Dicke Wälzer sind nicht seine Sache. Seine Romane umfassen weniger Seiten, vielleicht, weil Patrick Modiano die Kunst beherrscht, mit weniger viel mehr zu sagen? Encre Sympathique ist im Februar als 29. Roman des Nobelpreisträgers für Literatur erschienen und spannend wie eh und je, vielleicht gerade, weil er immer eine Variation des gleichen Anliegens bearbeitet, die Suche nach den Leerstellen im Leben von Menschen: Modiano erklärt im Interview mit Yves Calvi, dass er selbst den Eindruck habe, immer wieder denselben Roman zu schreiben.
Und tatsächlich sind seine Themen unendlich, sie enden nie, denn er beginnt immer wieder von vorne. Fassen wir zusammen: Entweder jemand ist verschwunden oder verschwindet, vorzugsweise eine Frau. Die Umstände sind unterschiedlich, aber irgendwie kommt der Erzähler dann dazu, diese Frau zu suchen. Und obwohl der Erzähler eigentlich überhaupt nichts mit dieser Frau zu tun hat, sie nicht einmal kennt und sich ihre Lebenswege nicht gekreuzt haben, mindestens glaubt er das, kommt es durch irgendeinen Zufall oder eine Fügung dazu, dass er sie sucht oder suchen muss.
Il y a des blancs dans cette vie, des blancs que l’on devine si l’on ouvre le » dossier «: une simple fiche dans une chemise à la couleur bleu ciel qui a pâli avec le temps. Presque blanc, lui aussi, cet ancien bleu ciel. Et le mot » dossier « est écrit au milieu de la chemise. À l’encre noire.Es gibt Leerstellen in diesem Leben, Leerstellen, die man errät, sobald man das »Dossier« aufschlägt: ein schlichtes Karteiblatt in einer himmelblauen Mappe, ausgebleicht mit der Zeit. Fast schon weiß, auch dieses einstige Himmelblau. Und das Wort »Dossier« steht mitten auf der Mappe geschrieben. In schwarzer Tinte.
So beginnt Unsichtbare Tinte mit dem Dossier in verblasstem Blau. Es handelt von Noëlle Lefebvre, einer jungen Frau aus Annecy, die der Ich-Erzähler, der bei einem Privatdetektiv ein Praktikum macht, im Auftrag eines Klienten finden soll. Der Lesende geht mit, durch die Straßen von Paris, auf das Postamt und begleitet die Suche. Aber dann erfährt er plötzlich, dass die Suche abgebrochen wurde, die Handlungsstränge und Geschichten verlagern sich, mal ins Hier und Heute, mal in die Vergangenheit.
J’essaye tant bien que mal de transcrire le dialogue que j’ai eu cet après-midi-là avec le dénommé Gérard Mourade, mais il n’en reste que des bribes après un si grand nombre d’années.Ich versuche mehr schlecht als recht das Gespräch aufzuschreiben, das ich an jenem Nachmittag mit besagtem Gérard Mourade geführt habe, doch vorhanden sind nur mehr Bruchstücke nach so vielen Jahren.
Und dann kommen Gedanken ins Spiel, wie sich die Dinge um Noëlle auch hätten verhalten können:
Il croyait donc tout ce que je lui avais dit concernant Noëlle Lefebvre. Et j’avais, en ce temps-là, une telle facilité à m’introduire dans la vie des autres que je me suis demandé si je ne l’avais pas rencontrée, elle, dans le café boulevard des Capucines, le soir, après son travail.Er glaubte offenbar alles, was ich ihm über Noëlle Lefebvre erzählt hatte. Und damals fiel es mir so ungeheuer leicht, mich ins Leben anderer einzuschleichen, dass ich mich gefragt habe, ob ich ihr nicht begegnet war in diesem Café am Boulevard des Capucines, eines Abends, nach ihrer Arbeit.
Modianos Erzählstil ist ruhig, oft redundant, minutiös beschreibend, die Farben zum Beispiel, durchgehend im Roman, Farbspiele, kleinste Schattierungen beschreibt er: blau, himmelblau, ultramarinblau, blassblau… Elisabeth Edl folgt ihm, seinem Duktus und Rhythmus, langsam, aber auch mit ihrer Interpretation: das „damals“ verlagert die Handlung in die Vergangenheit, und Edl erkennt den Gedanken, dass das „introduire“ eigentlich ein „einschleichen” ist. Es sind diese Feinheiten, die kaum auffallen, die aber Nuancen ausdrücken, die unmerklich sind – oder fast.
