„In the Pri­son Pen“: ein Gedicht und sein Hintergrund

B. S. Orthau hat einige von Herman Melvilles kaum bekannten Gedichten ins Deutsche übertragen. Das Gedicht „In the Prison Pen“ zeigt, welch wichtige Rolle die Kenntnis der historischen Hintergründe beim Übersetzen spielt.

Von und

Portrait von Herman Melville von Joseph O. Eaton
Herman Melville, Portrait von Joseph O. Eaton (Ausschnitt). Bildquelle: Wikimedia

Was hat Her­man Mel­ville mit Gedich­ten zu tun? Man kennt sei­ne gro­ßen Erzäh­lun­gen, Moby-Dick; or, The Wha­le vor allem, kennt viel­leicht auch Tex­te wie Bart­le­by oder Beni­to Cere­no, aber nur weni­ge wis­sen, dass er eben­falls zahl­rei­che Gedich­te geschrie­ben hat. Man kennt den eigen­wil­li­gen Poe­ten gewöhn­lich „nur“ als Erzäh­ler, aber er hät­te es ver­dient, auch als Lyri­ker bekannt zu sein. Dou­glas Robil­lard, der ame­ri­ka­ni­sche Her­aus­ge­ber sei­ner Gedich­te, meint, dass „allein die Qua­li­tät, Viel­falt und impo­nie­ren­de Ener­gie sei­ner Gedich­te ihm einen pro­mi­nen­ten Platz in der US-Lite­ra­tur“ sichern soll­ten, selbst wenn es sein Pro­sa-Werk nicht gäbe, und viel­leicht gilt das auch für die Lite­ra­tur überhaupt.

Mel­ville wur­de 1819 gebo­ren und hat­te im Alter von unge­fähr 27 Jah­ren, nach­dem er fünf Jah­re zur See gefah­ren war, zwei Süd­see-Rei­se­be­rich­te ver­öf­fent­licht, deren Erfolg ihn wohl dar­in bestärk­te, die Lauf­bahn eines Schrift­stel­lers ein­zu­schla­gen. So ent­stand – er hat­te inzwi­schen gehei­ra­tet und war mit sei­ner Frau auf eine Farm bei Pitts­field gezo­gen, wo er Freund­schaft mit dem in der Nähe woh­nen­den Natha­ni­el Hawt­hor­ne schloss – zwi­schen 1849 und 1851 sein Haupt­werk Moby Dick. Er konn­te damit jedoch nicht an sei­ne Erst­lings­er­fol­ge anknüp­fen. Moby Dick fand beim Publi­kum kaum posi­ti­ve Reso­nanz; kri­ti­siert wur­de vor allem eine refle­xi­ve und phi­lo­so­phi­sche Über­frach­tung des Romans. Auch die wei­te­re Pro­sa, die er bis etwa Ende der 1850er-Jah­re schrieb, fand zu sei­nen Leb­zei­ten kei­ne Aner­ken­nung. Erst in den 1920er-Jah­ren, eine Gene­ra­ti­on nach sei­nem Tod, wur­de Mel­ville als Erzäh­ler von der Kri­tik ent­deckt und Bil­ly Budd wur­de sogar erst in die­ser Zeit post­hum publi­ziert. Die zögern­de Aus­ein­an­der­set­zung mit Mel­vil­les Lyrik begann im deut­schen Sprach­raum, teil­wei­se allein auf lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­cher Ebe­ne, um 1950, aber bis heu­te sind sei­ne Gedich­te dem brei­te­ren Publi­kum kaum bekannt.

