Am 28. Mai werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Das unscheinbare Kitzingen in Unterfranken ist ein ungewöhnlicher Schauplatz für einen Roman. Die Gründungsgeschichte der Stadt basiert auf einem Taschentuch (oder einem Schleier), das Pippins Tochter der Legende zufolge aus einem Schlossfenster fallen ließ. Ein Schäfer namens Kitz fand es in der Nähe vom Main. Die Tochter ließ an dem Fundort ein Kloster errichten und benannte die Stadt nach dem Schäfer – ein Entstehungsmythos, der Rosmarie Waldrops Roman Pippins Tochters Taschentuch wie ein Leitmotiv durchzieht. Die Geschichte reiht sich zu den anderen Mythen dieses Romans, mit denen die Erzählerin Lucy aufgewachsen ist. Retrospektiv schreibt sie über ihre eigenwillige Mutter Frederika und deren turbulenten Ehe mit Josef Seifert. Im Zentrum steht Frederikas Affäre mit einem gewissen Franz Huber, die zwar nicht die Entstehung einer Stadt, aber vielleicht die Existenz ihrer Zwillingsschwestern, Andrea und Doria, zur Folge hatte.
Pippins Tochters Taschentuch erschien bereits 1986, wurde aber mit einem Nachwort von Ben Lerner, einem bekannten amerikanischen Dichter, 2019 neu aufgelegt. Der Roman spielt zur Zeit des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren vor Beginn des Krieges, auch wenn die historischen Entwicklungen im Roman vor allem Hintergrundgeräusche verursachen – im Vordergrund stehen die eigentümlichen Eskapaden der Mutter, eine schillernde, aber frustrierte Persönlichkeit, deren Karriere auf der Bühne erst vom Vater, dann vom Ehemann behindert wird. Brisant wird es, weil Franz Huber, Freund des Vaters und Affäre der Mutter, Jude ist.
Rosmarie Waldrop, hierzulande wenig bekannt und wenig übersetzt, weist als Lyrikerin, Übersetzerin und Verlegerin eine interessante Biographie auf. In Kitzingen geboren und als Musikerin ausgebildet, traf die gebürtige Rosmarie Sebald in den 50er Jahren auf den Amerikaner Keith Waldrop, der dort als Soldat stationiert war. Gemeinsam zogen sie erst nach Frankreich, später in die USA, wo beide eine Universitätskarriere verfolgten und äußerst produktiv Gedichte, Essays und Prosa veröffentlichten. Heute gelten Rosmarie Waldrop und ihr Mann als große Vertreter experimenteller Lyrik in Amerika. Seit den 60er Jahren veröffentlichen sie formsprengende Gedichte, viele davon inspiriert von der französischen Avantgarde, und gründeten den kleinen, unabhängigen Verlag Burning Deck Press, der 65 Jahre lang Gedichte, Prosatexte und Übersetzungen aus dem Deutschen veröffentlichte.
Genauso experimentell wie Waldrops Lyrik ist auch der vorliegende Roman. Waldrops übergeordnetes Interesse gilt der Form. Diese ist mit ihren markanten Zwischenüberschriften und fragmentarischen Strukturen originell, spielerisch und bewusst irritierend. Es gibt zwar eine Geschichte, aber keinen Plot – stattdessen spiegelt die Form den fragmentarischen, unzuverlässigen Prozess des Erinnerns wider. Lucys Briefe an die Schwester, ihre Rekonstruktionen der gescheiterten Ehe, sind scheinbar filterlos, von Zeitsprüngen gezeichnet und zu Teilen eine assoziative Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Figuren sind, auch wenn sie zu Wort kommen, skizzenhaft gezeichnet und blass, wie Erinnerungen eben sind. Eine Gewissheit über das Geschehene gibt es nicht. Vieles wird lediglich angedeutet. Der Roman lässt somit die Fragen, die er aufwirft, unbeantwortet. Dafür kommen Fans gekonnt eingesetzter Rhythmik und pointierter Dichtkunst bei der Lektüre auf ihre Kosten.
