Hebräisch in Bewegung zwischen Europa und Erez Israel
Drei typische Einzelfälle: Shoham, Lensky, Elischeva
Wer sich mit den Anfängen moderner hebräischer Literatur Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts befasst, widmet sich einer Minorität von Autorinnen und Autoren, die durch ihr individuelles Schaffen und kulturelles Engagement das Wiedererstehen der hebräischen Sprache möglich gemacht haben. Diese „Mentalität des Randes“, also das Bewusstsein, in einer „kleinen Sprache“ (mit „großer Bedeutung“ – schließlich ist einer der wirkmächtigsten Welttexte überhaupt, der Hauptteil der Bibel, in Hebräisch verfasst) bleibt auch in der Gegenwart spürbar: Hebräisch Schreibende wirken inmitten eines Reigens geradezu übermächtiger anderer Sprachen wie etwa Englisch, Russisch, Deutsch, Französisch oder Arabisch. Die Zerstreuung hebräischer Kulturzentren über die verschiedenen Länder Europas und der arabischen Welt begann mit der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. durch die Römer (eine grafische Darstellung dieser „Distribution of Hebrew Poetry“ findet man in dem Standwerk Hebrew Verse, Penguin Books 1981, einer von dem israelischen Dichter T. Carmi herausgegebenen Anthologie hebräischer Dichtung von der Bibel bis in die Moderne). Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Hebräische im Zuge des Zionismus, der einen jüdischen Staat in Palästina mit Jerusalem als Hauptstadt anstrebte, zu einer Nationalsprache, die in allen gesellschaftlichen Bereichen regiert und nicht allein dem religiösen Leben vorbehalten bleibt.
Die ersten hebräischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller stammen überwiegend aus Osteuropa; der Anteil bedeutender Frauen ist hier übrigens vergleichsweise groß. Drei Persönlichkeiten möchte ich hier skizzieren, weil sie beispielhaft für viele andere Lebensläufe der frühen hebräischen Literatur stehen. Matitjahu Shoham etwa (Warschau, 1893–1937) gehörte einem hebräisch schreibenden Zirkel in Warschau an; von einer Sehnsucht nach dem Nahen Osten erfüllt, siedelte er 1930 tatsächlich nach Palästina über. Aus verschiedenen Gründen jedoch konnte er sich gesellschaftlich im Land nicht integrieren und kehrte bereits anderthalb Jahre später desillusioniert nach Warschau zurück. In seiner Palästina-Zeit vollendete Shoham sein berühmtestes, biblisches Theaterstück Zor wi-Jeruschalajim (Tyros und Jerusalem), in dem sich Götzendienst und der Glaube an den einen Gott JHWH, verkörpert von Königin Isebel und dem Propheten Elia, gegenüberstehen. Das vom Nationaldichter Chaim Nachman Bialik gelobte Stück wurde 1933 mit dem Israel-Preis ausgezeichnet. 2003 brachte der Regisseur Yossi Yisraeli den bearbeiteten Text im Beit Lessin Theater in Tel Aviv als musikalisches Theaterstück auf die Bühne.
Von dem Dichter und Übersetzer Chaim Lensky (1905, Slonim-1943, Sowjetisches Arbeitslager) erschien erst 2006 im Verlag Mosad Bialik in Jerusalem eine Ausgabe seiner gesammelten Gedichte (hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Vered Ariel-Nahari). Angesichts dieser Fülle an hebräischen Gedichten zieht sich einem das Herz zusammen: Es sind zum Großteil lyrische, durch Reim und Metrik gebundene Verse, die zugleich aus der Kenntnis der europäischen Literaturen wie auch aus dem Reservoir der biblischen und nachbiblischen Dichtung schöpfen. Unter vielen Texten sind Datum und Ort ihres Entstehens notiert: 1933, Leningrad, Sibirien. Und das ist eben das Wunder: dass diese hebräischen Verse fern von Palästina, lange vor der Gründung des Staates Israel geschrieben wurden. Lensky lebte seit 1925 in Leningrad. 1934 wurde er für fünf Jahre inhaftiert und musste „for the crime of writing in Hebrew“1 Zwangsarbeit verrichten, später kam er in ein sibirisches Arbeitslager. Mit dem Jahr 1942 verliert sich seine Spur; er starb offensichtlich in einem Arbeitslager in Kansk.
Elischeva Bichovsky (1888, Ryazan-1949, Tiberias) ist als nichtjüdische Schriftstellerin in hebräischer Sprache eine seltene Ausnahme; sie schrieb vor allem Gedichte, aber auch einen Roman, Essays sowie Literaturkritiken und übersetzte aus dem Russischen. 1920 heiratete sie ihren ersten Hebräischlehrer, den zionistischen Aktivisten Simeon Bichovsky. Im Winter des Jahres 1925 emigrierte das Paar mit der 1924 geborenen Tochter Miriam nach Palästina und ließ sich in Tel Aviv nieder. Kos ketana (Eine kleine Tasse, 1926) und Simtaot (Gassen, 1929) war der erste Lyrikband bzw. der erste Roman aus Frauenhand, der in Palästina erschien. Beim Blättern und Lesen in Kos ketana ist es ähnlich wie bei Lensky: Das Herz zieht sich zusammen vor Glück und Staunen darüber, dass diese hebräischen Verse in der Welt sind (die überwiegend noch in Moskau entstanden). Weil sie so gefährdet waren; und weil es zu dieser Zeit nicht bücherkistenweise davon gab, sondern geradezu zählbare „Einzelfälle“ verschiedener Autorinnen und Autoren, die oftmals aus scheinbar unverständlichen Gründen darauf beharrten, fortan nur noch auf Hebräisch zu schreiben.
