Ann Cot­ten: die Unaufgeregte

Die Dichterin Rosmarie Waldrop liefert mit ihrem experimentellen Roman „Pippins Tochters Taschentuch“ eine steile Vorlage. Ann Cotten hat den Roman aus dem amerikanischen Englisch nah am Original übersetzt. Von

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021: Ann Cotten für „Pippins Tochters Taschentuch“. Bild rechts: Inge Zimmermann

Am 28. Mai wer­den die Prei­se der Leip­zi­ger Buch­mes­se ver­ge­ben, unter ande­rem in der Kate­go­rie Über­set­zung. Auf TraLaLit stel­len wir die Nomi­nier­ten vor. Alle Bei­trä­ge der Rei­he sind hier zu finden.

Das Buch

Das unschein­ba­re Kit­zin­gen in Unter­fran­ken ist ein unge­wöhn­li­cher Schau­platz für einen Roman. Die Grün­dungs­ge­schich­te der Stadt basiert auf einem Taschen­tuch (oder einem Schlei­er), das Pip­pins Toch­ter der Legen­de zufol­ge aus einem Schloss­fens­ter fal­len ließ. Ein Schä­fer namens Kitz fand es in der Nähe vom Main. Die Toch­ter ließ an dem Fund­ort ein Klos­ter errich­ten und benann­te die Stadt nach dem Schä­fer – ein Ent­ste­hungs­my­thos, der Ros­ma­rie Wald­rops Roman Pip­pins Toch­ters Taschen­tuch wie ein Leit­mo­tiv durch­zieht. Die Geschich­te reiht sich zu den ande­ren Mythen die­ses Romans, mit denen die Erzäh­le­rin Lucy auf­ge­wach­sen ist. Retro­spek­tiv schreibt sie über ihre eigen­wil­li­ge Mut­ter Fre­de­ri­ka und deren tur­bu­len­ten Ehe mit Josef Sei­fert. Im Zen­trum steht Fre­de­ri­kas Affä­re mit einem gewis­sen Franz Huber, die zwar nicht die Ent­ste­hung einer Stadt, aber viel­leicht die Exis­tenz ihrer Zwil­lings­schwes­tern, Andrea und Doria, zur Fol­ge hatte.

Pip­pins Toch­ters Taschen­tuch erschien bereits 1986, wur­de aber mit einem Nach­wort von Ben Ler­ner, einem bekann­ten ame­ri­ka­ni­schen Dich­ter, 2019 neu auf­ge­legt. Der Roman spielt zur Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus in den 1930er Jah­ren vor Beginn des Krie­ges, auch wenn die his­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen im Roman vor allem Hin­ter­grund­ge­räu­sche ver­ur­sa­chen – im Vor­der­grund ste­hen die eigen­tüm­li­chen Eska­pa­den der Mut­ter, eine schil­lern­de, aber frus­trier­te Per­sön­lich­keit, deren Kar­rie­re auf der Büh­ne erst vom Vater, dann vom Ehe­mann behin­dert wird. Bri­sant wird es, weil Franz Huber, Freund des Vaters und Affä­re der Mut­ter, Jude ist. 

Ros­ma­rie Wald­rop, hier­zu­lan­de wenig bekannt und wenig über­setzt, weist als Lyri­ke­rin, Über­set­ze­rin und Ver­le­ge­rin eine inter­es­san­te Bio­gra­phie auf. In Kit­zin­gen gebo­ren und als Musi­ke­rin aus­ge­bil­det, traf die gebür­ti­ge Ros­ma­rie Sebald in den 50er Jah­ren auf den Ame­ri­ka­ner Keith Wald­rop, der dort als Sol­dat sta­tio­niert war. Gemein­sam zogen sie erst nach Frank­reich, spä­ter in die USA, wo bei­de eine Uni­ver­si­täts­kar­rie­re ver­folg­ten und äußerst pro­duk­tiv Gedich­te, Essays und Pro­sa ver­öf­fent­lich­ten. Heu­te gel­ten Ros­ma­rie Wald­rop und ihr Mann als gro­ße Ver­tre­ter expe­ri­men­tel­ler Lyrik in Ame­ri­ka. Seit den 60er Jah­ren ver­öf­fent­li­chen sie form­spren­gen­de Gedich­te, vie­le davon inspi­riert von der fran­zö­si­schen Avant­gar­de, und grün­de­ten den klei­nen, unab­hän­gi­gen Ver­lag Bur­ning Deck Press, der 65 Jah­re lang Gedich­te, Pro­sa­tex­te und Über­set­zun­gen aus dem Deut­schen veröffentlichte. 