Die Jurybegründung
„In Waldrops Roman gehen nicht nur Ehepartner gerne fremd, hier treiben es auch Wörter und Sätze auf ausgelassene und unkonventionelle Weise miteinander. Ann Cotten hat sie so luftig übersetzt, als würde sie die Laken nach einer langen Liebesnacht lachend ausschütteln.“
Die Übersetzung
Rosmarie Waldrop und Ann Cotten haben einige offensichtliche Gemeinsamkeiten: Beide arbeiten als Übersetzerinnen (Waldrop übersetzt aus dem Französischen und Deutschen ins Englische) und Lyrikerinnen. Cotten ist für ihre rhythmischen, nicht weniger experimentellen Gedichte bekannt und übersetzt mit einer gewissen Vorliebe Literatur abseits des Mainstreams. Cotten und Waldrop vereint somit ein Interesse an Sprache und die oft spielerische, unkonventionelle Auseinandersetzung mit Form und Struktur.
Hinzu kommt die gemeinsame Bilingualität: Cotten ist gebürtige Amerikanerin, die als Kind nach Österreich kam. Waldrop ist gebürtige Deutsche, die erst mit Mitte dreißig in die USA übersiedelte. Trotzdem hat die inzwischen 85-jährige Autorin den Großteil ihres Lebens mit dem Englischen verbracht und diese als ihre Arbeitssprache gewählt. Wer ihr Original The Hanky of Pippin’s Daughter liest, könnte auf die Idee kommen, es handle sich dabei um eine Übersetzung ins Englische. Der Roman ist durchzogen von deutschen Phrasen und Wörtern, das Setting und die Handlung selbst verankert in der deutschen Geschichte. Dabei entstehen merkliche Kontraste:
He longs for Germany with its cafés full of hefty consciences calmly consuming their cake mit Schlag (heavy cream, it goes without saying) and doppelte Portion. How he longs for the fleshy Victorian age whose very music moved in heavy, lush, sensuous masses of domestic bliss. Though even there, underneath lurked a lust for the lean, the delicious contrast, the skinny and unsated, the frail modulation, hard and soft blurring in ambiguous tonality.
Wie er sich nach Deutschland sehnt, nach den Cafés voller robuster Gewissen, die seelenruhig ihre Kuchen mit Schlag (heavy cream, was man gar nicht dazuzusagen braucht) in doppelten Portionen verschlingen. Wie er sich nach dem fleischigen wilhelminischen Zeitalter sehnt, dessen Musik sich in schweren, üppigen, sinnlichen Massen häuslichen Glücks bewegte. Doch sogar dort lauerte im Untergrund eine Lust auf das Magere, den köstlichen Kontrast, die dürre, ungesättigte Modulation, wo hart und weich in uneindeutiger Tonart verschwimmen.
Irritierenderweise wurde das englische „heavy cream“ mit in die Übersetzung genommen. Im Original dient dieser Zusatz lediglich als Erklärung der deutschen Phrase „mit Schlag“ – im Deutschen ist dieser Kommentar auf den ersten Blick unnötig und unterbricht den Fluss. Trotzdem ist der Zusatz im Kontext der Handlung plausibel, denn die Erzählerin Lucy ist genau wie die Autorin nach Amerika ausgewandert und schreibt über ihre Vergangenheit in Deutschland. Nicht zuletzt markiert dieser Einschub den Text als Übersetzung – eine sicherlich bewusste Entscheidung der Übersetzerin.
Die zitierte Stelle zeigt auch: Cotten mag als Lyrikerin ein Flair für Sprache haben, aber sie ist keine besonders unkonventionelle Übersetzerin. Ihre Übersetzung hält sich auf semantischer Ebene in der Regel eng an die Vorlage – mit nicht immer treffendem Effekt: Aus „lust of the lean“ wird das schlichte, wörtlich übertragene „Lust auf das Magere”. Die sehr rhythmische Alliteration „consciences calmly consuming their cake“ imitiert Cotten im Deutschen nicht, sondern hangelt sich an der Bedeutung entlang. Lediglich die Übersetzung von „calm consciousness“ irritiert: Denn was sind „robuste Gewissen“ und warum wurde es hier anstelle von einer klanglicheren Bedeutung von „calm“ gewählt? Cotten baut solche Spielereien oft nur dort ein, wo es sich im Deutschen offensichtlicher anbietet. „Delicious contrast“ wird in diesem Zitat beispielsweise als „köstlicher Kontrast“ übertragen, aber hier entsteht die Alliteration aufgrund der wörtlichen Übertragung automatisch. Ein weiteres Beispiel:
I sometimes suspect you of it, Andrea. Sometimes I think the parents are a pretext. […] The way you wanted to know the exact details of my spankings when we were little. You are hurting and want to see me hurting too. You want us stumbling at one another on a bleak little island, wrecked, both of us, in the intimacy and isolation of pain.