Es mag Spe­ku­la­ti­on blei­ben, war­um Mel­ville nach einer sehr inten­si­ven Tätig­keit als Erzäh­ler begann, sich der Lyrik zuzu­wen­den. Man kann wohl anneh­men, dass es ihm dar­um ging, sich vor sich selbst als Dich­ter zu bestä­ti­gen, und viel­leicht auch dar­um, sich vor dem Publi­kum wenigs­tens auf einem ande­ren Gebiet als dem zu bewei­sen, auf dem ihm Aner­ken­nung ver­sagt geblie­ben war. Berück­sich­ti­gen muss man ver­mut­lich aber genau­so, dass sich Mel­ville gegen Ende der 1850er-Jah­re auf­grund der kom­mer­zi­el­len Miss­erfol­ge sei­ner Roma­ne und Erzäh­lun­gen allein aus den Erträ­gen, die sei­ne Farm abwarf, kaum in der Lage sah, sei­ne Fami­lie – er und sei­ne Frau hat­ten mitt­ler­wei­le vier Kin­der – zu ernäh­ren und ruhig und bestän­dig aus­schließ­lich an einem grö­ße­ren Pro­jekt wie etwa einem Roman zu arbei­ten; die lite­ra­ri­sche Form des Gedichts war mut­maß­lich bes­ser mit sei­nen Lebens­um­stän­den ver­ein­bar. Er ver­kauf­te näm­lich 1863 sei­ne Farm und ging nach New York zurück, wo er von 1866 bis 1885 als Inspek­tor beim Zoll arbeitete.


Mit den Batt­le-Pie­ces, sei­nem 1866 ver­öf­fent­lich­ten ers­ten Gedicht­band, nahm er Bezug auf den Sezes­si­ons­krieg. Vie­les an den dar­in ent­hal­te­nen Gedich­ten wird erst ver­ständ­lich und nach­voll­zieh­bar, wenn man wenigs­tens in Grund­zü­gen die his­to­ri­schen Ereig­nis­se kennt. Den­noch muss man sich im Ein­zel­fall stär­ker in die His­to­rie der Ereig­nis­se ver­tie­fen, um allen auf­tre­ten­den Bezü­gen und Aspek­ten gerecht wer­den zu können.

Mel­ville moch­te wohl schon seit Aus­bruch des Krie­ges 1861 die Idee zu die­sem Band mit sich her­um­ge­tra­gen haben. Er war für ihn wohl so etwas wie ein Log­buch des Krie­ges, obgleich man schwer­lich davon aus­ge­hen kann, dass die Gedich­te in unmit­tel­ba­rem zeit­li­chen Zusam­men­hang mit den Ereig­nis­sen ent­stan­den, auf die sie sich bezie­hen. Rich­tig zu schrei­ben begann er wohl erst nach dem Fall von Rich­mond im Jahr 1865. Aber auch wenn er sich oft auf zeit­ge­schicht­li­che Quel­len, Zei­tungs­be­rich­te etc. bezog, ist erkenn­bar, dass er nicht nur als Chro­nist schrieb, son­dern eige­nes inne­res Erle­ben ver­ar­bei­te­te. Er sah den Sezes­si­ons­krieg in ers­ter Linie als Bru­der­krieg, als „üblen Fre­vel der Mensch­heit“, der Schat­ten auf das Ide­al der Grün­der­vä­ter eines Staa­tes frei­er und glei­cher Men­schen, „der Welt schöns­te Hoff­nung“ 1 warf, wobei Mel­ville trotz allem kei­nen Zwei­fel dar­an ließ, dass die Nord­staa­ten die rich­ti­ge, die gerech­te Sache ver­tra­ten. Er erkann­te zugleich sehr deut­lich die ande­re Art eines nun maschi­ni­sier­ten und tech­ni­sier­ten Krie­ges. Die­se zeig­te sich für ihn vor allem im Nie­der­gang der Segel­schiff­fahrt und im Wan­del des alten See­krie­ges zur See­schlacht gepan­zer­ter Dampf­schif­fe, zur krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit „Kur­bel, Dreh­mo­ment, Schrau­be“, wie er das in einem ande­ren Gedicht nannte.

Zugleich geht er aber auch ein auf das Elend und die Not, die der Krieg mit sich brach­te, und ver­mut­lich hoff­te er auf so etwas wie die „Läu­te­rung der Nati­on“ durch die Schre­cken der Ereig­nis­se; viel­leicht hat er sich und sei­ne Gedich­te in die­sem Zusam­men­hang gese­hen, und wir müs­sen auch sein Gedicht „In the Pri­son Pen“ von 1864 (D. Robil­lard, Ed., The Poems of Her­man Mel­ville, Kent, Ohio und Lon­don 2000) in die­sen Zusam­men­hang stellen:

In the Pri­son Pen

List­less he eyes the pali­sa­des
And sent­ries in the gla­re;
’Tis bar­ren as a peli­can-beach
But his world is ended the­re.

