Als Herausgeberinnen des Online-Magazins poco.lit. veröffentlichen wir regelmäßig Artikel zum Thema postkoloniale Literatur. Wir lesen Bücher auf Englisch und Deutsch im Original oder übersetzt und als bilinguale Plattform veröffentlichen wir alle Rezensionen, Essays oder Kommentare zu diesen Büchern ebenfalls in beiden Sprachen. Als wir Valeria Luisellis Roman Lost Children Archive lasen, waren wir begeistert von der Art und Weise, wie die Autorin sich sensiblen Archiven nähert. Im Roman arbeitet einer der Protagonist:innen an einem Klangarchiv, in dem er versucht, die Geister der letzten Chiricahua-Apach:innen festzuhalten. Ihn interessieren besonders Cochise, Geronimo und Chiricahua. Diese drei stellen die letzten moralischen und politischen Führungspersonen der letzten freien Völker auf dem amerikanischen Kontinent dar, bevor koloniale Siedlungsbestrebungen alles vereinnahmten.
Da unsere Rezensionen auf Englisch und Deutsch erscheinen, werfen wir immer einen Blick in die Übersetzungen der Bücher, sofern denn welche existieren. Im Kunstmann Verlag erschien 2019 Brigitte Jakobeits deutsche Übersetzung von Luisellis Roman und wir gestehen, dass uns einige der Übersetzungsentscheidungen in Das Archiv der verlorenen Kinder überraschten.
Then, maps of Apache territory and images of chiefs and warriors started filling the walls around his desk.
Dann hingen plötzlich Landkarten von indianischem Territorium und Bilder von Häuptlingen und Kriegern um seinen Schreibtisch.
Es wunderte uns sehr, dass aus dem spezifischen Territorium der Apach:innen in der Übersetzung ein verallgemeinerndes indianisches Territorium wurde. Tatsächlich ist es so, dass diese Entscheidung die rücksichtsvolle Art, mit der Luiselli ihren Roman über sensible Archive konstruiert hat, untergräbt.
I‑Wort – von spezifischen Gruppen zu verallgemeinernden Überbegriffen
Der Begriff „Indianer“, den wir hier ausnahmsweise einmal zu Verständniszwecken ausschreiben, wird in Deutschland in bestimmten Kreisen mittlerweile wie das N‑Wort gehandhabt und als I‑Wort bezeichnet. Dieses Wort wurde von kolonialen europäischen Gesellschaften zur Abgrenzung ihrer eigenen Gruppe von der Gruppe derer entwickelt, deren Land sie in Besitz nehmen wollten. Es fasst willkürlich verschiedenste geografisch und kulturell diverse Gesellschaften zusammen, von denen Apach:innen nur eine sind.
Doch es gehört in Deutschland noch lange nicht zum Allgemeinwissen, dass das vollständig ausgeschriebene I‑Wort eine unsensible Bezeichnung ist, denn die Figur essenzialisierter, monolithischer Indigener erfreut sich schon seit langem großer Beliebtheit. In Deutschland herrschen idealisierte Vorstellungen vom Leben indigener Kulturen vor, die in Romanen und Filmen festgehalten oder sogar nachgespielt werden. Schon Karl Mays viel gelesene und verfilmte Abenteuergeschichten – er spielt in einer ähnlichen Liga wie Joanne K. Rowling mit Harry Potter – zeigen die große Vorliebe für „edle Wilde“, die den Traum von der Freiheit verkörpern. Karl May war, während er über Winnetou und Old Shatterhand schrieb, noch nie an einem der Schauplätze gewesen und dennoch trug er maßgeblich zum deutschen Verständnis nordamerikanischer Indigener bei. So gibt es heute noch sogenannte deutsche „Wochenend-Indianer“ oder „Freizeit-Indianer“, die – teilweise in Vereinen organisiert – verkleidet in Wäldern, an Flüssen und Seen ein Aussteigerleben zelebrieren. Dabei erinnern die Inszenierungen eher an Karl May als an tatsächliche Alltagsrealitäten auf dem amerikanischen Kontinent. Fiktionale Ideen werden durch derartige Praxen auf den Stand der Wahrheit erhoben und überdecken mehrdimensionalere Repräsentationen indigener Völker. Deshalb hätten wir uns für die Übersetzung von Luisellis Roman gewünscht, dass sie spezifisch bleibt – wie der Ausgangstext.
Diese Schwierigkeiten, die das Übersetzen von politisch sensiblen Texten mit sich bringt, fällt uns bei der Arbeit für poco.lit. immer wieder auf. Es handelt sich um konkrete Übersetzungsbeispiele, die einiges darüber verraten, wie der aktuelle Stand der Diskurse über Zugehörigkeit, Race, Geschlecht, Sexualität usw. ist, und bei genauem Hinschauen auch, wie unterschiedlich diese Diskurse in verschiedenen Ländern geführt werden.
