Ich hätte diese Übersetzung beinahe abgelehnt. Das Buch war zu düster, zu brutal, zu explizit. Und doch habe ich weitergelesen. Die Geschichte spielt im ländlichen Frankreich, irgendwann im 19. Jahrhundert. Rose ist vierzehn Jahre alt, als ihr Vater sie an einen reichen Grundbesitzer verkauft. Sie wird vergewaltigt, mehrfach, und wird schwanger. Das Kind wird ihr sieben Tage nach der Geburt weggenommen. Darauf folgt mehr Gewalt, wenn auch in anderer Form.
Ich las die erste Hälfte des Buches und entschied: Nein, das ist zu viel. Nach drei Vierteln dachte ich: vielleicht. Zum Ende hin war ich dann bei einem Ja. Ein Ja, denn das Buch ist wunderschön geschrieben, das darin beschriebene Grauen immer wieder unterbrochen von ausschweifenden, faulkneresken Sätzen, in denen man durchatmen kann. Eines späten Abends las ich, nachdem ich mein trotziges Kleinkind zurück ins Bett gebracht hatte, einen Abschnitt, der mich innehalten ließ. Es ging darum, dass Männer die einzig wahren Erdbewohner seien und Frauen und Kinder eher den Vögeln glichen. Da wurde mir klar: Ich muss die Person sein, die das übersetzt. Natürlich bedeutete das, dass ich auch den Rest würde übersetzen müssen.
Als ich darüber nachdachte, ob ich den Roman Born of No Woman des französischen Autors Franck Bouysse übersetzen soll, bestand meine Sorge darin, dieses Erzählmuster aufrechtzuerhalten, mit dem Gewalt an Frauen zu einer Form der Unterhaltung gemacht wird. Ganz konkret machte ich mir Sorgen darüber, wie sich das monatelange Übersetzen einer so düsteren Erzählung auf meine emotionale Gesundheit auswirken würde. Doch dem gegenüber stand für mich der literarische Wert des Buches. Die dem Roman zugrunde liegende Gewalt ist Teil eines umfassenderen und tiefgehenden Blicks darauf, wie Menschen auf traumatische Erlebnisse reagieren und diese bewältigen. Und obwohl der Roman vor fast zweihundert Jahren spielt, ist die Beiläufigkeit, mit der die männlichen Figuren Frauen missbrauchen, auch heute noch auf ärgerliche Weise relevant. Ebenso verhält es sich mit der Mittäterschaft durch das Nicht-Handeln; in Bouysses Roman gibt es immer eine Person, die zuschaut, jedoch nichts unternimmt.
Dazu kommt: Born of No Woman liest sich nicht wie ein Roman, der von einem Mann geschrieben wurde. Damit meine ich, es liest sich nicht wie ein Roman, der darüber geschrieben wurde, wie eine Frau mutmaßlich fühlt, oder wie es von ihr erwartet wird zu fühlen. Bouysses Beschreibungen körperlicher und sexualisierter Gewalt sind grob und verstörend, aber niemals willkürlich oder reduzierend. Besonders die Szene, in der Rose zum ersten Mal vergewaltigt wird, spiegelt sich in einer ebenso bildhaften Geburtsszene wider, die sprachlich so überzeugend wiedergegeben wird, dass ich mich als Mutter fragte: Woher weiß er das?
Mit einem Text und der Person, die ihn verfasst hat, beschäftigt man sich wahrscheinlich niemals eingehender, kommt ihnen niemals näher als beim Akt des literarischen Übersetzens. Damit man als Übersetzer*in die Prosa von einer Sprache in eine andere übertragen kann, darf nichts uneindeutig bleiben. Jedes semantische und orthographische Element muss abgewogen werden; selbst der Interpunktion kommt eine absurd große Bedeutung zu. Man kann nicht in den Kopf der Autor*innen hineinblicken, aber fast. Und um die beste Übersetzung zu erhalten, bei der es nicht darum geht, die akkuratesten Worte mit der genauesten Bedeutungsentsprechung zu finden, sondern den emotionalen Klang eines Textes zu bewahren, muss man ihn fühlen. Und manchmal möchte man das einfach nicht.