Not­hing to do; and vacant hands
Bring on the idi­ot-pain;
He tri­es to think – to recoll­ect,
But the blur is on his brain.

Around him swarm the plai­ning ghosts
Like tho­se on Virgil’s shore –
A wil­der­ness of faces dim,
And pale ones gas­hed and hoar.

A smit­ing sun. No shed, no tree;
He tot­ters to his lair –
A den that sick hands dug in earth
Ere fami­ne was­ted the­re,

Or, drop­ping in his place, he swoons,
Wal­led in by throngs that press,
Till forth from the throngs they bear him dead –
Dead in his meagerness.

Im Gefan­ge­nen­la­ger

Anteils­los beäugt er Pali­sa­den, Wachen,
Auf die grell das Son­nen­licht fällt;
Öd ist’s und kahl wie ein Peli­kan-Strand –
Doch hier ist das End’ sei­ner Welt.

Nichts zu tun; und des Schwach­sinns Pein
Geht ein­her mit untä­ti­ger Hand;
Er ver­sucht zu den­ken – sich zu erin­nern,
Doch dun­kel bleibt sein Ver­stand.

Um ihn drän­gen abstump­fen­de Geis­ter,
Jenen an Ver­gils Küs­te gleich –
Eine Wild­nis düst’rer grau­er Gesich­ter,
Blu­tig von Wun­den und bleich.

Quä­len­de Sonn’, kein Schat­ten, kein Baum;
Er wankt zu sei­ner Lager­statt –
Ein Loch, gegra­ben, krank, mit Hän­den,
Damals, als man noch wurd’ satt,

Oder sinkt ohn­mäch­tig hin auf der Stell,
Als ob das Gedrän­ge erdrückt ihn hätt’,
Und tot ber­gen sie ihn aus der Meng’ –
Tot, abge­ma­gert zum Ske­lett.

Ü: B. S. Orthau

Dem Leser – und genau­so dem Über­set­zer – der sich zum ers­ten Mal mit die­sem Gedicht befasst und sei­ne Kennt­nis­se über Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger aus alten Hol­ly­wood-Fil­men oder aus Erzäh­lun­gen des Vaters oder Groß­va­ters von der ‚ame­ri­ka­ni­schen‘ Gefan­gen­schaft bezieht, der in einer Ket­chup-Fabrik arbei­ten oder Offi­ziers­fa­mi­li­en die Wän­de strei­chen muss­te, wird man­ches dar­in selt­sam vor­kom­men. Es käme ihm wohl kaum in den Sinn, dass die in die­sem Gedicht geschil­der­ten Zustän­de Rea­li­tät gewe­sen sein könnten.

Was also ist mit dem Ver­weis auf das Ende der Welt für den Gefan­ge­nen an einem öden „Peli­kan-Strand“ anzu­fan­gen? Man mag hier­zu­lan­de einen Peli­kan-Strand viel­leicht in Ver­bin­dung mit den ekli­gen Stel­len am Schwa­nen­wei­her im Stadt­park brin­gen, wo die Vögel am Ufer hau­sen, aber wie­so kann ein Gefan­ge­nen­la­ger an einem Strand, einem Ufer lie­gen und was meint für den Gefan­ge­nen das Ende sei­ner Welt? Sei­ner Welt als Sol­dat? Oder wenn es exis­ten­zi­el­ler gemeint ist, war­um? Was hat es auf sich mit den „untä­ti­gen Hän­den“ und der „Idio­ten-Pein“, also dem Schwach­sinn? War­um kann ein Gefan­ge­ner nicht mehr den­ken, sich nicht mehr erin­nern? Was hat es mit den „plai­ning ghosts“ gleich denen an Ver­gils Küs­te auf sich, außer dass sie eine erneu­te Umschrei­bung für den dro­hen­den Schwach­sinn sein könn­ten und zudem auf eine Stel­le in der Gött­li­chen Komö­die zu ver­wei­sen schei­nen? Oder sind die blu­ti­gen und blei­chen Gesich­ter, die den Gefan­ge­nen umge­ben, die der Kame­ra­den in ver­gan­ge­nen Schlach­ten in sei­ner Erin­ne­rung oder gar die der andern Kriegs­ge­fan­ge­nen? Und war­um soll­ten die­se dann blu­tig sein? War­um haust der Gefan­ge­ne in einem damals, bevor der Hun­ger aus­brach oder wüte­te, von Hän­den gegra­be­nen Loch? Wie kann es sein, dass Gefan­ge­ne über­haupt hun­ger­ten, und war­um zieht man den, von dem hier die Rede ist, zum Ske­lett abge­ma­gert aus der Men­ge, als ob sie ihn zer­drückt hät­te? Wie kön­nen sol­che Zustän­de in den USA zur Zeit Lin­colns über­haupt so ein­ge­tre­ten sein? Oder ist das Gan­ze eher in einem über­tra­ge­nen Sinn gemeint, sind die Aus­sa­gen also in einem andern Sinn zu verstehen?