Hebräisches Schreiben in Deutschland einst und jetzt
In Lea Goldbergs posthum veröffentlichten Roman Verluste – Antonia gewidmet (Arco 2016, in meiner Übersetzung) streitet sich der Protagonist Jehuda Elchanan Kron mit seiner Schwester Nina über die Renaissance der hebräischen Sprache. Kron lebt in den 30er Jahren als hebräischer Dichter in Berlin, Nina ist zu Besuch aus Moskau:
»Du schreibst also immer noch Gedichte, Nan?«, wollte die Schwester schließlich wissen.
»Der Kern meiner Arbeit.«
»Und die ernährt dich anständig und ausreichend?«
»Ja.« (In solchen Fällen lügt man besser!)
»Und das lesen auch viele? Ich meine, in dieser Sprache?«
»Ja, natürlich.«
»Komisch!« sagte sie und brummelte vor sich hin: »›Bereschit bara‹, nein, bei meiner Seele! Ich kann mir nicht vorstellen, wie man in dieser verqueren Übersetzung schreiben kann? Ist doch tot diese Sprache, Nan? Sehr verquer! Wie soll man bitte in dieser Sprache was fühlen! Die wickelt mich nie um den Finger!«
»Ich kann jetzt nicht mehr auf Russisch fühlen, Nina« (Verluste, S.146).
Ja, es hatte etwas Revolutionäres und Widerspenstiges, als sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Fundamenten einer jahrtausendealten Sprache eine neue hebräische Literatur formierte – in europäischen Metropolen wie Moskau, Warschau, London, Paris und allen voran Berlin. Die gegenwärtige hebräische Literaturszene Berlins kann auf eine ehrwürdige Tradition zurückschauen: Neben Lea Goldberg lebten und arbeiteten eine Zeitlang auch literarische Größen wie etwa Saul Tschernichowski, Uri Zvi Grinberg und Samuel Agnon in der deutschen Hauptstadt. Tschernichowski ist übrigens einer der wenigen Dichter der frühen hebräischen Literatur, der nun auch auf Deutsch zu lesen ist (in der Übersetzung von Jörg Schulte: Dein Glanz nahm mir die Worte, Berlin: Edition Rugerup 2020). Als Ende November 2020 im Literarischen Colloquium Berlin virtuell das Parataxe Symposium VII. Nahost Berlin. Die literarische Middle East Union stattfand, bündelte Tal Hever Chybowski diese Tradition des diasporischen Hebräisch in Berlin in seiner Nahostberlin Keynote.
Im Folgenden möchte ich zumindest einige Namen und Initiativen nennen, welche die gegenwärtige hebräische Szene Berlins maßgeblich gestalten. Mati Shemoelof und Hila Amit, die gemeinsam das eben erwähnte NahostBerlin-Symposium kuratiert haben, setzen sich, seit sie in Berlin leben, verstärkt mit ihrer mizrachischen Identität, ihren Wurzeln in arabischsprachigen Ländern des Nahen Ostens auseinander. Mati Shemoelofs Familie stammt aus Bagdad, er bezeichnet sich selbst als arabisch-jüdischen Dichter. Die Geschichte seiner Migration erzählt er in seinem Gedichtband Bagdad Haifa Berlin (in der Übersetzung von Jan Kühne, Berlin: Aphorisma 2019). Anfang des Jahres 2021 erschien Hapras (Der Preis), sein erster Roman über einen israelischen Schriftsteller mit arabischen Wurzeln in Berlin. Hila Amit widmet sich in ihrem Debüt Meoschri wahal’a (Moving on from Bliss, 2016) mit Kurzgeschichten darüber hinaus Genderfragen und queeren Lebensentwürfen; 2018 kam in englischer Sprache die Studie A Queer Way Out – The Politics of Queer Emigration from Israel heraus. Als ausgebildete Hebräisch-Lehrerin hat sie außerdem ein neuartiges Lehrbuch entwickelt, Hebräisch für alle. Von der Sprache zur Vielfalt, das erstmals unterschiedliche Geschlechteridentitäten und Konstellationen des Zusammenlebens porträtiert. Gemeinsam mit Mati Shemoelof ist sie Initiatorin und Mitglied von Anu. Jews and Arabs writing in Berlin; Mati Shemoelof hat zudem die Gruppe Poetic Hafla begründet, die Literaturveranstaltungen und Performances organisiert; auch hier ist das Ziel, israelisch-jüdisch-arabisch-palästinensisch-deutschen Begegnungen einen Rahmen zu geben.
