Am 28. Mai werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Der kanadische Autor Louis-Karl Picard-Sioui dürfte im deutschsprachigen Raum bis vor kurzem ein völlig Unbekannter gewesen sein – bis Sonja Finck und Frank Heibert den Schriftsteller, Dichter, Performer und Kurator für visuelle Kunst im Jahr 2019 entdeckt haben und Christian Ruzicska vom Secession Verlag glücklicherweise von seinen Stories aus Kitchike überzeugen konnten. Picard-Sioui stammt aus Wendake, einem Reservat in der Nähe der Stadt Québec, und setzt sich mit seiner Organisation „Kwahiatonhk!“ aktiv für indigenes Schreiben und die indigene Literaturszene ein.
In einem Reservat spielen auch die Stories aus Kitchike – Der große Absturz, allerdings ist Kitchike ein fiktives Reservat. Picard-Sioui präsentiert in seinem Buch humor- und schwungvoll die bittere gegenwärtige Lebenswirklichkeit indigener Gruppen in Kanada, die von Rassismus und Unterdrückung geprägt ist und noch immer von den Folgen der Kolonialisierung belastet wird.
Diese eigentlich schwere Kost wird von Picard-Sioui jedoch äußerst geschickt und fast schon luftig vermittelt, was auch an der interessanten Struktur des Buches liegt. Das Buchcover gibt keinen Aufschluss über das Genre, und zu Beginn der Lektüre wirken die einzelnen Kapitel, die von einem Prolog und einem Epilog eingerahmt werden, eher unzusammenhängend. Dieser Ersteindruck verflüchtigt sich aber schnell, denn die verschiedenen Hauptfiguren der Kapitel tauchen immer wieder in den jeweils anderen Kapiteln auf. Erzählt wird letztendlich eine aus den Einzelschicksalen der Personen zusammengefügte Hauptgeschichte, die im längsten Kapitel „Der große Absturz“ kulminiert. Jedes Kapitel bildet für sich eine stimmige Geschichte, aber die verschiedenen Episoden werden geschickt verflochten und bilden einen Roman. Keinen klassischen Roman, sondern eine moderne, genau konzipierte Erzählung.
Als erste Figur macht man mit Pierre Wabush Bekanntschaft, dessen temporeiche, direkte Erzählstimme vom ersten Satz an zu überzeugen weiß. Pierre wacht verkatert in einer anderen Wohnung auf und kommt über Umwege zu dem Schluss, dass es in Kitchike so nicht weitergehen kann. Er will seine Passivität hinter sich lassen und aktiv eingreifen. Wie das Leben in Kitchike aussieht und warum es so nicht weitergehen kann, erfährt man in den folgenden Kapiteln durch ganz unterschiedlich erzählte Episoden. Da gibt es Jean-Paul Paul Jean-Pierre, der in seiner Wohnung plötzlich Unmengen von schwarzen Löchern findet, den alten Schamanen Roméo Cœur-Brisé, der im Wald zusammen mit einem alten Missionar eine rührende Beobachtung macht, eine große Panik in der örtlichen Tankstelle, oder eben den großen Absturz, der dem ein oder anderen Strippenzieher von Korruption und Ungerechtigkeit das Herz in die Hose rutschen lässt.
Die Jurybegründung
„Ein Reservat gehört nicht zu den typischen Handlungsorten der Literatur. Dieser Roman über das kanadische Kitchike nimmt einen allein deshalb sofort gefangen. In locker verbundenen Stories entfaltet Picard-Sioui in ständig wechselndem Jargon eine Welt an der Peripherie.“
Die Übersetzung
Mit Sonja Finck und Frank Heibert hat sich für die Übersetzung der Stories aus Kitchike ein äußerst erfahrenes und erfolgreiches Duo zusammengefunden. In ihrem Toledo Journal beschreiben die beiden anschaulich, wie ihre Zusammenarbeit aussah und wie bereichernd das Übersetzen zu zweit sein kann. Und das merkt man dem Text auch an. Die Übersetzung überzeugt von der ersten bis zur letzten Seite und wird mit einem erhellenden Nachwort des Duos gekrönt, das wichtige Gedankengänge und Entscheidungen aufzeigt.
In fast jedem Kapitel wird eine neue Figur eingeführt; die vielen Stimmen, die auf diese Weise das Leben in Kitchike präsentieren, werden jeweils durch einen ganz eigenen Ton, durch eine spezifische Syntax und ein eigenes Tempo gekennzeichnet. Die Übersetzung zeigt, wie gewissenhaft und genau Finck und Heibert diese verschiedenen Stimmen nachempfunden und ins Deutsche übertragen haben – wie sie sich chamäleonhaft an jede Kapitelumgebung gekonnt angepasst haben.