Tat­säch­lich macht H. Mel­ville mit sei­nem Gedicht auf die huma­ni­tä­re Kata­stro­phe auf­merk­sam, als die die Gefan­ge­nen­la­ger sowohl der Nord- als auch der Süd­staa­ten im Sezes­si­ons­krieg zu sehen waren. Bei genaue­rer Betrach­tung wird zugleich deut­lich, dass die Bru­ta­li­tät der Zustän­de dort nicht aus Bos­heit und Vor­satz resul­tier­te, son­dern aus der Unbe­darft­heit und Über­for­de­rung der für sie Ver­ant­wort­li­chen. Das mag kei­ne mora­li­sche Ent­las­tung sein, aber es macht immer­hin ver­ständ­lich, wie es zu den im Gedicht beschrie­be­nen Zustän­den kom­men konn­te, macht damit auch das Gedicht verständlicher.

Die Nord- und die Süd­staa­ten waren zu Beginn des Krie­ges auf die Unter­brin­gung von Kriegs­ge­fan­ge­nen gänz­lich unvor­be­rei­tet. Nach der Beschie­ßung von Fort Sum­ter gin­gen bei­de Sei­ten noch davon aus, dass der Krieg in weni­gen Mona­ten zu Ende wäre; die Frei­las­sung der gesam­ten Gar­ni­son durch die Süd­staa­ten nach der Über­ga­be des Forts sah man noch als eine Art Selbst­ver­ständ­lich­keit. Bis zur Ers­ten Manas­sas-Schlacht im Juli 1861, der ers­ten grö­ße­ren Aus­ein­an­der­set­zung des Krie­ges (im Nor­den bekannt als Ers­te Schlacht am Bull Run), wur­den von den Kon­fö­de­rier­ten Gefan­ge­ne auf Ehren­wort ent­las­sen; sie durf­ten erst wie­der kämp­fen, wenn sie for­mell gegen eine glei­che Anzahl feind­li­cher Gefan­ge­ner aus­ge­tauscht waren. Die anfangs noch rit­ter­li­che Hal­tung der Süd­staa­ten änder­te sich jedoch bald, zumal es kei­ne ganz­heit­li­che Erfas­sung und Kon­trol­le des Aus­tauschs gab und Behör­den und Bevöl­ke­rung durch die Aus­sicht auf durch­zie­hen­de ent­las­se­ne, mög­li­cher­wei­se sogar nicht ein­mal ent­waff­ne­te Sol­da­ten der Gegen­sei­te ver­un­si­chert waren.

