„Ich habe inner­lich viel mit ihm diskutiert“

Timea Tankó ist eine der diesjährigen Gewinnerinnen des Preises der Leipziger Buchmesse. Ein Gespräch über ihre ausgezeichnete Übersetzung von Miklós Szentkuthys „Apropos Casanova“.

Interview: und

Bild der Übersetzerin Timea Tankó
Die Übersetzerin Timea Tankó, Bild: Konstantin Déry

Herz­li­chen Glück­wunsch zum Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se für die bes­te Über­set­zung! Auch ohne Unga­risch­kennt­nis­se erkennt man auf den ers­ten Blick, dass es nicht leicht gewe­sen sein kann, Miklós Szent­ku­thys Apro­pos Casa­no­va zu über­set­zen. Was hat dich dar­an gereizt? 

Vie­len Dank! Was einem sofort auf­fällt, wenn man Miklós Szent­ku­thy liest, ist die unge­heu­re Gedan­ken­fül­le und die Freu­de an den Mög­lich­kei­ten von Spra­che. Es wird ja oft beklagt, wie man­gel­haft Spra­che die Erschei­nun­gen der Welt abbil­det, und ganz vor­ne unter den Kla­gen­den steht Szent­ku­thy selbst. Doch noch wäh­rend er über die Unzu­läng­lich­kei­ten der Spra­che sin­niert, über­mannt ihn immer wie­der ein gro­ßes Stau­nen dar­über, dass sie doch so vie­les zu erfas­sen ver­mag. Und das tut sie vor allem durch Rhyth­mus und Klang. Zu erkun­den, wie die­se Aspek­te der Spra­che dazu bei­tra­gen, die Asso­zia­ti­ons­mee­re, die im Grun­de alle Tex­te Szent­ku­thys sind, zu erschaf­fen, zu struk­tu­rie­ren und dar­in die klei­nen Inseln stark ver­dich­te­ter Gedan­ken ent­ste­hen zu las­sen, war wohl das, was mich von Anfang am meis­ten interessierte.

Wie kann man so einen anspruchs­vol­len Text über­haupt über­set­zen? – „Indem man mit­denkt“, lau­te­te die Ant­wort in der Jury­be­grün­dung. Stimmst du dem zu?

Für jeman­den, der den Text nicht kennt, mag die­ses „indem man mit­denkt“ banal klin­gen und er könn­te sich die berech­tig­te Fra­ge stel­len, ob Mit­den­ken nicht die Grund­vor­aus­set­zung jeder Über­set­zung sei. Natür­lich ist sie das. Da bei Szent­ku­thy aber auf klei­nem Raum sehr vie­le Gedan­ken auf­tau­chen, jeder Gedan­ke nach der ihm ent­spre­chen­den Form ver­langt und wäh­rend man die­se sucht, schon wie­der neue Gedan­ken auf einen zuströ­men, kommt dem „Mit­den­ken“ bei die­sem Buch oder über­haupt bei die­sem Autor eine ande­re Rol­le zu, als ich es von mei­nen bis­he­ri­gen Über­set­zun­gen kann­te. Ich habe den Ein­druck, als wäre Szent­ku­thy selbst immer ein wenig auf der Flucht vor der Flut sei­ner eige­nen Gedan­ken, was ihn – und mich – dazu treibt, in der Spra­che nach Nischen zu suchen, in denen man ein wenig zur Ruhe kom­men kann. Das sind die Momen­te, in denen aus dem gro­ßen bun­ten Rau­schen plötz­lich ganz kla­re Bil­der und For­mu­lie­run­gen her­vor­tre­ten. Spra­che als Ret­tung, könn­te man sagen.

Du bist mit Unga­risch auf­ge­wach­sen und hast auch in Ungarn gelebt. Woll­test du schon immer Lite­ra­tur aus dem Unga­ri­schen übersetzen? 