Der Prolog ist aus der Ich-Perspektive von Pierre Wabush geschrieben, der mal wieder in Lydias Wohnung aufgewacht ist, ohne genau zu wissen, wie es dazu gekommen ist. Der Stil der Wabush-Kapitel orientiert sich stark an der gesprochenen Sprache, es wimmelt nur so von Worten wie nix und Shit und Fuck und herausgefeuerten Sätzen voller Einschübe. Pierre nimmt kein Blatt vor den Mund und lässt die Leserinnen und Leser ungefiltert und ausdrucksstark an seinen Gedankengängen teilhaben und so auch an seinen Ansichten über seinen Wohnort:
Kitchike ist tote Hose, mausetot, das ist keinem Nachwuchs zumutbar. So ein Erbe willst du keinem mitgeben: zerrissen zwischen der Stadt und dem Reservat, der glorreichen Vergangenheit und der kolonialen Gegenwart, keine Träume, keine Hoffnungen, gefangen in bescheuerten Kleinkriegen, umzingelt von rassistischen Frenchies, regiert von Möchtegernmafiosi von Kanadas Gnaden. Doppelt gearscht ins Lebens starten, das wünsche ich keinem.
Pierre Wabush erwacht dank der Übersetzung von Finck und Heibert und ihrer Liebe zum Detail sofort zum Leben, man weiß schon nach wenigen Worten, mit was für einem Typen man es zu tun hat, nämlich mit einem, der „Fake riech ich von weitem“ denkt. Mit Fake hat die für diesen Charakter gefundene Sprache glücklicherweise nichts zu tun, das Übersetzungsteam hat nicht nur eine authentische Welt, sondern vor allem auch authentische Charaktere geschaffen. Gerade ein moderner, umgangssprachlicher Ton kann schnell anbiedernd und aufgesetzt wirken – das ist hier aber keineswegs der Fall, Pierre Wabush ist ganz einfach Pierre Wabush, der sein eigenes Ding durchzieht, auch auf sprachlicher Ebene:
Das erlaubt mir, die wahre Absicht meiner ‚Auskundschaftierung‘ zu verbergen (ich weiß, das Wort gibt’s so nicht, ist mir aber Banane) […].
Wem der Neologismus „Auskundschaftierung“ gefällt, dem wird auch der Rest des Buches gefallen, es wimmelt nur so von kreativem Wortgebrauch und Wortneuschöpfungen, so ist Jean-Paul Paul Jean-Pierre fest davon überzeugt, dass „‚Intellektuellereien‘ […] nichts für Indianer waren.“ Apropos Jean-Paul Paul Jean-Pierre: Was für ein Name. Und diesen Namen liest man nicht nur einmal, nach diesem Namen ist ein Kapitel benannt, und in diesem Kapitel steht gefühlt (oder gar tatsächlich) in jedem zweiten Satz dieses Bandwurmungetüm. Der Name passt ganz wunderbar zu seinem Träger, einem arbeitslosen Mann, der noch nie seinen Geburtsort Kitchike verlassen hat und eine ganz eigene Art des Denkens und des Sich-treiben-lassens verkörpert:
Jean-Paul Paul Jean-Pierre wusste nicht, was er darauf erwidern oder wie er den Chef trösten sollte. Er suchte nach einer Antwort, und seine Gedanken drehten sich wie üblich im Kreis und verliefen dann im Sand. Im Sand, am Strand, am Meer. Neulich war er im Zoo gewesen und hatte sich die Meeresfische angeschaut, sie hatten so glücklich gewirkt, wie sie da im Wasser hin und her flitzten. Vor allem die Seepferdchen. Wobei er nicht genau wusste, ob Seepferdchen überhaupt zu den Fischen zählten, oder auch am Strand, im Sand glücklich waren?
Dieser Abschnitt zeigt ganz deutlich: Hier hat man es mit einer anderen Figur zu tun, die eine eigene Stimme hat. Die Gedanken von Jean-Paul Paul Jean-Pierre fließen und überspülen den Lesenden mit ihrer hypnotischen Absurdität. Der merkwürdige Name der Figur verkörpert die kolonialen Folgen und die missionierenden Übergriffe der katholischen Kirche, die den Kindern der indigenen Gruppen oftmals christliche Doppelnamen gaben. Auffällige Namen ziehen sich durch den gesamten Roman: Die privilegierten Weißen tragen einfach die Namen ihrer angesehenen Berufe, so wird der Augenarzt „Herr Auge“ genannt.