Race – von Biologie zu sozialer Konstruktion
In Deutschland gewinnen in letzter Zeit die Debatten über den Begriff Rasse an Sichtbarkeit, nicht zuletzt in der Diskussion über die Streichung des Begriffs aus dem Grundgesetz. So überrascht es nicht, dass Reni Eddo-Lodges hochgelobtes Buch Why I’m No Longer Talking to White People About Race, das 2019 in der deutschen Übersetzung von Anette Grube als Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche erschien, schnell zu einem Bestseller wurde. Vielleicht gab es Leser:innen, die erleichtert waren, dass in der Übersetzung dieses rassismuskritischen Textes das Race im Titel nicht mit Rasse übersetzt wurde, denn im deutschsprachigen Diskurs entspringt das Konzept von Rasse einer Geschichte des „wissenschaftlichen“ Rassismus. Während der deutschen Kolonialbestrebungen und des Nationalsozialismus versuchten Wissenschaftler wiederholt Rasse als legitime, wissenschaftliche Kategorie zur Unterscheidung von Menschen zu verankern. Konkret bedeutet das, dass sie Körperteile und Knochen vermaßen, um die Existenz von verschiedenen biologischen Menschenrassen – die es selbstverständlich nicht gibt – zu beweisen. Ziel war es, zu rechtfertigen, dass weiße Menschen Schwarze Menschen und Menschen of Color ausbeuten oder sogar umbringen konnten. Dieser pseudowissenschaftliche Rassismus gilt mittlerweile als entlarvt. Heute in Bezug auf Menschen von Rasse zu sprechen, löst bei vielen in Deutschland regelrechtes Unbehagen aus. Doch Race mit Hautfarbe zu übersetzen, wie im Fall von Reni Eddo-Lodges Buch, bringt ähnliche Probleme mit sich.
Der englische Begriff Race war zwar in der anglophonen Welt ebenfalls während der Kolonialgeschichte eng mit einem scientific racism verbunden, er ist aber inzwischen Teil eines rassismuskritischen Diskurses geworden, der rassifizierte Zuschreibungen als soziale Konstruktion anerkennt. Das englische Race hat sich also von den biologischen Assoziationen, die an den Begriffen Rasse oder Hautfarbe haften, entfernt. Wie Race als selbstkritisches Konzept fungiert, zeigt sich beispielhaft in Fatima El-Tayebs Buch Anders Europäisch: Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa. El-Tayeb hat das Buch auf Englisch geschrieben und in Zusammenarbeit mit Jennifer Sophia Theodor selbst ins Deutsche übersetzt. Sie beschreibt im Englischen ein europäisches Narrativ von „racelessness“, das Europa für eine Selbstdarstellung nutzt, die ein Bild des Kontinents als einen Ort ohne Race-Problem und damit ohne Rassismus erschafft. Das folgende Übersetzungsbeispiel verdeutlicht die Verschiedenheit der Race-Diskurse im anglophonen und deutschen Sprachraum:
This is how racelessness produces haunting. (European Others: Queering Ethnicity in Postnational Europe 6)
So produziert die Vorstellung von ‚Rassenlosigkeit‘ bzw. Rassismuslosigkeit eine Heimsuchung. (78)
Dass das englische racelessness in der deutschen Ausgabe mit „Rassenlosigkeit” bzw. „Rassismuslosigkeit” übersetzt wurde, zeigt, dass das, was im Englischen schon als rassismuskritisches Konzept fungiert, im Deutschen explizit als solches erklärt werden muss. In Deutschland gab es keinen diskursiven Racial Turn und das Übersetzungsproblem zieht sich in Bezug auf einen großen Teil des Vokabulars rund um Race durch. Brit Bennetts Roman The Vanishing Half, aus dem Englischen übersetzt von Isabel Bogdan und Robin Detje, beschäftigt sich beispielsweise mit der lightness einiger zentraler Charaktere. In der 2020 erschienenen deutschen Übersetzung Die verschwindende Hälfte wird dies mit Hellhäutigkeit übersetzt. Wie bei dem Begriff Race entsteht mit der Übersetzung eine biologische Bedeutung, die es im Original so nicht gibt.