Genau­so expe­ri­men­tell wie Wald­rops Lyrik ist auch der vor­lie­gen­de Roman. Wald­rops über­ge­ord­ne­tes Inter­es­se gilt der Form. Die­se ist mit ihren mar­kan­ten Zwi­schen­über­schrif­ten und frag­men­ta­ri­schen Struk­tu­ren ori­gi­nell, spie­le­risch und bewusst irri­tie­rend. Es gibt zwar eine Geschich­te, aber kei­nen Plot – statt­des­sen spie­gelt die Form den frag­men­ta­ri­schen, unzu­ver­läs­si­gen Pro­zess des Erin­nerns wider. Lucys Brie­fe an die Schwes­ter, ihre Rekon­struk­tio­nen der geschei­ter­ten Ehe, sind schein­bar fil­ter­los, von Zeit­sprün­gen gezeich­net und zu Tei­len eine asso­zia­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ver­gan­gen­heit. Die Figu­ren sind, auch wenn sie zu Wort kom­men, skiz­zen­haft gezeich­net und blass, wie Erin­ne­run­gen eben sind. Eine Gewiss­heit über das Gesche­he­ne gibt es nicht. Vie­les wird ledig­lich ange­deu­tet. Der Roman lässt somit die Fra­gen, die er auf­wirft, unbe­ant­wor­tet. Dafür kom­men Fans gekonnt ein­ge­setz­ter Rhyth­mik und poin­tier­ter Dicht­kunst bei der Lek­tü­re auf ihre Kosten.

Die Jury­be­grün­dung

„In Wald­rops Roman gehen nicht nur Ehe­part­ner ger­ne fremd, hier trei­ben es auch Wör­ter und Sät­ze auf aus­ge­las­se­ne und unkon­ven­tio­nel­le Wei­se mit­ein­an­der. Ann Cot­ten hat sie so luf­tig über­setzt, als wür­de sie die Laken nach einer lan­gen Lie­bes­nacht lachend ausschütteln.“

Die Über­set­zung

Ros­ma­rie Wald­rop und Ann Cot­ten haben eini­ge offen­sicht­li­che Gemein­sam­kei­ten: Bei­de arbei­ten als Über­set­ze­rin­nen (Wald­rop über­setzt aus dem Fran­zö­si­schen und Deut­schen ins Eng­li­sche) und Lyri­ke­rin­nen. Cot­ten ist für ihre rhyth­mi­schen, nicht weni­ger expe­ri­men­tel­len Gedich­te bekannt und über­setzt mit einer gewis­sen Vor­lie­be Lite­ra­tur abseits des Main­streams. Cot­ten und Wald­rop ver­eint somit ein Inter­es­se an Spra­che und die oft spie­le­ri­sche, unkon­ven­tio­nel­le Aus­ein­an­der­set­zung mit Form und Struktur. 

Hin­zu kommt die gemein­sa­me Bilin­gua­li­tät: Cot­ten ist gebür­ti­ge Ame­ri­ka­ne­rin, die als Kind nach Öster­reich kam. Wald­rop ist gebür­ti­ge Deut­sche, die erst mit Mit­te drei­ßig in die USA über­sie­del­te. Trotz­dem hat die inzwi­schen 85-jäh­ri­ge Autorin den Groß­teil ihres Lebens mit dem Eng­li­schen ver­bracht und die­se als ihre Arbeits­spra­che gewählt. Wer ihr Ori­gi­nal The Han­ky of Pippin’s Daugh­ter liest, könn­te auf die Idee kom­men, es hand­le sich dabei um eine Über­set­zung ins Eng­li­sche. Der Roman ist durch­zo­gen von deut­schen Phra­sen und Wör­tern, das Set­ting und die Hand­lung selbst ver­an­kert in der deut­schen Geschich­te. Dabei ent­ste­hen merk­li­che Kontraste:

He longs for Ger­ma­ny with its cafés full of hef­ty con­sci­en­ces calm­ly con­sum­ing their cake mit Schlag (hea­vy cream, it goes wit­hout say­ing) and dop­pel­te Por­ti­on. How he longs for the fle­shy Vic­to­ri­an age who­se very music moved in hea­vy, lush, sen­suous mas­ses of dome­stic bliss. Though even the­re, under­neath lurk­ed a lust for the lean, the deli­cious con­trast, the skin­ny and unsa­ted, the frail modu­la­ti­on, hard and soft blur­ring in ambi­guous tonality.