Wenn ich an die verstörendsten Romanübersetzungen zurückdenke, die ich gelesen habe, kommen mir als erstes Christine Angots Incest und Jonathan Littells The Kindly Ones (auf Deutsch Inzest, übersetzt von Christian Ruzicska und Colette Demoncey, bzw. Die Wohlgesinnten, übersetzt von Hainer Kober) in den Sinn. Bei beiden handelt es sich um französische Romane, die von Frauen übersetzt wurden, nämlich von Tess Lewis beziehungsweise Charlotte Mandell. Ersterer behandelt sexuelle Traumata, letzterer quasi jedes Trauma, das man sich vorstellen kann. (Das fast 1000 Seiten starke Opus sind die fiktionalisierten Memoiren eines ehemaligen SS-Offiziers.) Wenn ich jetzt wieder in diesen Büchern blättere, frage ich mich, wie die Übersetzer*innen wohl damit klargekommen sind. Daher habe ich einfach nachgefragt. Mandell hat mir per E‑Mail erzählt, dass sie von intensiven, plastischen Träumen heimgesucht wurde. Sie fand sich „im Innern“ von Max Aue, dem erbarmungslosen und sadistischen Protagonisten von The Kindly Ones, wieder. Diese Metamorphose war so stark, dass Mandell nach der Übersetzung eine mentale Kehrtwende machen musste – ein „Ent-Kindly-Ones-sierungs-Prozess“, wie sie es ausdrückte. Sie berichtete mir noch davon, dass eine befreundete Person, die das gleiche Buch in eine andere Sprache übersetzte, damit aufhören musste; die mentale Belastung war zu groß.
Tess Lewis hatte bei ihrer Übersetzung mit einem anderen Monster zu kämpfen. Incest fällt in dieses amorphe, ach-so-französische Genre der Autofiktion, bei dem die Grenzen zwischen Fiktion und Autobiographie verschwimmen. Daraus ergibt sich eine problematische Nähe zum wahren Leben. Tess erklärte mir, dass die Problematik für sie weniger darin lag, „dass das Material explizit oder besonders anschaulich war. Das Problem war eher, dass es Angot gelingt, für die Leser*innen die klaustrophobische psychologische Erfahrung einer Person, die sexualisierte Gewalt bzw. Inzest erfahren hat, heraufzubeschwören. […] Es gibt keinen Ausweg.“
Die Antworten meiner Kolleginnen schätze ich besonders, da ich sonst nur wenige persönliche Erfahrungsberichte (auf Englisch) zur Übersetzung von traumatischen Erlebnissen in der Literatur gefunden habe. Häufiger findet man Artikel und Studien über das Übersetzen oder Dolmetschen von historischen oder kollektiven Traumata, so etwa Erfahrungsberichte von Holocaust-Überlebenden und andere Berichte von Genozid-Opfern. Ich bin auf eine wissenschaftliche Arbeit zum Übersetzen gestoßen, die, wenn auch nicht in Bezug auf Traumata, den Balanceakt zwischen Emotionalem und Handwerklichem, den ich auszudrücken versuche, einfängt:
… die erfolgreiche Anfertigung einer Übersetzung entstammt nicht dem Finden von Entsprechungen einzelner Wörter oder Sätze, sondern wird anhand eines mental ausgearbeiteten Gesamtbildes, einer umfassenden Einheit aus linguistischer Ausgestaltung und visualisierter Szene, erreicht.
Mit anderen Worten, lexikalische Äquivalenz zwischen zwei Sprachen reicht nicht aus. Das Gelesene muss visualisiert und beim Übersetzen nachgebildet werden.