Tal Hever-Chybowski lebt zwischen Paris und Berlin; er ist Direktor des Maison de la culture yiddish und bietet mit Yiddish in Berlin Sprachkurse an. Daneben ist er Herausgeber der ersten modernen Literaturzeitschrift für diasporisches Hebräisch Mikan we’eilach, in der Essays, Prosa und Poesie hebräisch schreibender Autorinnen und Autoren erscheinen, die nicht in Israel leben. Eine weitere wichtige Institution für Veranstaltungen rund um hebräische Literatur und Kultur ist die von der Autorin und Künstlerin Michal Zamir geführte Hasifriya Berlin (Hebräische Bücherei Berlin), eine Kombination aus literarischem Salon in Berlin-Wilmersdorf und wachsender Bibliothek für in Berlin lebende Israelis. Auf der Seite der Hebräischen Bücherei gibt es mit dem Online-Magazin für Prosa und Lyrik (Magasin mekuwan lesifrut uleschira) auch ein wachsendes Textarchiv.
Tatsächlich leben einige namhafte israelische Autorinnen und Autoren vorübergehend oder dauerhaft in Berlin. Einige schreiben ausschließlich auf Hebräisch, andere daneben oder sogar hauptsächlich auch auf Deutsch oder Englisch. Der Wunsch, übersetzt zu werden, erscheint mir bei Autorinnen und Autoren, die „im selbst gewählten Exil“ weiterhin in ihrer Muttersprache schreiben, oftmals noch größer. Denn Übersetzung ist die Voraussetzung, um in zwei Ländern und zwei Literaturbetrieben gleichzeitig agieren zu können. Hebräische Bücher erscheinen ja weiterhin zunächst in Israel (zumindest bis jetzt – denn Pläne, ein oder vielleicht sogar gleich mehrere hebräische Verlagshäuser in Berlin zu gründen, liegen durchaus in der Luft). Deshalb haben Online-Stores für hebräische E‑Books wie E‑vrit eine große Bedeutung.
Der wohl bekannteste israelische Autor in Berlin ist derzeit Tomer Gardi. Mit dem Roman Broken German (Graz: Droschl 2016) nahm er 2016 am Ingeborg-Bachmann-Preis teil. Seinen zweiten Roman Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück (in der Übersetzung von Anne Birkenhauer, 2019) schrieb er wiederum auf Hebräisch. Ebenfalls zu den bereits ins Deutsche übersetzten Autoren zählt Ron Segal; sein erster Roman Jeder Tag wie heute erschien 2014 bei Wallstein (in der Übersetzung von Ruth Achlama); im April 2021 folgte bei Secession Katzenmusik (in der Übersetzung von Markus Lemke). Darüber hinaus gibt es weitere aufregende, bisher nicht übersetzte hebräische Prosa in Berlin zu entdecken: So hat Yael Dean Ben-Ivri mit Gilad (2019) eine packende Novelle geschrieben, in der eine schwangere Frau nach dem Unfalltod ihres Freundes die gemeinsame Tochter zunächst als Jungen großzieht. Dieser Schicksalsschlag zwingt sie, sich erneut mit der Geschichte ihres eigenen Vaters zu konfrontieren, der die Mutter bei ihrer Geburt verließ. Oder Amir Naaman, der mit Jonkei hadvasch (The Hummingbirds) (2020) das Genre der Gothic Novel ins Hebräische einführt; Protagonist dieses schlanken Romans mit erotischen, horrorhaften Elementen ist ein in Berlin lebender Israeli, schwuler Sexarbeiter und leidenschaftlicher Leser. Heimgesucht vom Schatten einer innigen Dreierfreundschaft gelangt er schließlich zum Haus jener rätselhaften hebräischen Schriftstellerin in London, die damals die Fantasie der Jungen befeuerte. Demnächst erscheint ein Auszug aus dem Roman in meiner Übersetzung im Rahmen des Projekts texthelden – Berlin setzt über im stadtsprachen magazin.
Tomer Dotan-Dreyfus wechselt als Autor zwischen Hebräisch und Deutsch; derzeit arbeitet er an seinem ersten Roman in deutscher Sprache, Birobidschan, der sich mit dem gescheiterten Experiment einer jüdischen Siedlung im russischen Fernen Osten auseinandersetzt und sich dabei in die Tradition des magischen Realismus stellt. Mit diesem Roman wird er Deutschland 2022 bei der London Jewish Book Week vertreten. Seit längerer Zeit lebt außerdem der Dichter, Übersetzer und Herausgeber Dory Manor in Berlin, einer der einflussreichsten Akteure der israelischen Lyrikszene. Zwischen 1996 bis 2006 war Paris seine Wahlheimat. Von dort aus rief er mit Ho! eine der wichtigsten israelischen Literaturzeitschriften ins Leben. In Paris lernte er seinen Partner Moshe Sakal kennen, einen preisgekrönten hebräischen Romancier, der nun seit über einem Jahr ebenfalls in Berlin schreibt.
Natürlich gehören auch Dramatikerinnen und Dramatiker zur Literaturszene. Liat Fassberg etwa schreibt zwar hauptsächlich auf Deutsch, ist aber auch weiterhin mit der hebräischsprachigen Theaterszene verwoben. Sie ist eine Kollegin aus dem „Hebräischen Komitee“ von EURODRAM – European network for drama in translation, arbeitet als Dramaturgin und Dramatikerin an Projekten in Deutschland und Israel und ist außerdem Mitglied der Pathos Mathos Company in Tel Aviv. 2017 gewann sie mit ihrem Stück Etwas kommt mir bekannt vor den Retzhofer Dramapreis sowie 2020 den Gargonza Arts Award in der Kategorie Literatur.