Dich habe ich manchmal im Verdacht, Andrea. Manchmal denke ich, dass die Eltern ein Vorwand sind. […] Dir tut etwas weh, und du willst, dass ich auch Schmerzen habe. Du willst, dass wir auf einer trostlosen Insel aufeinander zu stolpern, jeweils gestrandet in der isolierten Intimität des Schmerzes.
Die deutsche Übersetzung beginnt mit dem „Dich“ statt mit dem „I“. Es erfolgt somit eine ganz gezielte Loslösung vom Original, fast schon minimal, aber mit vorteilhafter Wirkung. Der Verdrehung der Pronomen verstärkt die Anrede und verleiht dem geäußerten Verdacht mehr Intensität. Stimmig ist auch die Zusammenführung von „intimacy“ and „isolation“, die zwar geringfügige Auswirkungen auf die Bedeutung hat, aber die klangliche Nähe noch stärker betont und den deutschen Satz nicht unnötig verlängert. Cottens Übersetzung hat somit eine gewisse Unabhängigkeit. Sie bewegt sich aber tendenziell nur dann vom Original weg, wenn es unbedingt sein muss. Das kann durchaus eine Übersetzungsstrategie sein, sie funktioniert jedoch nicht immer.
Sie funktioniert vor allem dann nicht, wenn die Sätze etwas länger werden. Zum Beispiel hier:
It would take Schubert’s inventiveness to turn this condition into advantage. He felt his way across the new terrain which remained unfamiliar because he did not mean to get used to it, to let it be unnoticed like the color of walls or an inner hum.
Es hätte der Erfindungskraft Schuberts bedurft, um diesen Zustand zum Guten zu wenden. Er tastete sich über das neue Terrain, das unvertraut blieb, weil er nicht vorhatte, sich daran zu gewöhnen, es unbemerkt zu lassen wie die Farbe der Wände oder ein inneres Summen.
Waldrop hat den zweiten Satz dieses Zitats vollkommen unter Kontrolle. Sie gliedert ihn nicht nur durch das Komma, das zum Innehalten einlädt, sondern auch durch die rhythmische Wiederholung von „to it“, die zum Ende des langen Satzes überleitet. Im Vergleich dazu lässt Cottens Übersetzung mit all ihren Einschüben eine genauere Struktur vermissen, was das Verständnis dieses anspruchsvollen Textes nicht unbedingt erleichtert. Leider handelt es sich bei diesem Satz nicht um einen Einzelfall. An anderer Stelle wird beispielsweise „[He found] only the latter which, luckily, was the one he knew how to battle“ in das umständliche „[Er fand] nur Letztere, was, zum Glück, das war, das er bekämpfen konnte“ übertragen.
Die zitierten Stellen geben lediglich einen kleinen Einblick in die Waldrop’sche Sprachgewalt, mit der es Cotten hier zu tun hatte. Bei schreibenden Übersetzer:innen kommt häufig der Verdacht auf, dass sie sich in ihren Übersetzungen besonders hervortun und ihren eigenen Schreibstil in den Text einfließen lassen, um ihm so eine eigene Note zu verleihen. Cotten aber übersetzt fast schon zurückhaltend. Als Übersetzerin orientiert sie sich eng am Text und steht ganz im Dienste der Autorin. Das Resultat ist eine nicht durchgängig überzeugende, aber insgesamt dennoch einnehmende Übersetzung – dank Waldrops exzellenter Vorlage.
Lieblingsstelle
„Es ist keine hübsche Geschichte. Macht der Familie keine Ehre. Und dass sie in Deutschland stattfand, ist keine Ausrede.“