Im Nor­den brauch­te es eini­ge Zeit, bis gefan­gen genom­me­ne Kon­fö­de­rier­te über­haupt als Kriegs­ge­fan­ge­ne betrach­tet wur­den. Nach Lin­colns und manch ande­rer Ansicht war der Süden immer noch Teil der Uni­on, Kon­fö­de­rier­te waren daher Lan­des­ver­rä­ter, die kein Anrecht auf Behand­lung als Kriegs­ge­fan­ge­ne hat­ten. Die­se Hal­tung ver­hin­der­te zugleich jeg­li­chen Aus­tausch. Erst die Dro­hung der Kon­fö­de­ra­ti­on, es wür­de für jeden gehäng­ten Süd­staat­ler ein gefan­ge­ner Yan­kee hin­ge­rich­tet, sowie erheb­li­cher öffent­li­cher und poli­ti­scher Druck änder­ten Lin­colns Auffassung.

Ein dann geplan­tes und anfäng­lich wohl auch rea­li­sier­tes Pro­gramm des gere­gel­ten Aus­tauschs blieb aber in Pro­ble­men ste­cken: Bei­de Sei­ten waren auf den erfor­der­li­chen Auf­wand nicht gefasst und die Süd­staa­ten wei­ger­ten sich, kriegs­ge­fan­ge­ne far­bi­ge Sol­da­ten als gleich­wer­tig mit wei­ßen anzuerkennen.

Das Libby-Gefängnis im April 1865
Das Libby-Gefäng­nis im April 1865, Bild­quel­le: Wiki­me­dia

Gefan­ge­ne wur­den zunächst hin­ter der Front zu Sam­mel­stel­len gebracht und dann von Zwi­schen­la­gern wie Point Look­­out in Mary­land oder dem spä­ter so berüch­tig­ten Libby-Gefäng­nis in Rich­mond aus tief ins Lan­des­in­ne­re ver­legt. Nach dem Zusam­men­bruch des Aus­tausch­sys­tems konn­te die rapi­de anstei­gen­de Anzahl von Gefan­ge­nen erst recht nicht mehr bewäl­tigt wer­den. Okto­ber 1861 wur­de von den Nord­staa­ten das ers­te spe­zi­ell ein­ge­rich­te­te Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger auf der John­son-Insel im Erie-See in Ohio eröff­net. Das Lager soll­te 1000 Gefan­ge­ne auf­neh­men. Die Unzu­läng­lich­keit der Pla­nun­gen zeig­te sich spä­tes­tens im Febru­ar 1862, als nach dem Fall von Fort Donel­son über 15000 Gefan­ge­ne gemacht wur­den. Allein das erfor­der­te die Errich­tung von vier Ersatz­la­gern in India­na, Illi­nois und Ohio, von über­be­leg­ten Gefäng­nis­sen und ande­ren Unter­brin­gungs­mög­lich­kei­ten ganz zu schwei­gen. Im Süden wur­den eini­ge neue Lager, dar­un­ter Camp Sum­ter in der Nähe von Ander­son­ville, Geor­gia, errich­tet, aber auch dort vege­tier­ten bald 33000 Men­schen zusam­men­ge­pfercht auf engs­tem Raum dahin. Die meis­ten Gefan­ge­nen wur­den hin­ein­ge­stopft, wo gera­de noch Platz war, ob auf einer kah­len Insel im James-Fluss, an die Mel­ville in sei­nen Ver­sen wohl eben­falls gedacht hat, oder in Libby’s Tabak­la­ger in Rich­mond. Das war ein ehe­ma­li­ges Kauf­haus und Tabak­la­ger, das als Gefan­ge­nen­la­ger genutzt und (in einem andern Gedicht von Mel­ville) als „Brut­kas­ten“ bezeich­net wurde.

Die Lager waren dem­zu­fol­ge meist völ­lig über­be­legt, dre­ckig, unhy­gie­nisch, vol­ler Unge­zie­fer und für die Insas­sen ein Mar­ty­ri­um. Uni­for­men und Beklei­dung wur­den bald zu Lum­pen. Mit der Ernäh­rung stand es nicht bes­ser, wobei aller­dings oft kaum Unter­schie­de bestan­den zur Ver­kös­ti­gung der eige­nen kämp­fen­den Män­ner. Das Fleisch war häu­fig ver­dor­ben, das Brot vol­ler Maden und ver­schim­melt. Die zuge­teil­ten Men­gen mach­ten kaum satt. Das Trink­was­ser stamm­te nicht sel­ten aus ver­seuch­ten, von Lage­r­ab­fäl­len und Fäka­li­en ver­un­rei­nig­ten Brun­nen oder Was­ser­läu­fen. Es kam zu Seu­chen und Man­gel­krank­hei­ten. Im Lager Elmi­ra bei New York tra­ten in drei Mona­ten 1800 Skor­but­fäl­le auf; in Fort Dela­ware erkrank­ten über zehn Pro­zent der Gefan­ge­nen daran.