Wie er sich nach Deutsch­land sehnt, nach den Cafés vol­ler robus­ter Gewis­sen, die see­len­ru­hig ihre Kuchen mit Schlag (hea­vy cream, was man gar nicht dazu­zu­sa­gen braucht) in dop­pel­ten Por­tio­nen ver­schlin­gen. Wie er sich nach dem flei­schi­gen wil­hel­mi­ni­schen Zeit­al­ter sehnt, des­sen Musik sich in schwe­ren, üppi­gen, sinn­li­chen Mas­sen häus­li­chen Glücks beweg­te. Doch sogar dort lau­er­te im Unter­grund eine Lust auf das Mage­re, den köst­li­chen Kon­trast, die dür­re, unge­sät­tig­te Modu­la­ti­on, wo hart und weich in unein­deu­ti­ger Ton­art verschwimmen.

Irri­tie­ren­der­wei­se wur­de das eng­li­sche „hea­vy cream“ mit in die Über­set­zung genom­men. Im Ori­gi­nal dient die­ser Zusatz ledig­lich als Erklä­rung der deut­schen Phra­se „mit Schlag“ – im Deut­schen ist die­ser Kom­men­tar auf den ers­ten Blick unnö­tig und unter­bricht den Fluss. Trotz­dem ist der Zusatz im Kon­text der Hand­lung plau­si­bel, denn die Erzäh­le­rin Lucy ist genau wie die Autorin nach Ame­ri­ka aus­ge­wan­dert und schreibt über ihre Ver­gan­gen­heit in Deutsch­land. Nicht zuletzt mar­kiert die­ser Ein­schub den Text als Über­set­zung – eine sicher­lich bewuss­te Ent­schei­dung der Übersetzerin.

Die zitier­te Stel­le zeigt auch: Cot­ten mag als Lyri­ke­rin ein Flair für Spra­che haben, aber sie ist kei­ne beson­ders unkon­ven­tio­nel­le Über­set­ze­rin. Ihre Über­set­zung hält sich auf seman­ti­scher Ebe­ne in der Regel eng an die Vor­la­ge – mit nicht immer tref­fen­dem Effekt: Aus „lust of the lean“ wird das schlich­te, wört­lich über­tra­ge­ne „Lust auf das Mage­re”. Die sehr rhyth­mi­sche Alli­te­ra­ti­on „con­sci­en­ces calm­ly con­sum­ing their cake“ imi­tiert Cot­ten im Deut­schen nicht, son­dern han­gelt sich an der Bedeu­tung ent­lang. Ledig­lich die Über­set­zung von „calm con­scious­ness“ irri­tiert: Denn was sind „robus­te Gewis­sen“ und war­um wur­de es hier anstel­le von einer klang­li­che­ren Bedeu­tung von „calm“ gewählt? Cot­ten baut sol­che Spie­le­rei­en oft nur dort ein, wo es sich im Deut­schen offen­sicht­li­cher anbie­tet. „Deli­cious con­trast“ wird in die­sem Zitat bei­spiels­wei­se als „köst­li­cher Kon­trast“ über­tra­gen, aber hier ent­steht die Alli­te­ra­ti­on auf­grund der wört­li­chen Über­tra­gung auto­ma­tisch. Ein wei­te­res Beispiel:

I some­ti­mes suspect you of it, Andrea. Some­ti­mes I think the par­ents are a pre­text. […] The way you wan­ted to know the exact details of my span­kings when we were litt­le. You are hur­ting and want to see me hur­ting too. You want us stumb­ling at one ano­ther on a bleak litt­le island, wre­cked, both of us, in the inti­ma­cy and iso­la­ti­on of pain.

Dich habe ich manch­mal im Ver­dacht, Andrea. Manch­mal den­ke ich, dass die Eltern ein Vor­wand sind. […] Dir tut etwas weh, und du willst, dass ich auch Schmer­zen habe. Du willst, dass wir auf einer trost­lo­sen Insel auf­ein­an­der zu stol­pern, jeweils gestran­det in der iso­lier­ten Inti­mi­tät des Schmerzes.