Wo ein Zentrum ist, ist auch ein Rand. Und auch dieser entfaltet seine eigene Produktivität und kultiviert kreative Wege, um mit der hebräischen Sprache und ihrer Literaturszene, sowohl in Israel als auch in der Diaspora, Kontakt zu halten. Auf drei Autorinnen, die ebenfalls auf Hebräisch schreiben und publizieren, möchte ich darum an dieser Stelle verweisen: Tali Okavi in Kiel, Loulou Omer in Wien und ich in Köln. Tali Okavi ist zugleich Lyrikerin und Prosaautorin; zuletzt hat sie die Novelle Rezuot (Streifen, 2017) sowie die Kurzgeschichten-Sammlung Blutat haoscher (Glücksblase, 2018) vorgelegt. Von Rezuot erschien 2019 im Online-Magazin Re:Levant. Das Israel Magazin – Jeder Mensch hat eine Geschichte unter dem Titel Silvester ein Auszug in meiner Übersetzung. Loulou Omer arbeitet multidisziplinär, als Dichterin, Tänzerin und Musikerin und initiiert Projekte, in denen verschiedene Künste zusammentreffen. 2019 etwa realisierte sie in der MUK – Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien die Performance Fast ein Wunder. Re-enacting Gertrud Kraus. Gedichte publizierte sie u. a. in der erwähnten Literaturzeitschrift für diasporisches Hebräisch Mikan we’eilach; sie schreibt auch auf Deutsch und Französisch. Ich selbst schreibe Lyrik in beiden Sprachen, hauptsächlich auf Deutsch, aber eben auch auf Hebräisch. Meine hebräischen Gedichte sind bisher hier in Deutschland in zwei Anthologien sowie in Online-Magazinen in Israel (Hamussach 4/2020) und Serbien (Libartes 18/30.6.20) erschienen. Auch mein zweiter Lyrikband Hioba Hymore, an dem ich aktuell arbeite und für den mir im April eines der beiden Dieter-Wellershoff-Stipendien 2021 des Literaturhaus Köln und der Stadt Köln zugesprochen wurde, wird hebräische Gedichte enthalten. Schließlich wandte sich kürzlich noch ein weiterer junger israelischer Autor an mich, Omri Meshorer-Harim, der in Basel lebt und hebräische Gedichte schreibt, mit Tal al-mut (Jugend-Tau, 2020) bereits einen eigenen Gedichtband publiziert hat und Lyrik aus dem Deutschen übersetzt.
Geschrieben wird immer auch an unvermuteten, scheinbar unglamourösen Orten. Wir sollten uns grundsätzlich, umso mehr aber, wenn es um „kleine Sprachen“ geht, aufmerksam umschauen und uns öfter auch nach „off road“ aufmachen.
Das Zentrum und die Ränder einer großen kleinen Sprache
„Wer wird mich lesen, wer wird mich lesen können bzw. wie groß wird mein Leserkreis sein?“ Das fragten sich vor allem die frühen hebräisch Schreibenden. Als sich die moderne hebräische Literatur Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa zu entfalten begann, hatte der Verwandlungsprozess der heiligen Sprache des jüdischen Volkes in eine säkulare, transnationale Sprache noch eine viel stärkere Brisanz. Ein literarisches Zeugnis par excellence hierfür ist die Figur des Jehuda Elchanan Kron aus Lea Goldbergs Roman Verluste, der bei einem Spaziergang durch das Berliner Scheunenviertel über die Leserschaft und das Schicksal seiner hebräischen Gedichte nachsinnt. Der Name der fiktiven Stadt Kasrilevke aus dem Roman Fun Kasrilevke des jiddischen Schriftstellers Scholem Alejchem erscheint hier als Archetyp des elenden, rückständigen Schtetls:
So ging Kron auch jetzt daher, blickte in die Gesichter der Vorübergehenden […], und in seinem Hirn hämmerte dieser urlängst vertraute Gedanke: Was verbindet dich mit denen? Was hast du mit jenen Gestalten gemein, die hier an dir vorüberziehen? Dieselbe historische Vergangenheit? Endlos abrollende Leidensgeschichten? Das Grauenvon Menschen-ohne-Zuhause, die ihre Zuflucht in jenem einen Stückchen Land sehen? […] Bist du dir nicht gewiss, dass alles, was du schreibst, die Sprachenfrage einmal beiseitegelassen, eindeutig jedem Goi, der dieselbe Bildung hat wie du und dessen Ansichten den deinigen entsprechen, viel näher stehen und teurer sein muss als jedem einzelnen dieser Söhne deines Volks? […] Vor allem doch dies: Dass sie, diese Chajims und Jankeles, deinen Namen in Israel nicht kennen, nichts ahnen von deinem in Quadratbuchstaben gedruckten Namen, trifft dich mehr als die Aussichtslosigkeit, deine Gedichte für deine gebildeten Freunde und Anhänger der Weltkunst zu übersetzen … Ja, gerade weil du so maßlos gekränkt bist, so maßlos verletzt bist von der Vorstellung, dass wenn dir, so Gott will, eines Tages eine Leserschaft vergönnt sein wird, sie sein wird wie diese, der Großteil davon, zumindest an der Wurzel, sein wird wie diese. Du bist ein bindungsloser Intellektueller, mein Freund Kron, mein werter Freund Kron, Lehrling aller großen Weltrevolutionen. Der Revolutionen und Kriege der Welt. Hassen tust du’s, dieses Kasrilevke – und bist doch ein Teil davon (Verluste, S. 194 f.).