Im Süden waren die Ver­hält­nis­se nicht viel bes­ser. Der Mili­tär­arzt Joseph Jones schrieb über Andersonville: 

Auf­grund der Über­be­le­gung, der unhy­gie­ni­schen Lebens­wei­se, der schlech­ten Ernäh­rung und des ent­mu­tig­ten, depri­mier­ten Zustands ist die Ver­fas­sung der Gefan­ge­nen der­art ange­schla­gen, dass die kleins­te Haut­ab­schür­fung von einem drü­cken­den Schuh, auf­grund von Son­nen­brand oder Mos­ki­to­sti­chen in eini­gen Fäl­len zu einer rapi­den und beängs­ti­gen­den Ver­ei­te­rung, sogar zum Wund­brand führte.

Die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung war jäm­mer­lich. Alle Lager besa­ßen nicht gera­de vor­bild­li­che Laza­ret­te, aber das von Ander­son­ville (Camp Sum­ter) spot­te­te jeder Beschrei­bung. Es war ein Are­al außer­halb des Lagers, wo Kran­ke und Ver­wun­de­te auf Stroh­hau­fen oder Bret­tern unter offe­nem Him­mel lagen. Mil­lio­nen von Flie­gen schwärm­ten über die Kran­ken. Selbst in Gefäng­nis­la­za­ret­ten wie Camp Dou­glas in Illi­nois lag die Sterb­lich­keits­ra­te schon bei sechs Todes­fäl­len pro Tag; in Ander­son­ville herrsch­ten beson­ders extre­me Ver­hält­nis­se und hier war die Sterb­lich­keits­ra­te bedeu­tend höher.

Andersonville (Camp Sumter)
Ander­son­ville (Camp Sum­ter), Foto vom 17. August 1864, Bild­quel­le: Wiki­me­dia

Die Män­ner hat­ten dar­über hin­aus mit Lan­ge­wei­le, Heim­weh und Hoff­nungs­lo­sig­keit zu kämp­fen. Um sich abzu­len­ken, schrie­ben die meis­ten Gefan­ge­nen so oft wie mög­lich. Aber Papier war knapp, beson­ders im Süden, vie­le baten ihre Ange­hö­ri­gen um Zusen­dung von Brief­pa­pier, aber mit der Zeit muss­ten eini­ge Lager­kom­man­dan­ten den Brief­ver­kehr wegen Über­las­tung der Zen­so­ren ein­schrän­ken. „Die Lei­den des Kör­pers waren nichts im Ver­gleich zu denen des Geis­tes“, schrieb ein Gefan­ge­ner aus New Hamp­shire. Unsi­cher­heit, Iso­la­ti­on, Ver­zweif­lung und feh­len­de Nach­rich­ten von drau­ßen „hat­ten alle eine depri­mie­ren­de Wir­kung auf den Geist, und letzt­end­lich wur­den vie­le ver­rückt“. Vie­le gaben ein­fach auf und star­ben.2

Offen­sicht­lich waren also die von Mel­ville in sei­nem Gedicht ange­spro­che­nen Zustän­de dras­ti­sche Rea­li­tät und man mag sogar sei­ne Meis­ter­schaft bewun­dern, mit der er für Lager wie denen auf der Insel im Erie-See oder im St. James-Fluss mit dem „Peli­kan-Strand“ auf die von Fäka­li­en ver­un­rei­nig­ten Ufer und all das auf­merk­sam macht, was man sich dar­aus an Fol­gen für die Hygie­ne oder ein­fach die Ver­wahr­lo­sung der Gefan­ge­nen vor­stel­len kann. Aber, und das ist wohl etwas, auf das man zunächst noch weni­ger gefasst war als den Hun­ger, das mate­ri­el­le und gesund­heit­li­che Elend, unter dem die Gefan­ge­nen lit­ten, auch die geis­ti­ge Situa­ti­on der Gefan­ge­nen wird als Not- und Grenz­si­tua­ti­on dar­ge­stellt: Lager wur­den auf­grund der genann­ten Bedin­gun­gen genau­so zur geis­ti­gen Öde.