Ich habe tat­säch­lich rela­tiv früh Lite­ra­tur über­setzt, in der neun­ten Klas­se, aller­dings aus dem Fran­zö­si­schen, ich erin­ne­re mich vor allem an Erzäh­lun­gen von Mau­pas­sant. Ich hat­te damals eine sehr enga­gier­te Leh­re­rin, die mir im Rah­men des Schul­un­ter­richts Ein­zel­stun­den gab, weil ich schon vier Jah­re län­ger Fran­zö­sisch gelernt hat­te als mei­ne Mit­schü­ler. In den dar­auf­fol­gen­den Jah­ren habe ich nicht über­setzt, aber viel gele­sen, vor allem unga­ri­sche, deut­sche und fran­zö­si­sche Lite­ra­tur und irgend­wann im Lau­fe mei­nes Stu­di­ums, genau­er gesagt, par­al­lel zu mei­nem Stu­di­um, habe ich ange­fan­gen zu über­set­zen, für mich, Gedich­te und Erzäh­lun­gen, vor allem von Antal Szerb. Ich habe ja Über­set­zen stu­diert, Fran­zö­sisch und Spa­nisch, aber das ging eher in Rich­tung Fach­über­set­zen und dass das nichts für mich war, wuss­te ich schon damals. Szerbs Erzäh­lun­gen habe ich dann an eini­ge Ver­la­ge geschickt, und eines Tages bekam ich einen Anruf von dtv, die ohne­hin schon plan­ten, den Autor ins Pro­gramm auf­zu­neh­men. Es war also ein glück­li­cher Zufall, aber nicht nur. Es brauch­te auch eine Lek­to­rin, die den Mehr­auf­wand nicht scheu­te, den Über­set­zungs­auf­trag an eine jun­ge Über­set­ze­rin mit wenig Erfah­rung zu ver­ge­ben. In mei­nem Fall war das Ulri­ke Oster­mey­er, der ich dafür bis heu­te dank­bar bin. Sie sah es als Teil ihrer Arbeit an, nicht nur AutorIn­nen zu ent­de­cken und zu unter­stüt­zen, son­dern auch Über­set­ze­rIn­nen und freie Lek­to­rIn­nen. Ich habe den Ein­druck, als wäre man in den Ver­la­gen heu­te in die­ser Hin­sicht nicht ganz so risi­ko­freu­dig. Aber viel­leicht lie­ge ich auch falsch, das wäre schön.

Wel­che Ansprü­che stellst du an dich selbst als Über­set­ze­rin? Was ist dein Ziel beim Übersetzen?

Einen Text auf Deutsch zu erschaf­fen, der in sei­ner Tex­tur und Tem­pe­ra­tur, Far­big­keit, Leucht­kraft, aber auch den Brü­chen, dem Unge­sag­ten, dem Ori­gi­nal ent­spricht. Gro­ße Wor­te, ich weiß, aber dar­auf muss man gefasst sein, wenn man eine so gro­ße Fra­ge stellt.

War­um hat es so lan­ge gedau­ert, bis Apro­pos Casa­no­va ins Deut­sche über­setzt wur­de? Hat sich nie­mand getraut, es zu über­set­zen, oder muss­te der pas­sen­de Ver­lag erst gefun­den werden?

Ehr­lich gesagt, weiß ich es nicht, ich kann nur Ver­mu­tun­gen anstel­len. Da es in den Ver­la­gen in den sel­tens­ten Fäl­len jeman­den gibt, der Unga­risch spricht, wird die Lite­ra­tur nicht nur, aber oft durch Über­set­ze­rIn­nen ver­mit­telt. Es hät­te also zunächst eine Über­set­ze­rin, einen Über­set­zer gebraucht, der einen Ver­lag auf das Buch oder über­haupt auf den Autor auf­merk­sam macht. Viel­leicht gab es das auch. Aber ich den­ke, bei einem Buch wie die­sem, bei dem es um etwas ganz ande­res als um eine Hand­lung geht, wäre das schwie­rig gewe­sen. Ich selbst hat­te auch schon manch­mal dar­an gedacht, dass man Szent­ku­thy über­set­zen müss­te, habe aber dann nie die ent­spre­chen­den Schrit­te unter­nom­men, weil ich schon bei viel weni­ger sper­ri­gen Wer­ken oft Schwie­rig­kei­ten hat­te, den Ver­lag, der mir geeig­net erschien, zu über­zeu­gen. Also ja, es muss­te der pas­sen­de Ver­lag gefun­den wer­den, bezie­hungs­wei­se der pas­sen­de Ver­lag muss­te selbst auf das Buch sto­ßen. Vor eini­gen Jah­ren gab es in Sinn und Form einen Aus­zug auf Deutsch und es gibt seit 2012 auch eine gute eng­li­sche Über­set­zung, was für ein unga­ri­sches Buch immer ein Tür­öff­ner zu den ande­ren Spra­chen sein kann.

Die Über­set­zung ist mit ihren 260 Sei­ten zwar nicht über­mä­ßig lang, aber sicher­lich kein Text, der sich in einem Schwung her­un­ter­tip­pen lässt. Wie lan­ge hast du dar­an gearbeitet?