Ähnliche Gedanken über das eigene künstlerische Outsidertum kommen ungefähr zur selben Zeit, nur an anderem Ort, auch dem hebräischen Schriftsteller David Vogel, der zwischen Paris und Palästina hin und her gerissen war. Als er in Erez Israel, wo er ab 1929 lebte, aus verschiedenen Gründen nicht Fuß fassen konnte, kehrte er 1940 nach Paris zurück, wo kaum jemand die Sprache redete, in der er dichtete; Vogel wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. In der von Yair Qedar produzierten Dokumentarfilmreihe Haivrim (Die Hebräer) hat auch David Vogel ein wunderbares Porträt erhalten: Ibed Vogel et Vogel (Vogel verlor Vogel, Regie: Ayelet Ofarim; leider ohne englische Untertitel). Eine Auslese mit Gedichten von David Vogel und Lea Goldberg sowie einigen anderen klassischen hebräischen Dichterinnen und Dichtern, die biographisch mit dem deutschsprachigen Kulturkreis verbunden sind, findet man übrigens in der von Giddon Ticotsky und Lina Barouch herausgegebenen Anthologie Zukunftsarchäologie (2015, bei Vittorio Klostermann).
Ein erstes literarisches Dokument für die innere Verbindung und sich aktuell neu entwickelnde Anknüpfung an diese Tradition sind zwei 2019 publizierte Anthologien mit hebräischen Gedichten von Autorinnen und Autoren, die in Deutschland leben und arbeiten. Neben den Israelis sind darin auch zwei Deutsche vertreten: Heike Willingham, die allerdings selbst nicht auf Hebräisch schreibt, und ich. Zwischen den Zeilen (im Wiener Passagen Verlag), herausgegeben von Yael Almog und Michal Zamir, ist ein bilingualer Band, der weibliche Perspektiven auf das biographische wie künstlerische Pendeln zwischen Deutschland und Israel vorstellt, und zwar von Heike Willingham, Zehava Khalfa, Gundula Schiffer und Maya Kuperman. Von den Dichterinnen bin ich die Einzige, die nicht in Berlin, sondern in Köln lebt. Dieses Buch ist das schöne Ergebnis einer Begegnung und Lesung, die Michal Zamir im September 2017 im Jüdischen Museum Berlin initiierte: Inzwischen Zeilen. Ein Abend mit israelischen und deutschen Dichterinnen (mit Video-Mitschnitt). Die zweite Anthologie, Was es bedeuten soll. Neue hebräische Dichtung in Deutschland (in der Kölner parasitenpresse), wurde von mir, gemeinsam mit dem Schriftsteller, Übersetzer und Verleger Adrian Kasnitz herausgegeben und übersetzt; darin sind insgesamt 13 Dichterinnen und Dichter mit jeweils fünf Gedichten und einem biographischen Abriss versammelt. Es sind (manche habe ich zuvor schon an anderer Stelle erwähnt; wo nicht anders vermerkt, leben sie in Berlin): Ronen Altman Kaydar, Yael Dean Ben-Ivri, Tomer Dotan-Dreyfus, Asaf Dvori, Yemima Hadad, Zahava Khalfa, Admiel Kosman, Maya Kuperman, Tali Okavi (Kiel), Loulou Omer (Wien), Gundula Schiffer (Köln), Mati Shemoelof, Michal Zamir. Die hier vorgestellten Gedichte sind allesamt deutsche Erstübersetzungen, in manchen Fällen erschienen die deutschen Texte vor den hebräischen Originalen. So publizierten Asaf Dvori und Zehava Khalfa wenig später ihre Lyrikdebüts, Tjutot lemischpacha (Blueprints for a Family, 2019) und Le’an kol se holech (Wohin geht das alles, 2020), in die auch Gedichte aus unserer Anthologie eingegangen sind. Das Erscheinen des Buches im November 2019 hatte ich zum Anlass genommen, um im Nachwort die Heimkehr des Amsterdam Machsor, jenes prachtvollen Gebetbuchs aus dem mittelalterlichen Köln, die unmittelbar zuvor im Wallraf-Richartz-Museum Köln gefeiert worden war, mit der modernen literarischen Thematik in Beziehung zu setzen. Im Zusammenhang des Jubiläumsjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ wird ja wiederholt darauf verwiesen, dass in Köln die älteste jüdische Gemeinde jenseits der Alpen ansässig war. MiQua (Museum im Quartier) lautet der Name des im Bau befindlichen jüdischen Museum im Archäologischen Quartier Köln.