Die ein­ge­tre­te­nen geis­ti­gen Zustän­de sind viel­leicht mit Sym­pto­men des Hos­pi­ta­lis­mus oder des Delirs ver­gleich­bar; das Delir geht mit Stö­run­gen der Auf­merk­sam­keit und des Bewusst­seins, mit Beein­träch­ti­gun­gen cere­bra­ler Funk­tio­nen ein­her und kann sich bei Inten­siv­pa­ti­en­ten und – je nach Art des Ein­griffs – bei chir­ur­gi­schen Pati­en­ten im Kran­ken­haus in Ver­bin­dung mit dem kör­per­li­chen Zustand inner­halb kur­zer Zeit ent­wi­ckeln. Es hat eine erhöh­te Sterb­lich­keit, einen län­ge­ren Kran­ken­haus­auf­ent­halt und schlech­te­re Behand­lungs­er­geb­nis­se zur Fol­ge und hin­ter­lässt teil­wei­se auch nach sei­ner Über­win­dung kogni­ti­ve Störungen.

Kaum ver­wun­der­lich also, wenn Mel­ville die Gefan­ge­nen umge­ben sieht von Gestal­ten, wie sie Ver­gil dem Dich­ter der Gött­li­chen Komö­die nach der Über­fahrt über den Ache­ron am andern Ufer zeigt, und in der Tat, auch die Gefan­ge­nen befan­den sich in einer Art Toten­reich, dem Leben ent­ho­ben, umge­ben von Wahn­bil­dern, von schreck­li­chen Gestal­ten und schreck­li­chen Gedan­ken an einem schreck­li­chen Ort, vom Tod durch Hun­ger, durch Krank­heit und Seu­chen, durch selbst kleins­te Ver­let­zun­gen bedroht, wie der oben zitier­te Mili­tär­arzt aus­führ­te: Es war für sie, aller Hoff­nun­gen beraubt, buch­stäb­lich das Ende ihres Daseins, ihrer Welt.

Kann so das Gedicht durch die Kennt­nis der beleg­ten his­to­ri­schen Gege­ben­hei­ten bes­ser erschlos­sen, ver­stan­den wer­den, kann es auch ent­spre­chend über­setzt oder über­tra­gen wer­den, und die oben wie­der­ge­ge­be­ne Über­tra­gung (ver­öf­fent­licht in: H. Mel­ville, Aus­ge­wähl­te Gedich­te, über­tra­gen von B. S. Ort­hau, Nor­der­stedt 2016) mag einen geeig­ne­ten Ver­such darstellen.

Jen­seits aller Erwä­gun­gen, die sich im kon­kre­ten Fall auch auf die Fra­ge rich­ten mögen, inwie­weit for­ma­le und inhalt­li­che Aspek­te in einer Über­tra­gung glei­cher­ma­ßen Berück­sich­ti­gung fin­den kön­nen, erhebt sich hier die Fra­ge, wie sehr ein Gedicht vor dem Hin­ter­grund sei­ner Ent­ste­hungs­zeit und der ent­spre­chen­den his­to­ri­schen Bedin­gun­gen gese­hen wer­den muss oder ob sei­ne Bedeu­tung sich eher dar­aus ergibt, dass es zeit­los etwas über all­ge­mei­ne mensch­li­che Grund­si­tua­tio­nen und ‑pro­ble­me aus­zu­sa­gen ver­mag. Hier wird – genau­so wie bei andern Gele­gen­hei­ten, zu denen etwa auch der Ver­such von N. Hum­melt gehört, in sei­ner Über­tra­gung Eli­ots The Was­te Land zu aktua­li­sie­ren (man ver­glei­che die Kri­ti­ken zum Bei­spiel hier) – zumin­dest deut­lich, dass vor allem Gedich­te, die inhalt­lich selbst auf his­to­ri­sche Gege­ben­hei­ten Bezug neh­men, auch in die­sen Zusam­men­hän­gen gese­hen, aus die­sen Zusam­men­hän­gen her­aus ver­stan­den wer­den müs­sen, weil erst aus dem sich erge­ben­den Ver­ständ­nis all­ge­mei­ne Ein­sich­ten oder Bedeu­tun­gen ableit­bar sind.

