle noch im glei­chen Duk­tus gespro­chen. Bei Euri­pi­des klingt das ganz anders, da man mit­hil­fe der Schrift die Umgangs­spra­che fest­hal­ten konn­te. Das Poe­ti­sche steckt bei Euri­pi­des in den Chor­pas­sa­gen, ansons­ten bestehen die Dra­men vor allem aus Sticho­my­thi­en. Euri­pi­des ver­wen­det eine sehr kla­re Spra­che, die ganz unver­blümt und vol­ler poe­ti­scher Bil­der ist. Eine Spra­che, die er sehr prä­zi­se ein­setzt. Dar­an merkt man, was er für ein her­vor­ra­gen­der Den­ker und Schrift­stel­ler war.

In den Bak­chen fin­den sich unüber­setz­te Stel­len. Warum?

Mit Dio­ny­sos tritt der Gott des Thea­ters auf und damit die­ser ein biss­chen mehr Fall­hö­he bekommt, habe ich eini­ge Pas­sa­gen aus dem grie­chi­schen Ori­gi­nal über­nom­men. Das kaum einer auf Anhieb ver­steht, nicht wahr? So weiß man nicht genau, was er sagt. Das lässt ihn geheim­nis­voll wir­ken. Und man hört doch zugleich das Ori­gi­nal mit sei­nem Ton­fall. Auch alles, was mit den Bak­chen zu tun hat, ist sehr mys­te­ri­ös, daher erschien es mir sinn­voll, die­se Pas­sa­gen zu über­neh­men. Aber so etwas kann man nicht über­all oder jedes Mal machen. 

Ich habe eini­ge älte­re Über­set­zun­gen gele­sen. Dabei fiel mir vor allem auf, wie geschwol­len die Figu­ren sprechen.

Ja, das ist ein ganz inter­es­san­tes sozio-poli­ti­sches Phä­no­men. Vie­le Über­set­zer – egal ob es sich bei dem Autor um Homer, Hesi­od oder Euri­pi­des han­delt – imi­tie­ren den Duk­tus des 19. Jahr­hun­derts. Das hängt zum einen damit zusam­men, dass das Grie­chi­sche eine poli­ti­sche Funk­ti­on für die Bil­dung der deut­schen Nati­on hat­te. Zum ande­ren ist der gan­ze Zweig sehr aka­de­misch besetzt. Ein völ­lig fal­scher Ansatz, da so nur Pro­fes­so­ren über­set­zen, die kei­ne Fin­ger­fer­tig­keit im Umgang mit Spra­che und Poe­sie haben. Sie ahmen ledig­lich das nach, was sie für Lite­ra­tur hal­ten. Das Resul­tat ist ein Goe­the-Schil­ler-Win­kel­mann-Deutsch. Schrecklich.

Das ist sehr scha­de, weil es anti­ke Tex­te weni­ger zugäng­lich macht.

Heu­te liest man immer noch die gän­gi­gen Reclam-Aus­ga­ben, selbst wenn deren Über­set­zun­gen aus den 50er-60er-Jah­ren stam­men. Damals hat man jedoch völ­lig anders geschrie­ben. Und obwohl der Zeit­ab­stand nicht beson­ders groß ist, klingt selbst das schon, als wäre es hun­dert Jah­re alt. Was Euri­pi­des aber damals abge­bil­det hat, war die Gegen­warts­spra­che. Er hat kei­ne anti­quier­te Spra­che benutzt, um zu sug­ge­rie­ren, dass der Stoff zwei­hun­dert Jah­re alt ist. Das Glei­che ver­su­che ich. Mein Ziel beim Über­set­zen ist es, aus dem Text alles her­aus­zu­ho­len, was in ihm steckt. Gene­rell wird, fin­de ich, immer noch von einer Dicho­to­mie zwi­schen wört­li­chen und frei­en Über­set­zun­gen aus­ge­gan­gen. Es gibt kei­ne wört­li­chen Über­set­zun­gen, auch nicht in der Alt­phi­lo­lo­gie, weil wört­li­che Über­set­zun­gen nicht mög­lich sind. Man kann zwar einen Text Wort für Wort beschrei­ben, aber jede Spra­che ist ein in sich geschlos­se­nes, rela­tio­na­les Sys­tem, das sich wie jede Kul­tur von der ande­ren unter­schei­det. Ich habe es also beim Über­set­zen immer mit einem Trans­fer zu tun.