Im Falle von Race wird immer häufiger die Entscheidung getroffen, den englischen Begriff beizubehalten – wie wir es in diesem Artikel tun. Es ist sicherlich noch keine perfekte Lösung, aber sie reproduziert immerhin die biologischen Konnotationen anderer gängiger Vorschläge nicht. Für lightness scheint es aktuell noch keine bessere Lösung zu geben – würde es mit Leichtigkeit übersetzt, würde niemand verstehen, worum es geht. Eine lösungsorientierte Herangehensweise bedeutet zunächst eine Abwägung von Prioritäten, bis sich neue kreative Lösungen finden und relevante Diskurse weiterentwickelt haben. Für eine gelungene Abwägung ist es natürlich wichtig, dass Übersetzende die politisch sensiblen Dimension bestimmter Begriffe im Blick haben. Diese Arbeit ist selbst politisch, da es fast immer mehrere Übersetzungsoptionen gibt – entsprechend drückt es auch eine Haltung aus, sich nicht mit den Optionen zu beschäftigen.
Gendern – von politischen und ästhetischen Entscheidungen
Die Rezensionen und Essays, die wir auf poco.lit. veröffentlichen, handeln inhaltlich oft von Kolonialismus und Rassismus. Das Ziel unseres Online-Magazins ist es, auf Diskriminierungsformen aufmerksam zu machen und dies möglichst diskriminierungsfrei zu tun. Wenn wir Texte auf Deutsch schreiben oder englische Texte ins Deutsche übersetzen, stellt sich natürlich die Frage des Genderns. Als grammatikalisch geschlechtsspezifische Sprache macht es das Deutsche einem nicht leicht, sich konsequent geschlechtergerecht auszudrücken. Übersetzer:innen werden immer wieder vor die Entscheidung gestellt, ob sie Substantive ins generische Maskulinum, genderinklusiv oder genderfrei übersetzen: Wird aus „Dear Reader“ „Lieber Leser“, „Liebe Leser:innen“, „Liebe Lesende“?
Bei Romanen wird es inhaltlich selbstverständlich weitaus komplexer: Wir hatten im April 2021 die Gelegenheit mit Annabel Assaf genau darüber in Bezug auf ihre Übersetzung von Akwaeke Emezis Roman Der Tod des Vivek Oji zu sprechen. Der Tod des Vivek Oji ist ein Roman, in dem es bewusst um die Infragestellung von präskriptiven Geschlechterrollen geht. Eine Pronomenverschiebung in einer Szene gegen Ende des Romans ist von zentraler Bedeutung: ein he ändert sich zu einem she. Die betreffende Figur wird als my cousin bezeichnet, aber die Geschlechtsneutralität dieses Begriffs ist in der deutschen Übersetzung nicht aufrechtzuerhalten, so dass Assaf sich zwischen Cousine und Cousin entscheiden musste. Als die Erzählstimme einmal she verwendet, entscheidet sich Assaf fortan für Cousine. Doch der Pronomenwechsel ist in der deutschen Übersetzung um einiges auffälliger geworden als im Ausgangstext. Assaf tauschte sich über den sprachlichen Umgang mit Transidentitäten in ihrer Übersetzungscommunity aus und wägte die verschiedenen Meinungen mit ihrer eigenen ab. Sie entschied sich, dass sie keine Diskurse in das Buch hineinschreiben wollte, die dort nicht schon vorhanden waren. Mirjam Nuenning, die Übersetzerin des 2016 im w_orte und meer Verlag erschienenen Romans Kindred – Verbunden von Octavia Butler, wählte eine ähnliche Herangehensweise. Nuenning entschied sich dagegen, das Wort Sklave genderinklusiv zu formulieren, weil sie den im Roman dargestellten weißen Menschen, die dieses Wort benutzen, keine Sensibilität für Gendervielfalt andichten wollte.
Übersetzen ist eine komplizierte Arbeit und Literaturübersetzer:innen beschäftigen sich nicht nur mit den politischen Nuancen der Texte, die sie übersetzen, sondern auch mit der Ästhetik. Assaf hätte beispielsweise überlegen können, in dem Roman durchweg mein:e Cousin:e zu schreiben. Aber abgesehen davon, dass diese Entscheidung inhaltlich zu viel vorweggenommen hätte, hätte es den Text verlängert, sperrig und schwerfällig gemacht. Ob sich Übersetzer:innen für das generische Maskulinum, genderfreie oder genderinklusive Varianten entscheiden, hängt von vielen inhaltlichen, politischen und ästhetischen Faktoren ab. Eins ist klar: Übersetzer:innen machen sich in jedem Fall angreifbar. Dennoch müssen sie ihre Übersetzungen irgendwann abgeben, auch wenn sie über bestimmte Begriffe und Ausdrücke noch lange nachdenken könnten. So besteht die Notwendigkeit für pragmatische Entscheidungen für die Veröffentlichung. Assaf erklärte uns aber, dass sie auch nach Erscheinen ihrer Übersetzung noch offen für Feedback ist und dass – in besonders dringenden Fällen – die Option existiert, weitere Auflagen der übersetzten Bücher anzupassen. Zusätzlich führen Diskursverschiebungen und sprachliche Weiterentwicklungen hin und wieder dazu, dass Neuübersetzungen in Erwägung gezogen werden sollten – für Octavia Butlers Kindred erschien vor Mirjam Nuennings Übersetzung bereits 1983 eine von Peter Rummel mit dem Titel Vom gleichen Blut bei Bastei Lübbe.
