Wie haben Sie Portugiesisch gelernt?
Meine Eltern haben Geologie studiert, und mein Vater hat immer auf Eisenerzminen gearbeitet. Nachdem wir drei Jahre in Liberia gelebt hatten, zogen wir, als ich vier war, nach Brasilien. Ich habe also ganz normal auf der Straße Portugiesisch gelernt. Zu Hause haben wir Deutsch gesprochen, und Lesen und Schreiben habe ich wiederum in beiden Sprachen gelernt. Zu Hause auf Deutsch, in der Schule auf Portugiesisch. Ich habe vor einigen Jahren gemerkt, dass ich immer noch deutlich erkennbar im Tonfall der Region Minas Gerais in Brasilien rede, obwohl ich mich jahrelang bemüht habe, die portugiesische Variante anzunehmen, die für mich sehr schön klingt. Zu Beginn meines Studiums in Frankfurt habe ich gleich in einer portugiesischen Buchhandlung Arbeit gefunden, und das hat mich schnell in Kontakt mit den vielen anderen Varianten des Portugiesischen gebracht. Portugiesisch wird in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika gesprochen. Natürlich haben sich da interessante Unterschiede entwickelt, nicht nur im Tonfall.
Wie sieht die portugiesischsprachige Literaturszene aus?
Portugiesisch wird, wie gesagt, in sehr unterschiedlichen Ländern geschrieben und gelesen: Angola, Brasilien, Kapverde, Guinea-Bissau, Mosambik, Portugal, Osttimor, São Tomé und Príncipe. Mein Eindruck ist, dass gerade Portugal und Brasilien lange literarisch nebeneinander her gelebt haben. Die Literatur der portugiesischsprachigen Länder in Afrika wiederum ist stark nach Portugal orientiert, nicht zuletzt, weil dort die großen Verlage und ökonomisch bedingt auch das Gros der Lesenden sitzen und die Autorinnen und Autoren meist entweder noch zu Kolonialzeiten oder auch später in Portugal studiert haben. Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass es z. B. in Angola oder Mosambik nicht auch starke lokale Literaturszenen und ‑zirkel gäbe. Schriftstellerinnen und Schriftsteller spielten eine große Rolle im Kampf um die Unabhängigkeit. Kurioserweise ist die vielleicht bedeutendste Stimme der literarischen Unabhängigkeit Angolas, Luandino Vieira, in Portugal geboren und lebt heute auch wieder dort.
Die jüngeren Generationen tauschen sich über das Internet aus, aber ich habe den Eindruck, dass Festivals und Kulturinstitute eine große Rolle gespielt haben in Richtung einer tatsächlichen Art von Vernetzung. In Brasilien gab es ausgehend von dem inzwischen legendären Literaturfest in Paraty und begünstigt durch die fortschrittlichen Regierungen vor dem Putsch 2016 einen wahren Boom an Literaturfestivals. Immer mehr wurden dort auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Afrika oder Portugal eingeladen. Und umgekehrt. In Portugal entstand seit 2000 das „iberische“ Literaturtreffen Correntes d’Escritas mit explizit internationalem Anspruch. In Mosambik war ich selbst einmal mit dem brasilianischen Schriftsteller Luiz Ruffato Gast des dortigen Resiliência-Festivals. „Man“ kennt sich also irgendwie und bezieht sich aufeinander.
Andererseits habe ich z. B. in Mosambik Szenen erlebt, die sehr deutlich machen, wie trügerisch dieses Bild ist. In der nur 200 Kilometer von Maputo entfernten Provinzhauptstadt Xai-Xai war Luiz Ruffato damals der erste ausländische Literat überhaupt, der je dort aufgetreten ist, und junge Literaturinteressierte (z. T. mit eigenen Veröffentlichungen) hatten ganze Tagesreisen auf sich genommen, um ihn sowie den mosambikanischen Romanautor und Erzähler Lucílio Manajate zu hören. In Lissabon dagegen gelingt es mir regelmäßig, an einem einzigen Tag vier bis fünf renommierte Autorinnen oder Autoren einfach so auf der Straße zu treffen. Es ist also insgesamt ziemlich ungleichgewichtig.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Ich bin nicht sicher, ob man etwas „unbedingt“ gelesen haben sollte. Es kommt eher darauf an, was man lesen möchte. Das Portugiesische wird ja in extrem unterschiedlichen Realitäten geschrieben, da kommt schon viel Interessantes zusammen. Deutschsprachige Leserinnen und Leser müssen sich ohnehin mit dem Wenigen begnügen, das übersetzt wurde. Pro Jahr sind das vielleicht ein Dutzend Titel aus allen acht portugiesischsprachigen Ländern. Dieses Jahr sind es an die 50, weil Portugal wegen des geplanten Gastlandauftritts in Leipzig viel Geld in Übersetzungsförderung investiert hat – übrigens auch für Literatur aus Afrika.