In der Regel übersetze ich anhand einer PDF-Datei, die Augen stets auf den Bildschirm geheftet. Im Fall von Born of No Woman griff ich auf die Papierversion zurück, unterstrich Passagen und umkringelte Wörter mit meinem Bleistift, knickte Seiten – verschiedene Knicke mit eigenen Bedeutungen – fuhr mit meinem Finger über den schwarzen Text, wieder und wieder, ganz so, als ob ich die Worte besser übersetzen könnte, wenn ich sie berührte. Das Buch immer in Reichweite zu haben, bedeutete auch, ständig das Cover aus dem Augenwinkel zu sehen: die Sepia-Fotografie einer Mutter, die ihr Kind stillt, die Brust entblößt, muskulöse Arme, unerschütterlich. Auch das löst etwas in mir aus.
Im Januar fing ich an zu übersetzen. Ein Großteil von Bouysses Roman ist aus der Sicht von Rose geschrieben, ihre Peinigung in Tagebucheinträgen festgehalten. Diese Kapitel waren besonders schwierig. Ich hatte einen einfachen und wohl auch naiven Plan gefasst: die traumatischsten Szenen – Vergewaltigung, Mord, Folter – mit Karteikarten abzudecken und dann um die verdeckten Seiten herum zu übersetzen. Prokrastination als Schutzmechanismus.
Aber im Februar, als mir das nicht-chronologische Übersetzen, das ständige Überspringen von zentralen Szenen auf die Nerven ging, ackerte ich die markierten Kapitel durch. An einem verregneten Nachmittag, am Tag vor Valentinstag, rief mein Mann mich von der Arbeit aus an, um Pläne zu machen. Ich sagte ihm, dass ich mit Übersetzen beschäftigt sei, und brach in Tränen aus. Ich legte auf, war irrationalerweise wütend auf ihn, auf Harvey Weinstein, überhaupt auf alle Männer dieser Welt.
Fast den gesamten Monat hindurch wurde ich von tagelangen Migräneanfällen geplagt, ich konnte nur noch verschwommen sehen, mich nicht mehr konzentrieren. Alles vielleicht nur Zufall? Mir kam es so vor, als sei die Migräne eine Manifestation meines emotionalen Zustands.
An anderer Stelle habe ich schon über die Körperlichkeit des literarischen Übersetzens geschrieben, etwas, was ich als immersives Übersetzen bezeichne – das Aufbauen einer Verbindung zum Text auf Sinnesebene. Oftmals bemerke ich, und das geht anderen Übersetzer*innen mit Sicherheit auch so, dass ich beim Übersetzen Hände, Arme, Beine und Kopf ganz unbewusst bewege. Bei dieser Übersetzung zog ich die Schultern hoch, ahmte eine Mutter nach, die den Arm durch die Halsöffnung ihres Nachthemds schiebt, um ihr Kind zu stillen. Ich schnippte mit dem Finger in der Luft, stellte mir mich selbst als Raucher vor, der einen Schauer von Zigarettenasche in seine Hand niederregnen lässt. Bewegung als Mittel zur Sprachfindung.
Die erste Vergewaltigungsszene war die schwierigste. Rose weiß nicht, was auf sie zukommt, sie begreift erst, als es schon zu spät ist. Ich verdrehte meinen Körper so, wie sie es tat, erst beim Lesen, dann wieder beim Übersetzen. Zusammenzucken, ducken, anspannen, kauern. Um die richtigen Worte zu finden, muss man sie sehen. Wie war das noch in dieser wissenschaftlichen Arbeit? „Eine umfassende Einheit aus linguistischer Ausgestaltung und visualisierter Szene.“
Ich bezweifle, dass Leser*innen sich darüber bewusst sind, wie oft ein einziger Satz übersetzt, genauer gesagt, umgeschrieben wird. Ein Dutzend Mal? Mindestens. Wenn es sich um einen düsteren Satz handelt und eine längere Auseinandersetzung mit der Übersetzung eines Wortes, etwa „eindringen“ (engl. “penetrate”), erforderlich ist, kann sich die Laune der übersetzenden Person nur auch verdüstern.