Stories aus Kitchike wartet aber nicht nur mit Humor und Absurdität auf, sondern hat noch viele weitere Facetten zu bieten. So ist eine Geschichte, die im Kapitel „Powwow“ vom Reservatschef nacherzählt wird, mit den klassischen Elementen eines Märchens bzw. einer Fabel ausgestattet, in einem anderen Kapitel tritt die indigene Göttin Yawendara auf und eröffnet im Text eine Metaebene, während das Kapitel, in dem sich ein alter Missionar und ein alter Schamane im Wald treffen, durch anmutige Naturbeschreibungen besticht, die die Schönheit der Ursprünglichkeit bedächtig widerspiegeln:
Langsam verschwand die Sonne hinter den Baumwipfeln und warf dunkle Schattennetze über die Männer. Die beiden Freunde trugen bereits genug Finsternis ins sich und wollten sich nicht ein weiteres Mal darin verlieren.
Dass Sonja Finck und Frank Heibert für die Übersetzung aus dem Französischen sehr genau recherchieren und äußerst sensibel vorgehen mussten, veranschaulicht das folgende Zitat (nachzulesen im Toledo Journal):
Jean-Paul Paul Jean-Pierre était un Indien. Un Indien on ne peut plus indien, hors de l’Inde. Mais il n’était pas membre de la diaspora du sous-continent. Il n’était pas ce genre d’Indien. Jean-Paul Paul Jean-Pierre était un Indien d’Amérique. Un Amérindien aborigène autochtone indigène, membre de Premières Nations d’Amérique du Nord de la Grande Tortue.
Jean-Paul Paul Jean-Pierre war nämlich ein Indianer. Das Wort hatten die Weißen sich ausgedacht, als sie kapierten, dass Kolumbus nicht in Indien gelandet war, dass die Ureinwohner also keine Inder waren. Jean-Paul Paul Jean-Pierre war ein Indianer aus Nordamerika. Ein eingeborener autochthoner indigener nordamerikanischer Indianer, Angehöriger der Ersten Nationen der nordamerikanischen Großen Schildkröte.
In diesem Abschnitt musste das Duo nicht nur für das im Deutschen nicht funktionierende Wortspiel „Un Indien on ne peut plus indien, hors de l’Inde“ eine geeignete Übersetzung finden, sondern auch für die vielen Begrifflichkeiten, die zur Beschreibung von indigenen Personen verwendet werden, wobei natürlich abgewogen werden muss, welche Wörter guten Gewissens verwendet werden können und welche Konnotationen die jeweiligen Begriffe mit sich bringen. Eine Leitfrage, die sich die beiden bei der Entscheidungsfindung gestellt haben, lautete: „Wie aber übersetzen wir den ‚Blick von innen‘? Bei so einer Frage lohnt es sich immer herauszufinden, was die betroffenen Menschen selbst dazu meinen, und ihnen so die Definitionsmacht über ihre Benennung zurückzugeben.“ Durch diese Herangehensweise haben Finck und Heibert respektvolle und differenzierte Lösungen gefunden, die sie im Nachwort nachvollziehbar erklären.
Sonja Finck und Frank Heibert ist es mit Bravour gelungen, den zwischen Gesellschaftskritik und Humor pendelnden Roman ins Deutsche zu übertragen. Sie haben sich aktiv dafür eingesetzt, Picard-Siouis Gegenwartsschilderung des Reservatlebens in den deutschen Sprachraum zu bringen, und rücken auf diese Weise das Thema der immer noch vorherrschenden Unterdrückung indigener Gruppen in den Fokus. Gleichzeitig geben sie den facettenreichen Stil und die unterschiedlichen Jargons des Textes lebendig wieder, Stories aus Kitchike sprudelt nur so vor Kreativität und Lust am Spiel mit Sprache. Finck und Heibert schenken den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern mit dieser Übersetzung ein Leseerlebnis, das gleichermaßen lehrreich und unterhaltsam ist, und zeigen auf, wie gelungene Kulturvermittlung aussieht.
Lieblingsstelle
„Da das Problem ein schwarzes Loch war, musste die Lösung, das wusste Jean-Paul Paul Jean-Pierre genau, im buntesten, leuchtendsten ihrer Bücher zu finden sein.“