Wenn anti­ke Tex­te in den Medi­en bespro­chen wer­den, geht es oft um deren Aktua­li­tät. Soll­te man die anti­ken Tex­te nicht bes­ser um ihrer selbst wil­len lesen, und nicht weil Euri­pi­des noch immer rele­vant ist?

Das sind Mar­ke­ting­stra­te­gien. Euri­pi­des gehört zur Welt­li­te­ra­tur und da ist die Aus­wahl, die die Zeit trifft, der strengs­te Kri­ti­ker. Das Über­set­zen ist eine Art Ahnen­dienst, wie Arno Schmidt es genannt hat. Es gibt ein gan­zes Kor­pus an Lite­ra­tur, das am Leben gehal­ten wer­den will. Da sich Spra­che ste­tig ändert, müs­sen Tex­te not­wen­di­ger­wei­se immer wie­der über­setzt wer­den. Mei­ne Über­set­zun­gen wer­den sich in hun­dert Jah­ren auch völ­lig alt­mo­disch anhö­ren, obwohl das im jet­zi­gen Moment schwer vor­stell­bar ist. Tex­te müs­sen alle hun­dert Jah­re neu über­setzt wer­den, weil sie sonst aus dem kul­tu­rel­len Gedächt­nis ver­schwin­den. Es geht also nicht so sehr um die Aktua­li­tät eines Tex­tes, obwohl die­se auch eine Rol­le spielt. Aber gute Tex­te haben so vie­le Facet­ten, dass sie das Mensch­li­che über­zeit­lich immer wie­der ver­ar­bei­ten kön­nen. Sol­che inhalt­li­chen Aspek­te sind nicht zwangs­läu­fig kul­tur­ge­bun­den, son­dern pro­to­ty­pisch mensch­lich. Bei der Ores­tie muss­te ich bei­spiel­wei­se an Baa­der Mein­hof den­ken, und das Scher­ben­ge­richt über Ores­tes legt dann die­sel­be Art von Popu­lis­mus bloß, wie man sie heu­te von der AfD oder der FPÖ kennt. Oder neh­men Sie die Bak­chen: Ich ken­ne kei­nen bes­se­ren Text über das Sektenwesen.

Die anti­ken Tex­te haben aber den­noch etwas Befremdliches.

Zwei Aspek­te spie­len dabei eine Rol­le: Zum einen kann man in der Vor­stel­lungs­welt der Anti­ke nur zurück in die Ver­gan­gen­heit bli­cken; das Ein­zi­ge, was man weiß, ist das, was bereits gesche­hen ist. Die Zukunft dage­gen ist so unge­wiss, dass sie sich auch durch Weih­sa­ger kaum schau­en lässt. Bei den Grie­chen lag also die Ver­gan­gen­heit der Vor­stel­lung nach vor­ne und die Zukunft zeig­te sich hin­ter einem: sodass man sie nicht sah. Daher rührt Wal­ter Ben­ja­mins „Engel der Geschich­te“, den der Wind rück­wärts in die Zukunft bläst. Das bedeu­tet wie­der­um, dass jede Art von Schuld erb­lich bedingt ist. Was Orest pas­siert, ist eigent­lich nur eine Fol­ge des uralten Streits im Haus von Atreus und Thy­es­tes. Dazu gab es die Ansicht von per­sön­li­cher Ver­ant­wor­tung nur sehr bedingt. Emo­tio­nen und Trie­be wur­den ja als Göt­ter per­so­ni­fi­ziert, die einen dann von außen beein­fluss­ten. Am eige­nen Han­deln waren somit immer die Göt­ter Schuld – in Ores­tes Fall Apol­lons Ora­kel, das pro­phe­zeit hat, er habe sei­ne Mut­ter umzu­brin­gen. Eigen­ver­ant­wor­tung wird erst­mals in der Ores­tie rich­tig ange­deu­tet. Zum ande­ren fällt mir kein grie­chi­sches Stück ein, das tat­säch­lich in der Gegen­wart spielt. Alle Pro­ble­me der Gegen­wart wer­den anhand von mytho­lo­gi­schen Vor­la­gen abge­ar­bei­tet. Das war typisch für das grie­chi­sche Thea­ter: Man hat mit­hil­fe von Mythen die gegen­wär­ti­gen Zustän­de kritisiert.