Hebräisch ohne Zahnbürste: Gedanken zur Beziehung von Land und Sprache
Wiederum in Lea Goldbergs Roman Verluste gibt es ein wundervolles Bild bzw. Gleichnis, das sich auch auf die besondere Situation der modernhebräischen Literatur im Spannungsfeld zwischen Diaspora, wo Hebräisch nur in begrenzten Zirkeln lebendig ist, und dem Land Israel, wo Hebräisch 1948 Amtssprache wurde, übertragen lässt. Im Zimmer des russischen Professors und Konvertiten Ivan Juljevitsch Berson steht ein Wasserglas mit einer Zahnbürste und einem Maiglöckchen darin, welche zwei Facetten des Lebens, den Alltag und den Traum, symbolisieren:
Einstweilen fuhr der Professor fort: »[…] Und wenn ich manchmal, einfach so, ganz plötzlich, mich selbst und meine Umgebung anschaue, da erkenne ich, mein Sinn für Humor rettet mich vor allem Bösen … Ja, zum Beispiel habe ich bemerkt, heute ist hier gemeinsam mit mir eine Art Symbol für meinen ganzen inneren und äußeren Lebensstil aufgehoben. Wusstest du nicht, wie alle heiteren Helden bin ich zerstreut. Schau, sieh dir das an« – er meinte das Glas auf dem Tisch – »Der Nutzen und das Ideal, der Traum und die Wirklichkeit, das Lächerliche und das Erhabene in einem Glas. Gewiss hausen auch in meiner Seele Maiglöckchen und Zahnbürste direkt nebeneinander.«
Er ahnte nicht, wie sehr diese Worte, die eigentlich nur zu einem albernen Lachen anstecken sollten, jenen Menschen zu seinen Füßen mitten ins Herz hieben. Wie ein schneller Stummfilm, der im hellen Türspalt verschwimmt, zog vor Kron im Lichte des lustigen, schrecklichen Vergleichs sein ganzes Leben vorüber: – zwei Frauen Seite an Seite – ob eine von ihnen das Maiglöckchen, und die andere eine Zahnbürste ist? Und die auf Pergament geschriebenen Gedichte, das Hinterherjagen hinter Schriftstellerlohn und Verlagen? – Diese bleichen Berge, schweigend in der Sprache Ebers, und die Staatsbibliothek hier mit ihren vielen Wörterbüchern? (Verluste, S. 57)
Aber auch ich selbst, die in Deutschland als Nicht-Hebräisch-Muttersprachlerin und fern vom Land Israel, wo Hebräisch gesprochen wird, hebräische Gedichte schreibt, kann mich im Zusammenspiel von Maiglöckchen und Zahnbürste wiederfinden. An späterer Stelle im Roman heißt es: „»Die Zahnbürste, mein Werter«, dachte der Professor laut nach, »ja, sie ist alles, was nicht Einsamkeit ist«“ (Verluste, S. 57). Meine Beziehung zum Hebräischen muss die meiste Zeit ohne Zahnbürste auskommen. Denn mein Haus steht nicht in Israel, und ich lebe auch nicht in einer deutsch-israelischen Partnerschaft, erlebe also, abgesehen von den regelmäßigen Aufenthalten im Land, keine Alltagsrealität auf Hebräisch; auch gibt es keine jüdische Familienhistorie, die mich mit dem Land verbinden würde. Auf der anderen Seite aber bin ich weit davon entfernt, ausschließlich literarisch mit der hebräischen Sprache verbändelt zu sein. Via Mail, Zoom, soziale Medien und andere Netzwerke arbeite und kommuniziere ich täglich mit israelischen Freunden, Kolleginnen und Kollegen. Tatsächlich nimmt der hebräische Anteil dieser beruflichen und emotionalen Bande phasenweise mehr Raum ein als der deutsche hierzulande.
Darum ist auch die Perspektive dieses Essays eine ganz persönliche und mag singulär, womöglich romantisch oder versponnen erscheinen. Die besondere Neigung für die frühen Anfänge der modernen hebräischen Literatur, wie ich sie im ersten Kapitel mit den „drei Einzelfällen“ berührt habe, ist der Grund, warum ich mich gern vom Maiglöckchen anziehen lasse. Und sie spiegelt sich in der Freude über die pulsierenden Formen einer hebräischen Diaspora, vor allem in Berlin, aber auch andernorts. Es ist eine schöpferische, womöglich auch etwas trotzige Lust, diese künstlerischen Manifestationen des Hebräischen hier, wo sie nicht selbstverständlich sind, zu feiern und weiter zu kultivieren. Gerade das Wissen um die fragile Situation, sowohl einer „kleinen Sprache“ allgemein als auch einer geliebten Zweitsprache, machen sie so wertvoll und uns Schreibende kreativ im Hinblick auf die Bemühungen, sie stets weiter zu entfalten und lebendig zu halten. All dieser Optimismus, was das positive Bild und die Möglichkeiten der Diaspora betrifft, ändert allerdings nichts daran: Außer Frage steht die Bedeutung des Landes Israel. Ohne Israel kein Hebräisch – das soll an dieser Stelle noch einmal festgeschrieben stehen. Israel ist das Schutzhaus der hebräischen Sprache und Kultur. Seit Jahrhunderten lebt das jüdische Volk in der Spannung zwischen Exil und Blick auf Erez Israel. Gerade dieser Schwellenzustand, diese nimmer ruhende Sehnsucht ist als Triebfeder gerade bei hebräischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in der Diaspora erkennbar. Das Hebräische teilt mit anderen „kleinen Sprachen“, so scheint mir, diese existentielle Abhängigkeit von einem geographischen Territorium. Gedankenexperimente und Vergleiche bleiben immer irgendwie verschwommen und oberflächlich; dennoch ist die Überlegung wohl nicht ganz abwegig, dass etwa auch eine Sprache wie das Mazedonische in ihrem Fortbestehen bedroht wäre, wenn Nordmazedonien als autonomer Staat aufgelöst würde.