macht.sprache. – von Austausch und gegenseitiger Unterstützung
Bei unserer Arbeit für poco.lit. merken wir immer wieder, dass uns der Austausch untereinander hilft, Übersetzungsentscheidungen zu treffen. Außerdem entwickeln wir uns weiter: Zu Beginn haben wir auf der Plattform mit Sternchen gegendert, mittlerweile nutzen wir den Doppelpunkt, da wir gelernt haben, dass dieser von Screenreadern besser vorgelesen werden kann. Wir streben danach politische Sensibilität in unsere Übersetzungsarbeit und Redaktion zu integrieren und dabei Schritt für Schritt intersektionaler zu werden.
Da wir von dem Austausch untereinander profitieren, haben wir beschlossen, unsere Diskussionen weiter zu öffnen. Seit Anfang 2021 führen wir das Projekt macht.sprache. durch, das vom Berliner Senat gefördert wird. macht.sprache. wird eine App entwickeln, um politisch sensibles Übersetzen zwischen den Sprachen Englisch und Deutsch zu fördern. Die Umsetzung geschieht in drei Phasen: 1. Sammeln und Diskutieren von Begriffen und Übersetzungsbeispielen. 2. Öffentliche Veranstaltungen mit Expert:innen. 3. Entwicklung einer Open Source Übersetzungshilfe.
In der ersten Phase, die gerade stattfindet, sind Interessierte eingeladen, sich auf der Plattform machtsprache.de zu beteiligen: Gute und schlechte Übersetzungsbeispiele sensibler Begriffe aus Büchern, Filmen, Theatertexten, etc. werden gesammelt, sortiert, diskutiert und bewertet. Interessierte können sich auf macht.sprache. anmelden, ihr Wissen einbringen und Neues lernen. Die zweite Phase – die sich zeitlich teilweise mit der ersten überschneidet – beinhaltet Diskussionsformate in Form von öffentlichen Online-Events mit Sprecher:innen, deren Expertise und Praxiserfahrungen die Diskussion bereichern und vertiefen. Bei unserem ersten Event durften wir bereits mit Mirjam Nuenning und der Berliner Keynote-Rednerin Dr. Michaela Dudley, einer mehrsprachigen Journalistin und Juristin mit afroamerikanischen Wurzeln, über politisch sensibles Übersetzen sprechen.
Unsere nächste Veranstaltung findet am 4. Juni als Teil des Festivals Offenes Neukölln und in Kooperation mit dem Projekt Artificially Correct des Goethe-Instituts statt. Die eingeladenen Sprecher:innen sind Lann Hornscheidt und Şeyda Kurt. Lann Hornscheidt handelt sprachaktivistisch und diskriminierungskritisch – im Unterrichten und bei Vorträgen, im Texten und Lektorieren, in der Verlagsarbeit und im immer wieder neu Formulieren. Şeyda Kurt ist freie Journalistin, Moderatorin und Autorin, die außerdem Workshops zu diskriminierungssensiblem Sprechen anbietet. Von Diskriminierung Betroffene, Übersetzer:innen, Kulturschaffende, Expert:innen und an Sprachinteressierte beteiligen sich. Das kollektive Wissen fließt in ein kuratiertes Übersetzungstool ein, das im November 2021 fertig werden soll. Textausschnitte können in die Übersetzungshilfe kopiert werden, es findet potentiell sensible Begriffe und zeigt Übersetzungsoptionen und Erläuterungen an. Es wird als frei zugängliche Wissensquelle dienen, aber den Nutzer:innen die Übersetzungsentscheidung selbst überlassen. Da es ein Open Source Tool wird, hoffen wir, dass auch andere die Idee nutzen und weiterentwickeln.
Wir laden euch herzlich ein, auf macht.sprache. mitzudiskutieren und unser nächstes Event auf Zoom zu besuchen.
VERANSTALTUNG
macht.sprache. & Artificially Correct:
Diskussion mit Lann Hornscheidt und Şeyda Kurt
04.06.2021 um 19:30 CET via ZOOM
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