2013, als Brasilien Gastland in Frankfurt war, gab es auch kurz einen solchen Boom. Damals wurden etliche hochinteressante Autorinnen und Autoren übersetzt, die man lange übersehen hatte: Carola Saavedra, João Paulo Cuenca, Michel Laub. Aber bis auf Luiz Ruffato mit inzwischen sieben Büchern seit 2012 und der schon vorher bekannten Patrícia Melo, die übrigens gerade eben wieder in allen Feuilletons gefeiert wird, konnte sich kaum jemand dauerhaft auf dem deutschsprachigen Markt etablieren. Erfreulich, dass immerhin die damals wiederentdeckte Clarice Lispector nun scheinbar auch hier im Kanon angekommen ist. Gerade erschien ein zweiter Band ihrer gesammelten Erzählungen in der Übersetzung von Luis Ruby.
Aus den diesjährigen Neuerscheinungen möchte ich unbedingt Dulce Maria Cardoso aus Portugal empfehlen, deren Fan ich seit bald zwei Jahrzehnten bin und die nun erstmals mit ihrem Roman Die Rückkehr (Übers. von Steven Uhly) auf Deutsch zu lesen ist. Der Roman thematisiert Portugals Kolonialdrama auf sehr zeitgemäße, eindringliche und persönliche Weise – wie übrigens auch Isabela Figueiredo vergangenes Jahr mit Roter Staub (Übers. von Markus Sahr), von der dieses Jahr Die Dicke (von Marianne Gareis übersetzt) zu einer ganz anderen, nicht minder schmerzlichen Thematik erscheint. Dann habe ich endlich die Gelegenheit bekommen, die Senhores von Gonçalo Tavares zu übersetzen, eine Reihe von sehr witzigen literarischen Paraphrasen. Alle, die das gelesen haben, sind begeistert.
Auch Lyrik kommt dieses Jahr verstärkt zu uns. Ana Luísa Amaral z. B. habe ich zusammen mit Piero Salabé übersetzen dürfen. Ana Paula Tavares aus Angola und Conceição Lima aus São Tomé, die ich beide verehre, werden in der Übersetzung von Juana und Tobias Burkhardt erscheinen. Dann ist sowieso klar, dass man aus Afrika Mia Couto kennen sollte. Sein Das Schlafwandelnde Land (übers. von Karin von Schweder-Schreiner) steht auf diversen Listen der wichtigsten afrikanischen Bücher überhaupt. Aktuell kommt Asche und Sand (auch von Karin von Schweder-Schreiner übersetzt), der Schlussakkord einer Trilogie um Leben und Überleben im Krieg vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen in Afrika Ende des 19. Jahrhunderts. Die Liste der aus dem Portugiesischen übersetzten Neuerscheinungen ist dieses Jahr erfreulich lang. Ich kann fast alles daraus empfehlen. Von dem schon mehrfach erwähnten Luiz Ruffato ist gerade Sonntage ohne Gott, der fünfte Band des Romanzyklus Vorläufige Hölle herausgekommen, ein Werk, das man sich gern auch als Ganzes ansehen sollte.
Was ist noch nicht übersetzt?
Auch diese Liste ist lang. Aktuell schmerzt es mich, dass es mir nicht gelungen ist, den für mich besten Roman des Jahres 2019 irgendwo unterzubringen: O Processo Violeta von Inês Pedrosa. Ein dezidiert feministischer Roman um den Skandal der Affäre einer Lehrerin und eines Schülers in den 1980er-Jahren. Hier wird alles behandelt: Bigotterie und Libertinage, Moral, Rassismus und der lange Schatten des in Portugal zu der Zeit erst gerade einmal ein Jahrzehnt zurückliegenden Faschismus. Den irgendwann mal zu übersetzen würde mich glücklich machen. Er gehört auch zu den Büchern, die „man“ (auch außerhalb Portugals) unbedingt gelesen haben sollte.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Portugiesischen? Wie gehen Sie damit um?
