Herzlichen Glückwunsch zum Preis der Leipziger Buchmesse für die beste Übersetzung! Auch ohne Ungarischkenntnisse erkennt man auf den ersten Blick, dass es nicht leicht gewesen sein kann, Miklós Szentkuthys Apropos Casanova zu übersetzen. Was hat dich daran gereizt?
Vielen Dank! Was einem sofort auffällt, wenn man Miklós Szentkuthy liest, ist die ungeheure Gedankenfülle und die Freude an den Möglichkeiten von Sprache. Es wird ja oft beklagt, wie mangelhaft Sprache die Erscheinungen der Welt abbildet, und ganz vorne unter den Klagenden steht Szentkuthy selbst. Doch noch während er über die Unzulänglichkeiten der Sprache sinniert, übermannt ihn immer wieder ein großes Staunen darüber, dass sie doch so vieles zu erfassen vermag. Und das tut sie vor allem durch Rhythmus und Klang. Zu erkunden, wie diese Aspekte der Sprache dazu beitragen, die Assoziationsmeere, die im Grunde alle Texte Szentkuthys sind, zu erschaffen, zu strukturieren und darin die kleinen Inseln stark verdichteter Gedanken entstehen zu lassen, war wohl das, was mich von Anfang am meisten interessierte.
Wie kann man so einen anspruchsvollen Text überhaupt übersetzen? – „Indem man mitdenkt“, lautete die Antwort in der Jurybegründung. Stimmst du dem zu?
Für jemanden, der den Text nicht kennt, mag dieses „indem man mitdenkt“ banal klingen und er könnte sich die berechtigte Frage stellen, ob Mitdenken nicht die Grundvoraussetzung jeder Übersetzung sei. Natürlich ist sie das. Da bei Szentkuthy aber auf kleinem Raum sehr viele Gedanken auftauchen, jeder Gedanke nach der ihm entsprechenden Form verlangt und während man diese sucht, schon wieder neue Gedanken auf einen zuströmen, kommt dem „Mitdenken“ bei diesem Buch oder überhaupt bei diesem Autor eine andere Rolle zu, als ich es von meinen bisherigen Übersetzungen kannte. Ich habe den Eindruck, als wäre Szentkuthy selbst immer ein wenig auf der Flucht vor der Flut seiner eigenen Gedanken, was ihn – und mich – dazu treibt, in der Sprache nach Nischen zu suchen, in denen man ein wenig zur Ruhe kommen kann. Das sind die Momente, in denen aus dem großen bunten Rauschen plötzlich ganz klare Bilder und Formulierungen hervortreten. Sprache als Rettung, könnte man sagen.
Du bist mit Ungarisch aufgewachsen und hast auch in Ungarn gelebt. Wolltest du schon immer Literatur aus dem Ungarischen übersetzen?
Ich habe tatsächlich relativ früh Literatur übersetzt, in der neunten Klasse, allerdings aus dem Französischen, ich erinnere mich vor allem an Erzählungen von Maupassant. Ich hatte damals eine sehr engagierte Lehrerin, die mir im Rahmen des Schulunterrichts Einzelstunden gab, weil ich schon vier Jahre länger Französisch gelernt hatte als meine Mitschüler. In den darauffolgenden Jahren habe ich nicht übersetzt, aber viel gelesen, vor allem ungarische, deutsche und französische Literatur und irgendwann im Laufe meines Studiums, genauer gesagt, parallel zu meinem Studium, habe ich angefangen zu übersetzen, für mich, Gedichte und Erzählungen, vor allem von Antal Szerb. Ich habe ja Übersetzen studiert, Französisch und Spanisch, aber das ging eher in Richtung Fachübersetzen und dass das nichts für mich war, wusste ich schon damals. Szerbs Erzählungen habe ich dann an einige Verlage geschickt, und eines Tages bekam ich einen Anruf von dtv, die ohnehin schon planten, den Autor ins Programm aufzunehmen. Es war also ein glücklicher Zufall, aber nicht nur. Es brauchte auch eine Lektorin, die den Mehraufwand nicht scheute, den Übersetzungsauftrag an eine junge Übersetzerin mit wenig Erfahrung zu vergeben. In meinem Fall war das Ulrike Ostermeyer, der ich dafür bis heute dankbar bin. Sie sah es als Teil ihrer Arbeit an, nicht nur AutorInnen zu entdecken und zu unterstützen, sondern auch ÜbersetzerInnen und freie LektorInnen. Ich habe den Eindruck, als wäre man in den Verlagen heute in dieser Hinsicht nicht ganz so risikofreudig. Aber vielleicht liege ich auch falsch, das wäre schön.
Welche Ansprüche stellst du an dich selbst als Übersetzerin? Was ist dein Ziel beim Übersetzen?
Einen Text auf Deutsch zu erschaffen, der in seiner Textur und Temperatur, Farbigkeit, Leuchtkraft, aber auch den Brüchen, dem Ungesagten, dem Original entspricht. Große Worte, ich weiß, aber darauf muss man gefasst sein, wenn man eine so große Frage stellt.
Warum hat es so lange gedauert, bis Apropos Casanova ins Deutsche übersetzt wurde? Hat sich niemand getraut, es zu übersetzen, oder musste der passende Verlag erst gefunden werden?
Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht, ich kann nur Vermutungen anstellen. Da es in den Verlagen in den seltensten Fällen jemanden gibt, der Ungarisch spricht, wird die Literatur nicht nur, aber oft durch ÜbersetzerInnen vermittelt. Es hätte also zunächst eine Übersetzerin, einen Übersetzer gebraucht, der einen Verlag auf das Buch oder überhaupt auf den Autor aufmerksam macht. Vielleicht gab es das auch. Aber ich denke, bei einem Buch wie diesem, bei dem es um etwas ganz anderes als um eine Handlung geht, wäre das schwierig gewesen. Ich selbst hatte auch schon manchmal daran gedacht, dass man Szentkuthy übersetzen müsste, habe aber dann nie die entsprechenden Schritte unternommen, weil ich schon bei viel weniger sperrigen Werken oft Schwierigkeiten hatte, den Verlag, der mir geeignet erschien, zu überzeugen. Also ja, es musste der passende Verlag gefunden werden, beziehungsweise der passende Verlag musste selbst auf das Buch stoßen. Vor einigen Jahren gab es in Sinn und Form einen Auszug auf Deutsch und es gibt seit 2012 auch eine gute englische Übersetzung, was für ein ungarisches Buch immer ein Türöffner zu den anderen Sprachen sein kann.
Die Übersetzung ist mit ihren 260 Seiten zwar nicht übermäßig lang, aber sicherlich kein Text, der sich in einem Schwung heruntertippen lässt. Wie lange hast du daran gearbeitet?
Ungefähr viereinhalb Monate. Das lag zum Teil an dem Text, weil ich gemerkt habe, dass ich nicht so viel an einem Stück übersetzen konnte, zum Teil an Covid-19, wodurch die Schulkinder, so auch meine, die Tage plötzlich zu Hause verbracht haben.
Wie gehst du an so eine Übersetzung heran? Wie ist der Arbeitsprozess?
Ich habe den Text einmal im Ganzen gelesen und dann mit der Übersetzung begonnen. Dabei habe ich ihn, den Text an sich, aber auch die einzelnen Sätze und Wörter wahrscheinlich ähnlich seziert wie Szentkuthy Casanovas Erinnerungen, um sie dann wieder zusammenzufügen, zuerst in kleinen Einheiten, dann in immer größeren. Es war interessant, denn die Arbeit war kleinteilig, aber irgendwie doch schwungvoll, schwer, fast physisch schwer, und in manchen Momenten plötzlich ganz leicht. Ich erinnere mich, es einmal so beschrieben zu haben, dass ich abends meist das Gefühl hatte, den Tag an einem Ort verbracht zu haben, der eine seltsame Mischung aus Bergwerk und Tanzsaal war.
Der Text enthält aus heutiger Sicht einige kontroverse Äußerungen. Ich hatte beim Lesen immer wieder das Bedürfnis, dem Erzähler bzw. Szentkuthy zu widersprechen, nachzuhaken oder zumindest mit ihm ins Gespräch zu treten. Ging es dir ähnlich?
Absolut. An einer Stelle sagt er zum Beispiel: „Er (Casanova) weiß, dass in der Gesellschaft allein diese Form von Liebe befriedigend sein kann: Wenn einer dient und der andere herrscht.“ Natürlich fängt man innerlich sofort an, mit ihm zu diskutieren. Aber genau das wollte er ja. Der Leser war für Szentkuthy in erster Linie Gesprächspartner. Es ist zwar nicht immer einfach, bei ihm zu Wort kommen, aber grundsätzlich interessierte es ihn sehr, was sein Gegenüber dachte. Diese Sätze, bei denen wir heute die Augenbrauen hochziehen, sind aber mehr als leere Provokationen, sie enthalten immer etwas, über das sich nachzudenken lohnt. Missverständlich wird es oft durch die große Geste, mit der Szentkuthy schreibt, durch die Maske der Radikalität. Aber wenn man diese eben als Maske erkennt und sich ansieht, was die an sich haarsträubende Aussage sonst noch beinhaltet, stößt man oft auf interessante Gedanken. Zum Beispiel ist Szentkuthys Darstellung der Frauen in vielen Punkten verdinglichend, ja, keine Frage, zugleich stellt er aber auch klar, dass das seine Perspektive ist, die des Mannes, und dass Frauen die Männer genauso als Objekte betrachten und behandeln. Er nimmt also im Grunde Themen vorweg, die zum Beispiel siebzig-achtzig Jahre später SoziologInnen wie Eva Illouz, beschäftigen, aber nicht nur sie, im Grunde uns alle, spätestens seitdem es Tinder und ähnliche Plattformen gibt.
Wie sehr war Szentkuthy beim Übersetzen präsent? Hättest du Fragen an ihn gehabt?
Er war sehr präsent, so etwas habe ich noch nie erlebt. Fragen zur Übersetzung hätte ich eigentlich keine gehabt, denn die hat mir nach einer Weile der Text selbst beantwortet, aber andere Fragen schon. Zum Beispiel hätte ich ihn gerne gefragt, ob er Artemisia Gentilleschis Gemälde „Susanna im Bade“ kannte. Und damit wären wir wahrscheinlich prompt in einer großen Gender-Diskussion gelandet, da ich Tintorettos Version, über die Szentkuthy mehrere Seiten lang schreibt, zwar als Bild sehr interessant finde, aber das Wesentliche an dieser biblischen Erzählung in der von Gentilleschi meiner Meinung nach viel besser wiedergegeben wird. Du merkst schon: Ja, ich habe innerlich viel mit ihm diskutiert.
Das Buch wurde kurz nach seinem ersten Erscheinen 1939 in Ungarn zensiert und erst 1973 wieder aufgelegt. Welchen Platz nimmt Szentkuthy heute in der ungarischen Literatur und Kultur ein?
Ich würde sagen, er ist immer noch so etwas wie ein Geheimtipp und wird es vermutlich auch bleiben. Aber es gibt in jedem Jahrzehnt, nach jeder neuen Veröffentlichung – viele seiner Werke sind posthum erschienen, manche wurden neu verlegt – Leser, die ihn für sich entdecken. Und obwohl er über so ziemlich alle Ecken und Winkel der europäischen, aber nicht nur europäischen Geschichte der letzten zweitausend Jahre geschrieben hat, ist sein zentraler Stoff doch vor allem die Sprache, weshalb seine Werke am meisten diejenigen faszinieren, die selbst schreiben.
Apropos Casanova ist der erste Teil der zehnteiligen Reihe Das Brevier des Heiligen Orpheus. Sollen auch die anderen Bücher auf Deutsch erscheinen?
Der Verlag möchte sich weiterhin um das Werk von Miklós Szentkuthy kümmern, aber es steht noch nicht fest, ob die nächste Übersetzung ein Band aus dem Brevier sein soll.
Gibt es noch andere im deutschsprachigen Raum wenig bekannte ungarische Autorinnen oder Autoren, die du gerne übersetzen würdest?
Ja, vor allem Autorinnen. Obwohl sich unter dem aktuellen Regime in Ungarn patriarchalische Strukturen leider wieder festigen und wir in vielen Bereichen einen Backlash erleben, gibt es auch entgegengesetzte Tendenzen, so zum Beispiel in der Literatur. In der bisher stark von Männern dominierten literarischen Landschaft tauchen immer mehr Autorinnen auf, zum Beispiel Anita Harag oder Natália Szeifert. Eine weitere wichtige Autorin, die unbedingt ins Deutsche übersetzt werden sollte, nicht von mir, darum bemühen sich schon andere, aber in diesem Kontext möchte ich sie nicht unerwähnt lassen, ist Edina Szvoren. Da sie ausschließlich Erzählungen schreibt, sind die deutschen Verlage zögerlich, dabei ist sie eine der stärksten Stimmen der zeitgenössischen ungarischen Literatur.