Unge­fähr vier­ein­halb Mona­te. Das lag zum Teil an dem Text, weil ich gemerkt habe, dass ich nicht so viel an einem Stück über­set­zen konn­te, zum Teil an Covid-19, wodurch die Schul­kin­der, so auch mei­ne, die Tage plötz­lich zu Hau­se ver­bracht haben.

Wie gehst du an so eine Über­set­zung her­an? Wie ist der Arbeitsprozess? 

Ich habe den Text ein­mal im Gan­zen gele­sen und dann mit der Über­set­zung begon­nen. Dabei habe ich ihn, den Text an sich, aber auch die ein­zel­nen Sät­ze und Wör­ter wahr­schein­lich ähn­lich seziert wie Szent­ku­thy Casa­no­vas Erin­ne­run­gen, um sie dann wie­der zusam­men­zu­fü­gen, zuerst in klei­nen Ein­hei­ten, dann in immer grö­ße­ren. Es war inter­es­sant, denn die Arbeit war klein­tei­lig, aber irgend­wie doch schwung­voll, schwer, fast phy­sisch schwer, und in man­chen Momen­ten plötz­lich ganz leicht. Ich erin­ne­re mich, es ein­mal so beschrie­ben zu haben, dass ich abends meist das Gefühl hat­te, den Tag an einem Ort ver­bracht zu haben, der eine selt­sa­me Mischung aus Berg­werk und Tanz­saal war.

Der Text ent­hält aus heu­ti­ger Sicht eini­ge kon­tro­ver­se Äuße­run­gen. Ich hat­te beim Lesen immer wie­der das Bedürf­nis, dem Erzäh­ler bzw. Szent­ku­thy zu wider­spre­chen, nach­zu­ha­ken oder zumin­dest mit ihm ins Gespräch zu tre­ten. Ging es dir ähnlich? 

Abso­lut. An einer Stel­le sagt er zum Bei­spiel: „Er (Casa­no­va) weiß, dass in der Gesell­schaft allein die­se Form von Lie­be befrie­di­gend sein kann: Wenn einer dient und der ande­re herrscht.“ Natür­lich fängt man inner­lich sofort an, mit ihm zu dis­ku­tie­ren. Aber genau das woll­te er ja. Der Leser war für Szent­ku­thy in ers­ter Linie Gesprächs­part­ner. Es ist zwar nicht immer ein­fach, bei ihm zu Wort kom­men, aber grund­sätz­lich inter­es­sier­te es ihn sehr, was sein Gegen­über dach­te. Die­se Sät­ze, bei denen wir heu­te die Augen­brau­en hoch­zie­hen, sind aber mehr als lee­re Pro­vo­ka­tio­nen, sie ent­hal­ten immer etwas, über das sich nach­zu­den­ken lohnt. Miss­ver­ständ­lich wird es oft durch die gro­ße Ges­te, mit der Szent­ku­thy schreibt, durch die Mas­ke der Radi­ka­li­tät. Aber wenn man die­se eben als Mas­ke erkennt und sich ansieht, was die an sich haar­sträu­ben­de Aus­sa­ge sonst noch beinhal­tet, stößt man oft auf inter­es­san­te Gedan­ken. Zum Bei­spiel ist Szent­ku­thys Dar­stel­lung der Frau­en in vie­len Punk­ten ver­ding­li­chend, ja, kei­ne Fra­ge, zugleich stellt er aber auch klar, dass das sei­ne Per­spek­ti­ve ist, die des Man­nes, und dass Frau­en die Män­ner genau­so als Objek­te betrach­ten und behan­deln. Er nimmt also im Grun­de The­men vor­weg, die zum Bei­spiel sieb­zig-acht­zig Jah­re spä­ter Sozio­lo­gIn­nen wie Eva Ill­ouz, beschäf­ti­gen, aber nicht nur sie, im Grun­de uns alle, spä­tes­tens seit­dem es Tin­der und ähn­li­che Platt­for­men gibt.

Wie sehr war Szent­ku­thy beim Über­set­zen prä­sent? Hät­test du Fra­gen an ihn gehabt?

Er war sehr prä­sent, so etwas habe ich noch nie erlebt. Fra­gen zur Über­set­zung hät­te ich eigent­lich kei­ne gehabt, denn die hat mir nach einer Wei­le der Text selbst beant­wor­tet, aber ande­re Fra­gen schon. Zum Bei­spiel hät­te ich ihn ger­ne gefragt, ob er Arte­mi­sia Gen­til­le­schis Gemäl­de „Susan­na im Bade“ kann­te. Und damit wären wir wahr­schein­lich prompt in einer gro­ßen Gen­der-Dis­kus­si­on gelan­det, da ich Tin­to­ret­tos Ver­si­on, über die Szent­ku­thy meh­re­re Sei­ten lang schreibt, zwar als Bild sehr inter­es­sant fin­de, aber das Wesent­li­che an die­ser bibli­schen Erzäh­lung in der von Gen­til­le­schi mei­ner Mei­nung nach viel bes­ser wie­der­ge­ge­ben wird. Du merkst schon: Ja, ich habe inner­lich viel mit ihm diskutiert.

Das Buch wur­de kurz nach sei­nem ers­ten Erschei­nen 1939 in Ungarn zen­siert und erst 1973 wie­der auf­ge­legt. Wel­chen Platz nimmt Szent­ku­thy heu­te in der unga­ri­schen Lite­ra­tur und Kul­tur ein?

Ich wür­de sagen, er ist immer noch so etwas wie ein Geheim­tipp und wird es ver­mut­lich auch blei­ben. Aber es gibt in jedem Jahr­zehnt, nach jeder neu­en Ver­öf­fent­li­chung – vie­le sei­ner Wer­ke sind post­hum erschie­nen, man­che wur­den neu ver­legt – Leser, die ihn für sich ent­de­cken. Und obwohl er über so ziem­lich alle Ecken und Win­kel der euro­päi­schen, aber nicht nur euro­päi­schen Geschich­te der letz­ten zwei­tau­send Jah­re geschrie­ben hat, ist sein zen­tra­ler Stoff doch vor allem die Spra­che, wes­halb sei­ne Wer­ke am meis­ten die­je­ni­gen fas­zi­nie­ren, die selbst schreiben.

Apro­pos Casa­no­va ist der ers­te Teil der zehn­tei­li­gen Rei­he Das Bre­vier des Hei­li­gen Orpheus. Sol­len auch die ande­ren Bücher auf Deutsch erscheinen? 

Der Ver­lag möch­te sich wei­ter­hin um das Werk von Miklós Szent­ku­thy küm­mern, aber es steht noch nicht fest, ob die nächs­te Über­set­zung ein Band aus dem Bre­vier sein soll.

Gibt es noch ande­re im deutsch­spra­chi­gen Raum wenig bekann­te unga­ri­sche Autorin­nen oder Autoren, die du ger­ne über­set­zen würdest?

Ja, vor allem Autorin­nen. Obwohl sich unter dem aktu­el­len Regime in Ungarn patri­ar­cha­li­sche Struk­tu­ren lei­der wie­der fes­ti­gen und wir in vie­len Berei­chen einen Back­lash erle­ben, gibt es auch ent­ge­gen­ge­setz­te Ten­den­zen, so zum Bei­spiel in der Lite­ra­tur. In der bis­her stark von Män­nern domi­nier­ten lite­ra­ri­schen Land­schaft tau­chen immer mehr Autorin­nen auf, zum Bei­spiel Ani­ta Harag oder Natá­lia Szei­fert. Eine wei­te­re wich­ti­ge Autorin, die unbe­dingt ins Deut­sche über­setzt wer­den soll­te, nicht von mir, dar­um bemü­hen sich schon ande­re, aber in die­sem Kon­text möch­te ich sie nicht uner­wähnt las­sen, ist Edi­na Szvo­ren. Da sie aus­schließ­lich Erzäh­lun­gen schreibt, sind die deut­schen Ver­la­ge zöger­lich, dabei ist sie eine der stärks­ten Stim­men der zeit­ge­nös­si­schen unga­ri­schen Literatur. 


Timea Tan­kó


Timea Tan­kó, 1978 in Leip­zig gebo­ren, arbei­tet als Dol­met­sche­rin sowie als Über­set­ze­rin unga­ri­scher und fran­zö­si­scher Lite­ra­tur. Neben Über­tra­gun­gen u. a. von Wer­ken Ist­ván Kemé­nys, Antal Szerbs und Györ­gy Dra­gománs ins Deut­sche brach­te sie z. B. auch Tex­te Esther Kin­skys ins Unga­ri­sche. Zuletzt wur­de sie mit dem Exzel­lenz­sti­pen­di­um des Deut­schen Über­set­zer­fonds 2020 aus­ge­zeich­net. Sie lebt in Berlin.

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