Wer mag bestimmen, wie weit der Geist des Weibes dringen kann? […] Ich beuge gerne meine Knie vor dem großen Mann: denn ich wähne keine Erreichung. Aber entzückend ist mir der Blick in’s bessere Leben, wo kein Unterschied zwischen Mann noch Weib seyn wird, wo gleich einmüthiges Bestreben nach höchster möglicher Vervollkommnung unsere Bestimmung, und Forschen in dem, was war und seyn wird, unser aller Arbeit seyn wird.
Dieser eindrückliche Ausblick auf eine geschlechtergerechte Welt entstammt einem Leserbrief, den vermutlich Marie Katherine von Grävemeier an die Redaktion der Ponoma schickte. Die Zeitschrift Ponoma erschien monatlich von 1783 bis 1784, und richtete sich gezielt an ein weibliches Publikum. Daher gilt sie als eine der ersten deutschsprachigen Frauenzeitschriften überhaupt. Ihre Herausgeberin war niemand Geringeres als Sophie von La Roche, die schon zu Lebzeiten für ihre Geschichte des Fräuleins von Sternheim berühmte und gut vernetzte Autorin.
Die Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Angela Sanmann interessiert sich in der im März dieses Jahres erschienenen Studie Die andere Kreativität für das übersetzerische Wirken von La Roche im Rahmen ihrer herausgeberischen Tätigkeit. Obwohl La Roche keine Übersetzungen unter eigenem Namen veröffentlichte, argumentiert Sanmann mit Blick auf die editorische Praxis der Zeitschrift, dass es sich bei einigen der in Ponoma anonym veröffentlichten Texte um Übersetzungen aus der Feder von Sophie von La Roche handle.
Diese Lesart der ausgewählten Ponoma-Texte ist völlig neu und wirft erstmalig ein Licht auf La Roches scharfsinnige, übersetzerische Strategien. Neben Sophie von La Roche beschäftigt sich Sanmann noch mit drei weiteren Übersetzerinnen aus dem deutsch-französischen Sprachraum des 18. Jahrhundert, denen sie jeweils ein Kapitel widmet: Luise Gottsched, Marie-Élisabeth de La Fite und Marianne Wilhelmine de Stevens (letztere ist wohl am wenigsten bekannt).
Die ausgewählten schreibenden und übersetzenden Frauen, so lautet Sanmanns These, nutzen eine augenscheinlich rein reproduzierende Tätigkeit wie das Übersetzen nicht nur für ihre eigenen literarischen Ambitionen, sondern auch um subtil gesellschaftskritische Ansichten zu artikulieren. Gängige Themenschwerpunkte sind dabei nicht nur die Frage nach der gesellschaftlichen Stellung der Frau (im Kontext der Querelles de Femmes), sondern auch die Bildung von Frauen, die fehlende politische Repräsentation sowie die Rolle einer Literatin in der Gesellschaft.
Die Studie zeigt anhand aussagekräftiger Beispiele, dass sich alle vier Frauen beim Übersetzen Freiheiten nahmen, die es ihnen ermöglichten, individuelle Lesarten der Originale zu formulieren und die Wirkung der Übersetzung in verschiedene Richtungen nach eigenem Belieben zu steuern. Sanmann rückt „das schöpferische Element des Übersetzens“ ganz bewusst in den Mittelpunkt, um daraus Rückschlüsse auf die Praktiken und die politischen Positionen der Übersetzerinnen zu ziehen. Um kontroverse oder überhaupt politische Haltungen zu äußern, mussten schreibende Frauen Strategien entwickeln, argumentiert Sanmann. Da Werke aus fremden Kulturen zudem nach anderen Kriterien beurteilt wurden als „einheimische Produktionen“, machten sich Frauen in der Rolle der scheinbar dienenden Übersetzerin weniger angreifbar als in der einer Verfasserin oder Autorin.
Das 18. Jahrhundert war eine komplexe Zeitspanne voller Widersprüche. Fein herausgearbeitet werden in der vorliegenden Studie die Unterschiede zwischen den beiden Jahrhunderthälften, die nicht nur ein sich stetig änderndes Frauenbild verzeichnen, sondern auch andere Ansprüche an das Übersetzen stellen. Dass vor allem Frauen übersetzen, wird im Zuge des Jahrhunderts unterschiedlich bewertet: „Obwohl das Übersetzen häufig mit dem untergeordneten Status des weiblichen Geschlechts verknüpft […] wird, herrscht Uneinigkeit darüber, ob es sich überhaupt um eine angemessene Tätigkeit handelt“, schreibt Sanmann. Die Angst bestand, dass eine intellektuelle Tätigkeit Frauen zu sehr von den häuslichen und erzieherischen Pflichten ablenke. Schreibende Frauen befanden sich daher in einem permanenten Rechtfertigungsmodus, um ihre übersetzerischen und anderen literarischen Tätigkeiten zu legitimieren.
Sanmann widmet sich in der Studie nicht nur den Übersetzungen, sondern auch Paratexten wie Briefen, Titelblättern, Vorreden oder Fußnoten, in denen der genannte Rechtfertigungsmodus zum Einsatz kommt. Tatsächlich zeichnen die Paratexte ein faszinierendes Bild der übersetzenden Frauen und ihrer (zumeist männlichen) Herausgeber und Unterstützer. Der Tonfall schwingt zwischen Demut und Selbstbewusstsein hin und her, immer darauf aus, die literarische Tätigkeit zu begründen. Diese widersprüchlichen Zwischenspiele illustriert Sanmann am Beispiel von Marie-Élisabeth de La Fite am deutlichsten. La Fite hat La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim ins Französische übersetzt und Änderungen vorgenommen. Es handelt sich dabei augenscheinlich um Details – an einer markanten Stelle fügt sie eine „Note de la Traductrice“ ein, um das Verhalten einer Figur zu kontextualisieren, weil sie Unterhaltung der weiblichen Romanfiguren über die Probleme der Ehe als zu kritisch bewertet. Gleichzeitig lässt sie eine Fußnote Wielands weg, die ursprünglich dazu diente, eine andere kontrovers anmutende Passage abzumildern und nimmt Auslassungen vor, die patriarchalen Gedankengängen entgegenlaufen.
Eine der vielen Stärken der Studie besteht darin, dass Sanmann diese Widersprüche und Unebenheiten nicht kaschiert, sondern bewusst ein Licht darauf wirft. Die Ansichten, Überzeugungen und Ambitionen der ausgewählten Frauen waren keineswegs homogen und spiegeln so die Widersprüche ihres Zeitalters wider. Protofeministische, gesellschaftskritische Elemente gehen mit konservativen, misogynen Elementen einher (Luise Gottsched sind beispielsweise alle anderen schreibenden Frauen ihrer Generation höchst suspekt). Die Übersetzerinnen gewinnen an Komplexität, auch weil deutlich wird, welch ein Minenfeld an gesellschaftlichen und eigenen Ansprüchen diese navigieren mussten.
Sophie von La Roche ist die bekannteste der vier Frauen, was ihr Kapitel nicht zwangsläufig am interessantesten macht, aber doch am bemerkenswertesten. Im Zentrum steht die Übersetzung von Fanny de Beauharnais’ Moins que rien ou Rêveries d’une Marmotte, die in der Zeitschrift unter dem Titel Weniger als nichts oder Träumerey einer Marmotte von Madame de Beauharnais (1783) erschien. Sophie von La Roche bezeichnet die Übersetzung als treue Übertragung, obgleich sie eindeutig belegbare Eingriffe vornimmt – darunter Einfügungen, Auslassungen und Intensivierungen, die laut Sanmann die leicht protofeministische Tendenzen des Originals verstärken. Als Beispiel dient die Verwendung des Begriffs „Weltbürgerin“ (das Bedürfnis zu gendern, hatten Frauen anscheinend bereits vor über 250 Jahren), der im Original so nicht vorkommt und in La Roches Übersetzung erstmalig als Motiv in der deutschsprachigen Literatur auftaucht. La Roche verwendet ihn als Gegenstück zum exklusiv männlichen Ideal des „Kosmopoliten“ und kreiert ein völlig anderes Weiblichkeitsideal als der Originaltext, der eine Form des weiblichen Patriotismus zeichnet.
Nicht weniger aufschlussreich ist eine weitere Übersetzung, die Sanmann ebenfalls La Roche zuschreibt. Bei dem Text Uebung gerechter Menschenliebe von Joseph dem zweyten in Europa – und in Amerika von einem Quaker Antoine Benezet (1783) handelt es sich um eine verdeckte Übersetzung, um eine „Originalitätsfiktion“, die sich in Wahrheit als eine freie Übersetzung von Jean de Crèvecoeurs Lettres d’un Cultivateur Américain entpuppt, weshalb sie laut Sanmann wohl bislang von der Forschung übersehen wurde. Der fiktive französischsprachige Brief eines Amerika-Reisenden behandelt die Befreiung eines Sklaven – ein Thema, das zu dem Zeitpunkt im deutschsprachigen Raum wenig präsent war. Damit, so Sanmann, müsse „der Beginn der deutschsprachigen Rezeption von Crèvecoeurs abolitionistisch motivierter Geschichte deutlich vordatiert werden“. Sanmann positioniert La Roches Übersetzung sehr effektvoll im direkten Vergleich mit anderen Übersetzungen des 18. Jahrhunderts. Dabei illustriert allein ein recht simpler Vergleich der Titel die völlig unterschiedliche übersetzerische Herangehensweise. Johann Ernst Kolbs unverständlicher Titel Das erste im Merkur eingerückte Stück (1788) und J. A. E. Götzes trockenes Der Quaker Miflin und sein Neger (1789) klingen ganz anders als La Roches etwas umständlicher, aber größer gedachter Titel, der laut Sanmann eine erzieherische, weltliche Lesart suggeriere.
Solche Eingriffe konnten Übersetzerinnen im 18. Jahrhundert relativ unbeachtet vornehmen, weil nur wenige überhaupt Zugang zum Original hatten oder die Originalsprache lesen konnten – ein direkter Vergleich war somit schwierig. Des Weiteren waren freie Übersetzungen vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert noch typisch, obgleich sie im Zuge des Jahrhunderts an Gültigkeit verloren. Einige Übersetzerinnen wie Gottsched oder de Stevens verkünden sehr offen, dass ihre Texte freie Übersetzungen sind, während La Fite und La Roche große Umwege einschlagen, um ihre übersetzerische Tätigkeit zu verschleiern, auch wenn es sich bei ihren Texten de facto um freie Übersetzungen handelt.
Am sichtbarsten werden die in der Studie aufgezeigten übersetzerischen Strategien im direkten Vergleich mit anderen Übersetzungen ihrer Zeit oder mit späteren bzw. posthum veröffentlichten Versionen der gleichen Übersetzung – vor allem bei Marianne Wilhelmine de Stevens. De Stevens literarische Tätigkeit geriet vollständig in Vergessenheit und wurde von der Forschung weitestgehend ignoriert, obwohl die Übersetzerin zu Lebzeiten durchaus bekannt war, auch dank ihrer sensationstauglichen Lebensgeschichte: Im Alter von zwölf Jahren verlor sie ihr Augenlicht und war seitdem bei allen schriftlichen Tätigkeiten, auch beim Anfertigen ihrer Übersetzungen ins Deutsche, auf die Hilfe anderer angewiesen. Sanmann untersucht de Stevens Versübersetzung von Christian Fürchtegott Gellerts Fabeln und Erzählungen (Fables & Contes, 1777), die in dem Jahrhundert vielfach übersetzt worden sind. Sanmann zeigt anhand ausgewählter Beispiele, wie de Stevens (und nicht nur sie) ganz bewusst den misogynen Tonfall des Originals dämpft. Im Rahmen ihrer selbstbewusst freien Übersetzung ändere de Stevens, schreibt Sanmann, „diejenigen Aspekte, die tradierte Geschlechterrollen, die Institution der Ehe oder das Phänomen der Blindheit betreffen“.
Ein Beispiel für diese Praxis ist ihre Übersetzung der Fabel Lisette, die von einer erblindeten Frau handelt, deren frustrierter Ehemann eine Affäre mit der Pflegerin seiner Frau beginnt. Während sich im Original abfällig über den Verlust der Schönheit und die Bedürftigkeit der Ehefrau geäußert wird, sind solche Stereotypisierungen in der Übersetzung nicht oder nur in Maßen zu finden. Erstaunlich ist hier der direkte Vergleich zweier Fassungen von de Stevens, eine frühe von 1775 und die Druckfassung von 1778, der deutlich macht, welche minimalen, aber doch höchst aufschlussreichen Überarbeitungen de Stevens selbst im Nachhinein noch an ihrer Übersetzung vorgenommen hat. So wird beispielsweise die Pflegerin an einer Stelle der Druckfassung nicht wie zuvor als „rivale“ (franz.) stilisiert, sondern schlicht mit ihrem Namen „Eléonore“ versehen, was laut Sanmann weniger den Fokus auf den Konkurrenzkampf der beiden Frauen, sondern auf den ehebrecherischen Mann rücke.
Übersetzerischer Interventionen dieser Art deuten auf eine bewusste, strategische Lenkung der Interpretation der Texte. Sanmann wendet sich mit einer Mischung aus feministisch geprägter Aufdeckungsarbeit und übersetzungshistorischem Interesse den bislang übersehenden übersetzerischen Aktivitäten dieser Frauen zu:
Wenn die Zusammenschau dieser Elemente kein in sich geschlossenes Tableau ergibt, sondern ein Mosaik aus Fragmenten und Leerstellen, so erweisen sich auch die Widersprüchlichkeit und die Disparatheit als aufschlussreich, sei es das Fehlen einer systematischen Übersetzungstheorie aus weiblicher Feder oder der unklare textgenetische Status vieler mutmaßlich von Frauen verfasster Übersetzungen. In solchen Lücken und offenen Fragen spiegelt sich die fehlende Selbstverständlichkeit weiblicher intellektueller Tätigkeit insgesamt.
Sanmanns Leistung besteht nicht nur darin, die verschiedenen Haltungen im Kontext der einzelnen Lebenswerke dieser Frauen zu betrachten, sondern besagte „Fragmente und Leerstellen“ überhaupt erst zu identifizieren und ihnen eine schlüssige Bedeutung zuzuweisen. Ihre Herangehensweise besteht aus einem dezidierten Close Reading, das von einer vergleichenden Übersetzungskritik untermauert wird. Sanmann dringt tief ins Detail und zieht alle möglichen anderen Spuren und Zeugnisse heran, die Aufschlüsse über das Leben und Schaffen dieser Frauen geben könnten. Dabei zeigt sie, dass man nicht nur bewusst zwischen den Zeilen lesen muss, sondern auch, dass bewusst zwischen den Zeilen übersetzt wurde.
Mit ihrer Studie trägt Sanmann dazu bei, die klaffenden Lücken in der (weiblichen) Übersetzungshistorie zu füllen. Konkret bedeutet dies, dass Sanmann beispielsweise nicht nur der bisher unbeachteten Marianne Wilhelmine de Stevens ein Kapitel widmet, sondern auch für die Sichtbarkeit von La Roches übersetzerischer Tätigkeit sorgt. Erst das Sichtbarmachen der übersetzerischen Leistung kann ein voll umfassendes Bild der Kreativität und literarischen Raffinesse dieser Frauen schaffen. Festgehalten werden muss trotzdem (und das betont auch die Studie), dass es sich bei diesen Frauen um Ausnahmeerscheinungen handelt – nur wenige konnten es sich leisten, ihre Meinungen und politischen Anliegen in die Zwischenzeilen einer Übersetzung zu packen. Sicherlich verfügten auch nicht alle über das Geschick und die Ambitionen, ihre Übersetzungen mit einer eigenen Stimme zu versehen. Dafür war die übersetzerische Praxis als eine der wenigen Möglichkeiten des Broterwerbs für Frauen zu essenziell und das Risiko groß. Das Selbstverständnis dieser Frauen und deren literarischen Tätigkeiten wurde von einer Vielzahl an Faktoren beeinflusst und bestimmt. Diesen ganzen Verwicklungen gerecht zu werden und sie als solche zu identifizieren, ist eine große Ambition der Studie – ein Unterfangen, das gelingt und die genannten Frauen in einem anderen Licht erscheinen lässt.
Die Tätigkeit des Übersetzens wird nicht in einem zeitlosen Vakuum ausgeübt, sondern geschieht direkt im Zentrum der kulturpolitischen Debatten der Zeit. Sanmann erkennt die Signifikanz des übersetzenden Individuums an, das – obgleich die Intention einer objektiven Annäherung an den Text bestehen mag – ihre Lebenswelt und ihre Anschauungen in den Text mit einfließen lässt. Auch wenn Übersetzerinnen nicht auf dem Titelblatt stehen, so sind sie im Text doch erkennbar, wie Sanmann mit Die andere Kreativität unter Beweis stellt. Das Übersetzen ist somit keine bloße Form des Dienens, sondern immer auch politisch: ein subversiver Akt und ein Mittel der intellektuellen Emanzipation – vor hunderten von Jahren wie auch heute noch.