Die deut­sche Über­set­zung beginnt mit dem „Dich“ statt mit dem „I“. Es erfolgt somit eine ganz geziel­te Los­lö­sung vom Ori­gi­nal, fast schon mini­mal, aber mit vor­teil­haf­ter Wir­kung. Der Ver­dre­hung der Pro­no­men ver­stärkt die Anre­de und ver­leiht dem geäu­ßer­ten Ver­dacht mehr Inten­si­tät. Stim­mig ist auch die Zusam­men­füh­rung von „inti­ma­cy“ and „iso­la­ti­on“, die zwar gering­fü­gi­ge Aus­wir­kun­gen auf die Bedeu­tung hat, aber die klang­li­che Nähe noch stär­ker betont und den deut­schen Satz nicht unnö­tig ver­län­gert. Cot­tens Über­set­zung hat somit eine gewis­se Unab­hän­gig­keit. Sie bewegt sich aber ten­den­zi­ell nur dann vom Ori­gi­nal weg, wenn es unbe­dingt sein muss. Das kann durch­aus eine Über­set­zungs­stra­te­gie sein, sie funk­tio­niert jedoch nicht immer. 

Sie funk­tio­niert vor allem dann nicht, wenn die Sät­ze etwas län­ger wer­den. Zum Bei­spiel hier:

It would take Schubert’s inven­ti­ve­ness to turn this con­di­ti­on into advan­ta­ge. He felt his way across the new ter­rain which remain­ed unfa­mi­li­ar becau­se he did not mean to get used to it, to let it be unno­ti­ced like the color of walls or an inner hum.

Es hät­te der Erfin­dungs­kraft Schu­berts bedurft, um die­sen Zustand zum Guten zu wen­den. Er tas­te­te sich über das neue Ter­rain, das unver­traut blieb, weil er nicht vor­hat­te, sich dar­an zu gewöh­nen, es unbe­merkt zu las­sen wie die Far­be der Wän­de oder ein inne­res Summen.

Wald­rop hat den zwei­ten Satz die­ses Zitats voll­kom­men unter Kon­trol­le. Sie glie­dert ihn nicht nur durch das Kom­ma, das zum Inne­hal­ten ein­lädt, son­dern auch durch die rhyth­mi­sche Wie­der­ho­lung von „to it“, die zum Ende des lan­gen Sat­zes über­lei­tet. Im Ver­gleich dazu lässt Cot­tens Über­set­zung mit all ihren Ein­schü­ben eine genaue­re Struk­tur ver­mis­sen, was das Ver­ständ­nis die­ses anspruchs­vol­len Tex­tes nicht unbe­dingt erleich­tert. Lei­der han­delt es sich bei die­sem Satz nicht um einen Ein­zel­fall. An ande­rer Stel­le wird bei­spiels­wei­se „[He found] only the lat­ter which, lucki­ly, was the one he knew how to batt­le“ in das umständ­li­che „[Er fand] nur Letz­te­re, was, zum Glück, das war, das er bekämp­fen konn­te“ übertragen.

Die zitier­ten Stel­len geben ledig­lich einen klei­nen Ein­blick in die Waldrop’sche Sprach­ge­walt, mit der es Cot­ten hier zu tun hat­te. Bei schrei­ben­den Übersetzer:innen kommt häu­fig der Ver­dacht auf, dass sie sich in ihren Über­set­zun­gen beson­ders her­vor­tun und ihren eige­nen Schreib­stil in den Text ein­flie­ßen las­sen, um ihm so eine eige­ne Note zu ver­lei­hen. Cot­ten aber über­setzt fast schon zurück­hal­tend. Als Über­set­ze­rin ori­en­tiert sie sich eng am Text und steht ganz im Diens­te der Autorin. Das Resul­tat ist eine nicht durch­gän­gig über­zeu­gen­de, aber ins­ge­samt den­noch ein­neh­men­de Über­set­zung – dank Wald­rops exzel­len­ter Vorlage.

Lieb­lings­stel­le

„Es ist kei­ne hüb­sche Geschich­te. Macht der Fami­lie kei­ne Ehre. Und dass sie in Deutsch­land statt­fand, ist kei­ne Ausrede.“



Pip­pins Toch­ters Taschentuch

Im ame­ri­ka­ni­schen Ori­gi­nal: The Han­ky of Pippin’s Daugh­ter

Suhr­kamp Ver­lag 2021 ⋅ 275 Sei­ten ⋅ 24 Euro

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert