
Am 28. Mai werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Tarjei Vesaas (1897–1970) ist einer der wichtigsten norwegischen Autoren der Moderne, hierzulande jedoch bislang nur für seinen Roman Is-slottet (Das Eis-Schloss) bekannt, den Hinrich Schmidt-Henkel ebenfalls übersetzt hat. Nun ist mit Die Vögel (1957) auch jenes Buch zu entdecken, das laut Karl Ove Knausgård der beste norwegische Roman überhaupt ist. Auch wenn dieses Urteil subjektiv ist und eher der Vermarktung dient als der literaturkritischen Bewertung, Die Vögel hinterlassen definitiv einen bleibenden Eindruck.
Vesaas erzählt die Geschichte von Mattis, einem etwa vierzigjährigen Mann, der zusammen mit seiner Schwester Hege in einer abgelegenen Hütte wohnt. Schnell wird klar, dass Mattis sehr eigen ist. In einer Gesellschaft, die nur aus Klugen und Starken zu bestehen scheint, findet er sich nur schwer zurecht. Arbeiten fällt ihm nicht so leicht wie allen anderen, die ihn dafür als „Dussel“ („tust“) beschimpfen. Aber: Er verfügt über eine reiche Fantasie und sieht Dinge, die seinen Mitmenschen verborgen bleiben. So nimmt er die Schnepfen, die über sein Haus fliegen, als Zeichen dafür, dass etwas passieren wird. Nur was? Etwas Gutes, etwas Schlimmes? Er versucht auch, den anderen von seinen Beobachtungen zu erzählen, erfährt aber wenig Zuspruch. Oft wird er nicht so gesehen, wie er ist, sondern mit schrägen, abfälligen Blicken beobachtet. Auch wenn Mattis hin und wieder glückliche Erfahrungen macht, so mehren sich doch die Zeichen des Unheils. Ein Jäger erschießt eine seiner Schnepfen, und als auf dem Hof der Geschwister ein Holzfäller namens Jørgen auftaucht, wird Mattis’ und Heges fragiles Beziehungsgefüge auf den Kopf gestellt.
Der Roman fasziniert weniger durch seinen Spannungsbogen als durch die Wahl seiner Perspektive. Der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel beschreibt seinen Lektüreeindruck folgendermaßen: „Als Lesende nehmen wir sehr vieles von Mattis’ Innenleben wahr, das die anderen Figuren nicht mal ahnen. Auf diese Weise werden wir zu Mitwissenden, Mitfühlenden, Miterlebenden – und erkennen, womöglich noch schmerzhafter als Mattis selbst, wie beschränkt die Sicht der anderen auf ihn ist. Darum rühren die Augenblicke auch so sehr an, in denen sie ihm mit Respekt oder Einfühlung begegnen, wie die beiden Mädchen auf dem See oder auch wie die Bäuerin, die ihn schlafen lässt und mit ihm Kaffee trinkt.“
Die Jurybegründung
„Wie es Vesaas vermittelt durch Hinrich Schmidt-Henkel schafft, uns in eine traumgleiche Gedankenwelt eines hochsensiblen Kindes im Erwachsenenkörper hineinzunehmen, ist bildschön. Die Übersetzung trifft den Ton dieser klaren Poesie in ihrer wunderbar stimmigen Stille.“
Die Übersetzung
Kurioserweise geht aus dem Impressum nicht hervor, aus welcher Sprache Hinrich Schmidt-Henkel diesen Roman genau übersetzt hat. Da steht bloß: „Aus dem Norwegischen von …“, dieser Hinweis ist jedoch unpräzise. Denn es gibt zwei Varianten dieser Sprache: Bokmål und Nynorsk. Erstere ist aus dem Dänischen hervorgegangen (Norwegen stand lange unter dänischer Herrschaft), Letztere aus zahlreichen alten Dialekten, die der Linguist Ivar Aasen im 19. Jahrhundert zu einer einheitlichen Schriftsprache zusammenfasste. Neben Vesaas schreiben zahlreiche andere Autor*innen in dieser Variante (etwa Jon Fosse, ebenfalls von Schmidt-Henkel übersetzt). Es ist nicht ersichtlich, wieso deutsche – und oft auch internationale – Verlage niemals verraten, aus welcher Variante des Norwegischen genau übersetzt wurde. Ist es die Sorge um ein Publikum, das keine sprachwissenschaftlichen Fachbegriffe mag? Ist es schlichtweg Ignoranz – oder, und das wäre der günstigste Fall, eine Mischung aus beidem? Wie so viele Dinge, die Verlagspolitik betreffen, bleiben auch hier offene Fragen. Zwar wird in der Biographie des Autors am Schluss des Buches kurz erwähnt, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Nynorsk handelt, diese Angabe wäre aber auf dem Titelblatt besser aufgehoben gewesen.
Da es im Norwegischen also zwei offizielle Sprachformen gibt und im Deutschen nur eine, stellt sich die Frage, wie man die seltenere von beiden – nämlich Nynorsk – in einer Übersetzung behandelt. Abgesehen von seinem Stil erfindet Vesaas hier nichts Neues, er hält sich an die grammatikalischen Regeln. Hinrich Schmidt-Henkel verfasst demzufolge auch einen hochdeutschen Text.
Die Sprache ist schlicht. Auf den ersten, oberflächlichen Blick wirkt sie sogar einfältig. Hier sprechen die Figuren in kurzen Sätzen, die oft kaum länger sind als wenige Zeilen. Das entspricht dem Naturell der Figuren. Die Differenz zum Nynorsk macht Schmidt-Henkel oft durch altertümelnde, lokalgefärbte Varianten wett. Hier „plitscht“ („tipl[ar]“) der Regen aufs Dach, Geschäfte besiegelt man mit den Worten „ordentlich vergolten“ („grei skuring“), Figuren sagen Dinge, die „reineweg wahnwitzig“ sind, verhalten sich „spottlustig“ („ertelystne“), wenn die Umstände es erfordern, und fühlen „sich in den Himmel getragen“ („boren høgt opp“), wenn das Glück doch mal zu ihnen kommt. Mattis selbst ist der „Dussel“ („tusten“), eine Bezeichnung, die oft eine Beleidigung, aber auch ein neckischer Kommentar zu seinem linkischen Verhalten ist.
Heutzutage würde man eine solche Bezeichnung wohl als diskriminierend auffassen, da die Geschichte aber in einer anderen Zeit spielt, hat die Entscheidung des Übersetzers ihre Berechtigung. Schmidt-Henkel hat, wie er selbst sagt, während der Arbeit an Vesaas einiges gelernt: „Besonders ein Lernprozess ist bei der Arbeit an dem Buch weitergegangen, nämlich zu versuchen, mit ganz einfachen Worten tiefe Wirkungen zu erzielen, Räume anzudeuten, ohne sie zu benennen. Das habe ich schon bei anderem von Vesaas oder auch von Jon Fosse geübt, aber hier ist es in besonderem Maße vonnöten. Und für dieses Buch, diese Figur besonders typisch ist, genau das Wort zu finden, das auf dem Grat balanciert: Einfach, aber vielsagend, ungekünstelt, aber nicht deppenhaft.“
Ein anderes Kennzeichen der Sprache in diesem Roman ist ihre starke Rhythmisierung. Hier ein Beispiel:
No er det natt.
Kva skal ein gjera når alle ikring ein er sterke og kloke?
Får aldri visst det.
Men kva skal ein så gjera? Ein må gjera noko da òg. Heile tida.
Det går ei strime over detta huset. Fuglen sjølv er skoten og har lagt i hop auga, og med stein over seg – men strima står.
Kva skal ein gjera då?
Kva skal ein gjera med Hege? Det er gali fatt med henne.
Får aldri visst det.
Men det susar ute no, anten det susar eller ikkje.
Jetzt ist es Nacht.
Was soll man tun, wenn alle ringsum stark und klug sind?
Werd ich nie erfahren.
Aber was soll man da tun? Man muss ja auch dann irgendwas tun. Die ganze Zeit.
Ein Streifen geht über dieses Haus. Der Vogel ist abgeschossen und hat die Augen zu, ein großer Stein liegt auf ihm – aber der Streifen bleibt.
Was soll man da tun?
Und mit Hege, was soll man mit der tun? Sie hat es schwer.
Werd ich nie erfahren.
Draußen saust es, ob es jetzt saust oder nicht.
Im norwegischen Text ist kein Wort länger als zwei Silben, was natürlich schwer ins Deutsche zu übertragen ist. Wörter wie „irgendwas“ („noko“) und „abgeschossen“ („skoten“) fallen da heraus, sind aber zum Glück nur Einzelfälle. Oft gelingt es Hinrich Schmidt-Henkel, den Rhythmus des Norwegischen einzufangen, der an dieser Stelle zwischen dem Jambischen, Trochäischen und Daktylischen wechselt und Mattis’ erratische, quälende Gedankenschleifen wiedergibt. Die zitierte Passage steht stellvertretend für viele andere, in denen die Übersetzung dieses so einfachen, so schwierigen Romans glückt. Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse ist also mehr als verdient.
Lieblingsstelle
„Denn wenn das wirklich der Balzflug war, der Schnepfenstrich, dann kam der Vogel bald wieder vorüber, auf derselben Strecke, Mal ums Mal, während der kurzen abendlichen Flugzeit. Er kannte das von alteingeführten Strecken andernorts, von denen er wusste. Frühmorgens folgt der Vogel wieder demselben Strich, hatte ein Jäger ihm erzählt. In trockenen Gräben hatte er manchmal Stellen gesehen, wo Schnepfenschnäbel gestochert hatten, daneben die Spuren zarter Vogelfüße.“