Selbstübersetzung hat in der modernen hebräischen Literatur, deren erste Autorinnen und Autoren alle keine Muttersprachler waren, sondern von Hause aus überwiegend Russisch oder Polnisch, aber auch Deutsch sprachen, eine lange Tradition. Ein berühmtes, auch im deutschen Sprachraum bekannteres Beispiel ist der Dichter Tuvia Rübner; seinen Selbstübersetzungen aus dem Hebräischen ins Deutsche habe ich vor einigen Jahren unter dem Titel „»Herz, stirb oder singe.« Der Dichter Tuvia Rübner im Lichte seiner Selbstübersetzungen aus dem Hebräischen ins Deutsche“ einen Essay gewidmet (in: Tuvia Rübner lesen. Erfahrungen mit seinen Büchern, hg. v. Jürgen Nelles, Aachen: Rimbaud 2015, S. 253–275). Adam Thirlwell wiederum hat sich in seinem Buch Der multiple Roman (aus dem Englischen von Hannah Arnold, Fischer 2013) – ein phantastisches Panorama der literarischen Migrationen und Austauschbewegungen im Medium des Romans –, auch mit Samuel Becketts Schreiben auf Englisch und Französisch auseinandergesetzt. Thirwell spürt dem Grund für Becketts Wechsel ins Französische nach, wo seine Ausdrucksmöglichkeiten deutlich begrenzter waren. Sein Resümee entspricht exakt meinem Gefühl, wenn ich auf Hebräisch Gedichte schreibe. Und es hat mich die innere Verwandtschaft zwischen dem Phänomen der Selbstübersetzung, vor allem von komprimierten Kleinformen wie Gedichten, und der Art brut erkennen lassen. Die von dem Maler und Bildhauer Jean Dubuffett so bezeichnete „Art brut“ – den entsprechenden englischen Terminus „Outsider art“ prägte der Kunsthistoriker Roger Cardinal – subsumiert künstlerische Produktionen von Außenseitern, „Abweichlern“ und körperlich und/oder geistig „Eingeschränkten“ verschiedener Art, auch Kinderkunst zählt dazu. Im Deutschen spricht man nach dem Psychiater Leo Navratil auch von „Zustandsgebundener Kunst“ und meint dann vor allem literarische Texte von Menschen, die irgendeine Form von psychischer Erkrankung erleben:
Er fühlte sich wohl in seinem fehlerhaften Medium –, in dieser Sprache, die ihm das minutiöse Potential, eine Sache völlig zu erschöpfen, das den Siechenden, den Sterbenden oder den Verrückten gegeben ist, offen legte (S. 355).
Den Rand halten?! Mündiges und Unmündiges beim Dichten
Seit jeher hege ich eine Zuneigung für das Abständige und Abseitige, fühle mich angezogen von künstlerischen Ausdrucksformen, die außerhalb des Zentrums liegen, deren Überleben gefährdet ist. Ich kümmere mich gern um den Rand; darum habe ich mich auch selbst vor einigen Jahren entschlossen, nicht den Rand zu halten, das heißt, auch mein hebräisches Sprachbegehren ernst zu nehmen, hebräische Gedichte und Selbstübersetzungen zu schreiben und sie zu veröffentlichen. Denn lyrische Gebilde bergen ihr Ausdrucksmaterial nicht nur aus dem Steinbruch des Mündlichen und der im Alltag gebrauchten Sprache; im Gegenteil kann ein gewisser Grad des Unmündigen, des begrenzten Sprachvermögens reizend und treibend für das dichterische Schaffen sein. Zumindest hinweisen möchte ich darum zum Schluss auf eine gewisse Affinität zwischen dem Prozess des sorgsamen, manchmal tastenden Dichtens in einer Zweitsprache, inklusive des Selbstübersetzens, sowie stark auf das Sprachmaterial fokussierte Schreibweisen, wie sie etwa in den Anagrammen Unica Zürns oder in den Gedichten Ernst Herbecks anzutreffen sind. Herbeck war aufgrund einer schizophrenen Psychose rund 45 Jahre in der Niederösterreichischen Landesnervenklinik Gugging stationiert und schrieb – angestoßen von seinem Arzt, dem oben erwähnten Leo Navratil – Gedichte, die ihm schließlich auch eine gewisse Bekanntheit und Anerkennung einbrachten.