Und während er über Jahre immer wieder mit unterschiedlichen Ansätzen nach dieser Frau sucht, kommt der Ich-Erzähler immer mehr durcheinander, er verheddert sich in all seinen Erzählfäden. Er versucht eine Ordnung zu schaffen in all den verworrenen Informationen, die den Effekt haben, dass diese Frau ihm immer näher kommt und er sich ihr immer näher fühlt.
J’aimerais respecter l’ordre chronologique et noter les moments au cours de ces nombreuses années où Noëlle Lefebvre m’a de nouveau occupé l’esprit, en précisant chaque fois la date et l’heure. […] Je crois qu’il est préférable de laisser courir ma plume. Oui, les souvenirs viennent au fil de la plume. Il ne faut pas les forcer, mais écrire en évitant le plus possible les ratures.Ich würde mich gern an die chronologische Reihenfolge halten und die Augenblicke während dieser vielen Jahre, in denen Noëlle Lefebvre meine Gedanken aufs neue beschäftigte, ganz genau notieren, jeweils mit Datum und Uhrzeit. […] Ich glaube, es ist besser, ich lasse meiner Feder freien Lauf. Ja, die Erinnerungen kommen mit dem Kritzeln der Feder. Man darf sie nicht erzwingen, sondern muss einfach schreiben und dabei so wenig wie möglich streichen.
Edl nimmt hier die Satzmelodie auf und schreibt im Erzähler-Duktus eingeschobener Sätze, flüssiger als im Original, es liest sich schneller. Dabei wird der Erzähler immer nachdenklicher in seinen Ausführungen, wenn er feststellt, dass er sich eigentlich nicht sicher sein kann, an was die Menschen, die er befragt, denn überhaupt noch erinnern mögen, und ob er denn nun glauben solle, dass deren Erinnerungen Realitäten von Noëlle Lefebvre wiedergäben, oder ob es nicht doch so sei wie bei ihm? Er weiß eigentlich nichts und je weniger er weiß, desto poetischer wird die Sprache.
Dann kommt die Wende: Plötzlich schreibt sie, aus Rom, völlig unvermittelt. Sie lebt, so schreibt sie, schon immer in Rom, obwohl sie auch in Paris gelebt hat, aber eigentlich nur kurz, jedenfalls in ihrer Erinnerung. Und hätte sie dem Besucher aus Paris mitteilen wollen, wie sie sich fühlt, hätte sie es nur in einem Gedicht vermocht, jenem Gedicht, an das der Besucher sich vielleicht erinnert hätte, es datiert vom 10. Juni, vor vielen Jahren, und er fand es in den Notizen von Noëlle Lefebvre.
Le plus simple pour qu’il comprenne son état d’esprit depuis qu’elle vivait à Rome, serait de lui réciter un poème, le seul qu’elle savait à peu près par cœur:
Le ciel est, par-dessus le toit,
si bleu, si calme!
Un arbre, par-dessus le toit Berce sa palme.Am einfachsten wäre es ihm ein Gedicht aufzusagen, das einzige, das sie mehr oder weniger auswendig konnte:
Der Himmel über dem Dache,
so blau, so lind!
Ein Baum wiegt sich über dem Dache den Wipfel im Wind.
Deckungsgleich könnte man sagen, auch in anderen Passagen liest man die Kunst Edls, eng und doch eigen zu formulieren. So bleibt, was Modianos Erzählkunst ausmacht, „le Modianisme”, eine Poesie in Romanform und ein Lesesog, der spürbarer nicht sein könnte. Elisabeth Edl hat diese Authentizität in die Übersetzung eingeschrieben und das ist großes Können.
Patrick Modiano/Elisabeth Edl: Unsichtbare Tinte (im französischen Original: Encre Sympathique)
Hanser 2021 ⋅ 144 Seiten ⋅ 19 Euro
www.hanser-literaturverlage.de/buch/unsichtbare-tinte/978–3‑446–26918‑7/