Ich glaube, die größte Schwierigkeit ist, einen Verlag zu finden. Über Schwierigkeiten beim Übersetzen zu reden fällt mir schwer, weil ich, was das angeht, recht vergesslich bin. Man muss mit den Schwierigkeiten ja umgehen, sie literarisch verarbeiten, und wenn das gelungen ist, ist die Schwierigkeit zum Glück überwunden. Ein Problem ist vielleicht, wie in vielen Sprachen, der große Reichtum an Varianten und Sprachebenen, die meist keine direkte Entsprechung im Deutschen haben. Was bedeutet es zum Beispiel für eine Person in Portugal, wenn eine literarische Figur einen Begriff verwendet, der dem Kimbundu entlehnt ist? Wie stark darf ich exotisieren oder normalisieren? Gerade afrikanische Autorinnen und Autoren spielen mit diesen Sprachvarianten, die zum Teil für koloniale oder postkoloniale Gegebenheiten stehen.
Aktuell beschäftigt mich zunehmend der Umgang mit diskriminierenden Begriffen, das Erkennen, Einordnen und angemessene Übersetzen rassistischer, misogyner oder klassistischer Sprache. Die Nonchalance, mit der in allen portugiesischsprachigen Ländern mit ihren unterschiedlichen kolonialen Vergangenheiten mit für unseren hiesigen Diskussionsstand unmöglichen Begriffen zum Beispiel für Hautfarben umgegangen wird, treibt mich um. Nichts davon kann man „einfach so“ übersetzen, muss adäquate Begriffe zu finden, ohne wiederum der Autorin oder dem Autor selbst Rassismus zu unterstellen. Oft gibt es Worte, die ähnlich klingen wie deutsche (denken wir nur an das unselige N‑Wort), es aber nicht sind. Diese Schwierigkeit, die ja öfters, aber immer wie nebenbei auftaucht, habe ich bisher noch nicht abschließend oder befriedigend überwinden können. Ich würde auch gern mal systematisch an der Problematik arbeiten, anstatt mit jedem Buch immer wieder aufs Neue darüber zu stolpern.
Was kann Portugiesisch, was Deutsch nicht kann?
Portugiesisch kann alles. Deutsch auch. Man kann mit beiden mehr oder weniger gut umgehen. Das ist individuell und nicht spezifisch für eine bestimmte Sprache. Für mich ist es so, dass Portugiesisch mehr offen hält – was für eine Person, die das in eine Sprache, die als „geregelter“ gilt, übersetzen muss, nicht immer das Lustigste ist. Aber auch das Deutsche hat seine diffusen Momente.
Das Besondere an Portugiesisch ist sicher, dass es gleichzeitig eine europäische, afrikanische und lateinamerikanische (in Teilen sogar asiatische) Sprache ist. Daraus ergibt sich ein unglaublich reiches Vokabular und eine Fülle an Redewendungen, die natürlich überall anders verbreitet sind, von den vielen Einflüssen aus benachbarten Sprachen, vom Arabischen bis zu diversen Bantu- oder Guarani-Sprachen, ganz zu schweigen. Durch seine Verbreitung hat das Portugiesische eine geografische Streuung, die das Deutsche nie hatte. Und überall gibt es regionale Besonderheiten und auch Übernahmen von einer Variante zur anderen: Begriffe aus dem angolanischen Portugiesisch tauchen auf einmal im Slang von Lissabon auf, Yoruba-Worte gelangen über das Brasilianische nach Angola. Das Hin und Her der unterschiedlichen Varianten des Portugiesischen ist etwas anderes als zum Beispiel in Deutschland die schüchterne Übernahme von einzelnen Worten aus Sprachen von eingewanderten Gruppen. Das macht die Sprache vielleicht etwas spielerischer und spielfreudiger – zur Last und zum Vergnügen der Übersetzenden.
Michael Kegler, geboren 1967 in Gießen, übersetzt seit Ende der 1990er Jahre Literatur aus dem Portugiesischen. Für seine Übersetzung des Romans Es waren viele Pferde von Luiz Ruffato erhielt er 2014 den Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW und 2016 gemeinsam mit Ruffato den Internationalen Hermann-Hesse-Preis. Er engagiert sich seit seiner Zeit als Buchhändler in Frankfurt am Main für die Verbreitung portugiesischsprachiger Literatur und ist Mitglied im Vorstand der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika (Litprom). (Foto: Ramin Mohabat)