Meine hebräischen Gedichte ohne Zahnbürste sind keine rein experimentellen Gedichte; dennoch empfinde ich das schöpferische Verfahren Ernst Herbecks und Unica Zürns ebenso wie das konzentriert gestaltete Erscheinungsbild ihrer Texte mit meinen verwandt. In wenigen Strichen zumindest möchte ich zeigen, was genau ich mit dieser Verwandtschaft meine und wie Schreiben und Übersetzen in meiner Spracharbeit miteinander verschlungen sind. Ein längeres Gedicht, das in meinen zweiten Lyrikband eingehen wird, trägt den Titel „der hauptgrund auf dem zungentablett (al magasch leschoni joter meroschi)“. Das Gedicht reflektiert genau diese Situation des Schreibens aus der Beschränkung heraus, des Dichtens ohne natürliche Verbindung zum israelischen Alltag. Das lyrische Ich versenkt sich in die Frage, was es bedeutet, mit dem Hebräischen in einer spät erworbenen, erwählten und als schicksalhaft erkannten Sprachbeziehung zu leben. Die dritte und vierte Strophe – das Mittelstück in dem insgesamt sechsstrophigen Gedicht – lauten:
Die hebräische Sprache hat, ohne dass ich es zunächst bemerkt hätte, die Vorliebe geweckt, abstrakt gewordene Ausdrücke wieder konkret zu nehmen; speziell in diesem Gedicht hat mich auch die Tatsache inspiriert, dass „Zunge“ auf Hebräisch auch (gesprochene) „Sprache“ bedeutet. Schließlich ist die biblische Geschichte von Judith und Holofernes (bzw. Salome und Johannes dem Täufer) in die Verse gesickert. Die wörtliche Übersetzung des hebräischen Titels wäre „auf meinem zungentablett mehr als mein kopf“. Ich habe aber auf Deutsch „hauptgrund“ gesetzt, was auf die Erkenntnis am Ende, eine Art autofiktive Erklärung für die „doppelte (Sprach-)Existenz“ vorausweist, die ich im obigen Zitat ausgeklammert habe. Vor allem aber war die Lust an dem Wort „Haupt“ leitend, die dem Deutschen eine archaische Note zuführt. Außerdem habe ich mich, bisher nur in dieser Selbstübersetzung, zur Kleinschreibung entschieden. Die Großschreibung erschien mir das Gedicht zu ersticken; ich wollte ein grazileres Textbild erzeugen, den fragilen Perlen entsprechend, um die es sich dreht. Beim Selbstübersetzen gestattete ich mir noch mehr Phantasie und „assoziative Ausbüxer“, als wenn ich mit der Übersetzung eines Textes beauftragt bin. „al-andalus“ (Goldenes Zeitalter in Spanien, in dem die hebräische Poesie blühte), „klunker für unser hier und jetzt“ (unsere Tage heute zu verherrlichen) und „brillierst“ (zu beeindrucken) etwa antworten dem Original bzw. Erstgedicht nicht mit identischen, sondern mit ähnlichen Entsprechungen, die mit Möglichkeiten für lautmalerische Klänge, greifbare Bilder und konkrete Grundierungen von Wortbedeutungen im Deutschen spielen.
Mit diesem Abstecher in das singuläre Randgebiet sprachlichen Schaffens, in dem ich mich aufhalte und wirke, möchte ich diese Reflexionen beschließen. Durchgängig leitend war der Gedanke, dass moderne hebräische Literatur sozusagen ein „Kleinunternehmen“ ist, das ohne ein eigenes geographisches Territorium begann und in dieser Phase von den Aktivitäten einzelner Persönlichkeiten und von grenzüberschreitender, literarischer Gemeinschaftsbildung lebte. Auch nach der Gründung des Staates Israels 1948 bleibt Hebräisch eine kleine Sprache, die ohne Übersetzungen einem begrenzten Lesekreis vorbehalten bleibt.
Gegenwärtig ist eine Wiederbelebung der diasporischen Tradition, insbesondere in Berlin, zu beobachten. 2011 veröffentlichte der israelische Dichter und Übersetzer Rami Saari, der aus rund sieben Sprachen übersetzt (darunter so „kleine“ Sprachen wie Albanisch oder Estnisch) und sein Leben u. a. zwischen Israel, Griechenland und Finnland aufteilt, in der israelischen Tageszeitung Haaretz einen Artikel mit dem Titel „Ein guter, selbstgewählter Aufenthalt“ (Asija tova mitoch brera). 2010 hatte ihm die Akademie für die hebräische Sprache für seine Verdienste um die hebräische Sprache den Asaf Prize verliehen. Er begründet in diesem Statement, warum er auf Hebräisch schreibt, aber nicht in seiner Heimat Israel lebt. Wenn ein schräger Vogel fühlt, dass man ihm in seiner Heimat die Flügel stutzt, muss er auf Wanderschaft gehen, damit seine Schöpferkraft nicht leidet, verrät der Vorspann einen der Hauptgründe für das Exil. Rami Saari bringt aber noch einen anderen Gedanken ins Spiel, dass nämlich fremde Orte die Formen und Inhalte des Schreibens in der Muttersprache verändern; darum eröffne er den Leserinnen und Lesern in Israel mit seinen hebräischen Werken „Luken in eine andere Wirklichkeit“. Es geht auch auf diesem Feld um Bereicherung durch das Undefinierbare und Abseitige. Wir brauchen sonderbare, immer auch gefährdete, schwer zugängliche Ränder, die uns vor dem Trugschluss schützen, dass es ein erfülltes Zentrum gibt.