Auf der Ver­lags­sei­te heißt es, die Alkes­tis sei das ers­te femi­nis­ti­sche Dra­ma der Welt­ge­schich­te. In dem Stück geht Alkes­tis für ihren Ehe­mann Admet frei­will­lig in den Tod, weil die­ser nicht ster­ben will, obwohl die Schick­sals­göt­tin­nen ihn aus­er­ko­ren haben. Was genau ist dar­an feministisch?

Die Grie­chen waren eine extrem frau­en­feind­li­che Gesell­schaft. Dass eine Frau für einen Mann in den Tod geht, nur um dadurch zu zei­gen, wie falsch das Gan­ze war, ist für die Zeit revo­lu­tio­när. Alkes­tis ist die tra­gi­sche Figur, an der das Indi­vi­du­el­le sehr genau her­aus­ge­ar­bei­tet wird. Sie hat mehr intel­lek­tu­el­les und exis­ten­ti­el­les Gewicht als alle ande­ren Figu­ren. Bei Admet merkt man, dass er sie nur benutzt. 

Aber ist es tref­fend, das Stück als femi­nis­ti­sches Dra­ma zu bezeichnen?

Es kommt dar­auf an, was Sie unter Femi­nis­mus verstehen.

Laut sei­ner Defi­ni­ti­on ist femi­nis­ti­sche Lite­ra­tur eine Fik­ti­on oder ein Dra­ma, das die femi­nis­ti­schen Zie­le unter­stützt, also glei­che poli­ti­sche Rech­te für Frau­en for­dert, und die­se defi­niert, eta­bliert und verteidigt.

Das tut sie doch. Sie bean­sprucht die glei­chen Rech­te. Alkes­tis will wahr­ge­nom­men wer­den und das ist in gewis­ser Wei­se radi­kal. Das Ein­zi­ge, was sie machen kann, ist erho­be­nen Haup­tes in den Tod gehen, um einen Schluss­strich zu zie­hen. Sie sti­li­siert sich auf kei­nen Fall als Opfer. Als Frau geht sie nicht wil­lig in den Tod, weil ihr Ehe­mann so ein tol­ler Kerl war. Euri­pi­des’ Dra­ma ist kom­ple­xer als sol­che schwarz-wei­ßen Auslegungen. 

Es gibt eine Alkes­tis-Fas­sung von Hugo von Hof­manns­thal. Dar­in hat er die Rol­le von Admet ver­stärkt, um des­sen Hand­lun­gen plau­si­bler zu gestal­ten. Waren Sie auch ver­sucht, bestimm­te Moti­ve stär­ker als im Ori­gi­nal her­aus­zu­ar­bei­ten, damit die Hand­lun­gen der Figu­ren für moder­ne Lese­rin­nen und Leser nach­voll­zieh­ba­rer werden? 