Etwas zu beschreiben oder zu übersetzen, ist natürlich nicht gleichbedeutend damit, dies auch zu durchleben. Empathie ja, Äquivalenz nein. Ich war noch nie Opfer eines Übergriffs. Beziehungsweise, ich war noch nie Opfer eines Übergriffs, weil zwei junge Männer einen anderen jungen Mann in einer gewissen „Situation“ aufgehalten haben. Ich schreibe das nicht gerne, aber ich tue es, weil ich mich frage, ob es Auswirkungen auf mein Übersetzen hat. Diese Überlegung führt mich zu einer weiteren Zwickmühle: Wie bleibt man unsichtbar? Ein*e Übersetzer*in hat grundsätzlich zwei Aufgaben – die richtigen Worte zu finden und selbst unbemerkt zu bleiben. Aber es ist nicht so einfach, Abstand zu den eigenen Erfahrungen aufzubauen. Kann ich, als Frau und Mutter, nichts von mir selbst in der englischen Version eines Romans hinterlassen, der sich so sehr mit der Frage beschäftigt, was es bedeutet, Frau und Mutter zu sein? Natürlich nicht.
Gerade in Anbetracht der aktuellen Lage ist vielleicht das Wichtigste, das man im Hinterkopf behält, dass das Menschsein, trotz aller Weitläufigkeit, eine gemeinschaftliche Erfahrung darstellt. Es ist nicht schwer, sich einen Körper vorzustellen, der den eigenen niederdrückt, eine Kraft, die die eigene übersteigt, einen unbekannten, unliebsamen Geruch. Wir alle können uns das vorstellen, auch wenn wir das lieber nicht tun wollen.
Den ersten Entwurf von Born of No Woman vollendete ich Ende März 2020, ein paar Wochen, nachdem die Social-Distancing-Maßnahmen eingeführt wurden. Das Buch wird im Herbst bei Other Press erscheinen. Angesichts all der vor mir liegenden Monate, die ich mit der Überarbeitung verbringen werde, begegne ich dieser emotionalen Hürde wieder einmal mit Rationalität – ich markiere die verstörenden Abschnitte mit übergroßen Büroklammern und lasse sie bei der Überarbeitung vorerst aus, kleine Befestigungsanlagen, die so lange bestehen bleiben werden, bis ich mich mental dafür gewappnet fühle, sie in Angriff zu nehmen. Niemals zuvor erschien mir das geschwungene Metall so unheildrohend.
Eigentlich wollte ich einen Text über Selbstschutzmechanismen für Übersetzer*innen schreiben, über praktische Tipps, wie man Leben und Arbeit voneinander trennen kann, darüber, wie wichtig es ist, zwischen Texten unterschiedlicher Intensität hin und her zu wechseln, Pausen zu machen usw. Doch dann zog sich die Welt zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Jetzt arbeite ich, wie jeder andere Mensch auch, umzingelt von Ängsten, Furcht und stetig wachsender Isolation. In den ersten Tagen des Coronavirus-Ausbruchs in den USA, bevor die Bedrohung deutlich wurde, machte auf Twitter der Witz die Runde, dass Übersetzer*innen von Natur aus wie für Social Distancing gemacht seien. Da ist mit Sicherheit etwas dran. Man wird sich wohl kaum entscheiden, Übersetzer*in zu werden, wenn man nicht gut damit zurechtkommt, über einen längeren Zeitraum hinweg alleine zu sein, in vollkommener Stille oder nur vom Klang der eigenen, leise vorlesenden Stimme begleitet. Aber wie gestaltet sich das Übersetzen von düsterer Literatur in dieser neuen, dichteren Stille?
Die bittere Wahrheit lautet, dass das Übersetzen des Schmerzes und der Schrecken eines Textes dem, was in der Welt vor sich geht, vielleicht vorzuziehen ist. Zumindest gibt der Text uns genügend Raum, um uns vorzubereiten, uns so lange wie nötig Zeit zu nehmen. Ich würde daher folgenden Selbstschutzmechanismus vorschlagen: Wenn es inmitten der Finsternis schon nicht möglich ist, im Licht zu verweilen, sollte man zumindest den Versuch unternehmen, im Schatten zu bleiben.