Die­se könn­ten sich bei Mel­ville rich­ten auf den Anspruch jedes Ein­zel­nen, und sei er noch so gering, auf Huma­ni­tät und huma­ne Behand­lung und die Unent­schuld­bar­keit der Miss­ach­tung die­ses Prin­zips, selbst wenn die­se Miss­ach­tung viel­leicht nicht gewollt ist, eher durch mensch­li­che Unfä­hig­keit und man­geln­de Vor­aus­sicht und schließ­lich durch die Umstän­de selbst ein­tritt, all­ge­mei­ner auch auf die grund­le­gen­de Pro­ble­ma­tik von (Bürger-)Kriegen und ihren Fol­gen, die eben nicht beherrsch­bar sind. Dem­zu­fol­ge sind die­se Zusam­men­hän­ge grund­sätz­lich auch beim Über­set­zen zu sehen, wenn eine Über­tra­gung nicht ver­fälscht, miss­ver­ständ­lich wer­den soll. Es ent­steht aller­dings oft das Pro­blem, dass Ereig­nis­se, zeit­ge­bun­de­ne kul­tu­rel­le oder sozia­le Aspek­te, auf die im Ori­gi­nal Bezug genom­men wird, nicht in jedem Sprach­kreis in glei­cher Wei­se prä­sent sein müs­sen, wor­aus dann nicht uner­heb­li­che Pro­ble­me für eine Über­tra­gung ent­ste­hen kön­nen. Sie darf ja das Ori­gi­nal nicht zusätz­lich erklä­ren, son­dern muss sich an das hal­ten, was der Dich­ter vor­ge­ge­ben hat. Dann hilft eben nur, geson­dert auf sol­che Aspek­te hinzuweisen.


Erschie­nen waren die Batt­le-Pie­ces in einer Auf­la­ge von 1200 Exem­pla­ren, 500 wur­den in den ers­ten zehn Jah­ren ver­kauft, heißt es. Auch die wei­te­ren Arbei­ten von Mel­ville konn­ten kaum etwas dar­an ändern, dass sei­ne Lyrik – wie zuvor sei­ne Pro­sa – kaum wahr­ge­nom­men wur­de. Sei­ne letz­ten bei­den Gedicht­bän­de, John Marr and Other Sail­ors und Timo­le­on, Etc., erschie­nen dann nur noch in klei­ner Privatauflage.

Als Mel­ville 1891 starb, war er als Dich­ter und Autor fast völ­lig ver­ges­sen. Man mag „L’Envoi“, das Gedicht, das er ans Ende von Timo­le­on, Etc. gestellt hat und in dem er das Ende einer Pil­ger­fahrt mit aller Erfah­rung der Schre­cken der Welt, das „Heim­kom­men“, begrüßt, als Lie­bes­er­klä­rung an sei­ne Frau betrach­ten, als Aus­druck der Ein­sicht, dass Glück letzt­lich nur im Pri­va­ten gefun­den wer­den kann. Man muss es aber auch als resi­gnier­ten Abge­sang eines Dich­ters sehen, dem die ver­dien­te Aner­ken­nung zu Leb­zei­ten – und wir kön­nen heu­te hin­zu­fü­gen, auch lan­ge nach sei­nem Tod – ver­sagt geblie­ben war und von dem heu­te immer noch eini­ges zu ent­de­cken gilt.

  1. vgl. Misgivings/Böse Ahnun­gen, https://lyricstranslate.com/de/misgivings-böse-ahnungen.html (24. 02. 2021) 
  2. vgl. http://www.bigcountry.de/index.php?Seite=/amerikanischer-buergerkrieg.htm (06. 10. 2017)

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