Nein, das fän­de ich völ­lig falsch. Mei­ne Ambi­ti­on ist es nicht, den Text in eine bestimm­te Rich­tung zu len­ken und dar­aus zum Bei­spiel ein femi­nis­ti­sches Stück zu machen. Mei­ne Ideen behal­te ich mir für mei­ne eige­nen Arbei­ten vor. Es gibt aller­dings ein paar Ele­men­te, die man anpas­sen muss. Zum Bei­spiel bringt Kly­taim­nes­tra Aga­mem­non in Elek­tra mit einer Axt um. In der Ores­tie ist dann aber plötz­lich von einem Schwert die Rede. Auch ihr Lieb­ha­ber wird jedes Mal ein biss­chen anders cha­rak­te­ri­siert. Die­se inhalt­li­chen Wider­sprü­che inner­halb der Dra­men habe ich ver­sucht zu glät­ten. Das ist ein Ein­griff, den ich legi­tim fin­de. Ich ver­su­che beim Über­set­zen in die Haut des Autors zu schlüp­fen und ihm mei­ne Spra­che zur Ver­fü­gung zu stel­len – so gut ich es eben kann. Beim Über­set­zen von Homer habe ich mir bei­spiels­wei­se immer vor­ge­stellt, wie es wäre, wenn Homer sei­nen Text vor einem heu­ti­gen Publi­kum prä­sen­tie­ren wür­de, das kein Grie­chisch kann und von den Göt­tern nichts mehr weiß. Jede Über­set­zung ist in die­sem Sin­ne eine Imi­ta­ti­on, also der Ver­such etwas nach­zu­bil­den. Paul Celan zum Bei­spiel ist ein kata­stro­pha­ler Über­set­zer, weil er alles in sei­nem ganz eige­nen Duk­tus macht und daher all sei­ne Über­set­zun­gen nach ihm klingen. 

Ich den­ke, dass vie­le Lese­rin­nen und Leser aber auch in Ihren Über­set­zun­gen Raoul Schrott erken­nen würden. 

Das hof­fe ich nicht. Viel­leicht im Ver­gleich zu den gestelz­ten Über­set­zun­gen, die es noch immer gibt. Aber wenn man sich anschaut, wie die Ita­lie­ner, Eng­län­der oder Fran­zo­sen anti­ke Tex­te über­set­zen, sind mei­ne Über­set­zun­gen über­haupt nichts Besonderes.

Raoul Schrott, Jahr­gang 1964, stu­dier­te Lite­ra­tur- und Sprach­wis­sen­schaft in Inns­bruck, Nor­wich, Paris und Ber­lin, arbei­te­te 1986/87 als letz­ter Sekre­tär für Phil­ip­pe Sou­pault in Paris und als Uni­ver­si­täts­lek­tor in Nea­pel. Er lebt heu­te in Inns­bruck und Seil­lans (Pro­vence). Sein lyri­sches und erzäh­le­ri­sches Werk wur­de mit zahl­rei­chen Prei­sen aus­ge­zeich­net; Hotels bei­spiels­wei­se mit dem Leon­ce-und-Lena-Preis 1995. Gro­ße Beach­tung erhielt auch sei­ne Lyri­kan­tho­lo­gie Die Erfin­dung der Poe­sie. Gedich­te aus den ers­ten vier­tau­send Jah­ren.

Euripides/Raoul Schrott: die gro­ßen Stü­cke ⁠– Alkes­tis, Bak­chen, Elek­tra, Orestes

dtv 2021 ⋅ 408 Sei­ten ⋅ 30 Euro

www.dtv.de/buch/euripides-die-grossen-stuecke-28231/

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  1. 1
    Irina

    Sehr inter­es­san­tes Inter­view. Wür­de Herr Schrott sich even­tu­ell auch für die Rei­he „Gro­ße klei­ne Spra­che“ über das Alt­grie­chi­sche aus­quet­schen las­sen? Ich habe den Ein­druck, dass er da noch eini­ges zu erzäh­len hät­te. Und die Alt­spra­chen-Quo­te kann hier ruhig noch ein biss­chen steigen. 😉
    Im Übri­gen hat­te ich per­sön­lich immer den Ein­druck, dass aus dem Latei­ni­schen ins Fran­zö­si­sche „beschei­de­ner“ über­setzt wird als ins Deut­sche, die Übersetzer*innen neh­men sich selbst mehr zurück. Viel­leicht ver­hält sich das mit dem Alt­grie­chi­schen ähn­lich, da kann ich es gar nicht beurteilen.

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