Was hat Herman Melville mit Gedichten zu tun? Man kennt seine großen Erzählungen, Moby-Dick; or, The Whale vor allem, kennt vielleicht auch Texte wie Bartleby oder Benito Cereno, aber nur wenige wissen, dass er ebenfalls zahlreiche Gedichte geschrieben hat. Man kennt den eigenwilligen Poeten gewöhnlich „nur“ als Erzähler, aber er hätte es verdient, auch als Lyriker bekannt zu sein. Douglas Robillard, der amerikanische Herausgeber seiner Gedichte, meint, dass „allein die Qualität, Vielfalt und imponierende Energie seiner Gedichte ihm einen prominenten Platz in der US-Literatur“ sichern sollten, selbst wenn es sein Prosa-Werk nicht gäbe, und vielleicht gilt das auch für die Literatur überhaupt.
Melville wurde 1819 geboren und hatte im Alter von ungefähr 27 Jahren, nachdem er fünf Jahre zur See gefahren war, zwei Südsee-Reiseberichte veröffentlicht, deren Erfolg ihn wohl darin bestärkte, die Laufbahn eines Schriftstellers einzuschlagen. So entstand – er hatte inzwischen geheiratet und war mit seiner Frau auf eine Farm bei Pittsfield gezogen, wo er Freundschaft mit dem in der Nähe wohnenden Nathaniel Hawthorne schloss – zwischen 1849 und 1851 sein Hauptwerk Moby Dick. Er konnte damit jedoch nicht an seine Erstlingserfolge anknüpfen. Moby Dick fand beim Publikum kaum positive Resonanz; kritisiert wurde vor allem eine reflexive und philosophische Überfrachtung des Romans. Auch die weitere Prosa, die er bis etwa Ende der 1850er-Jahre schrieb, fand zu seinen Lebzeiten keine Anerkennung. Erst in den 1920er-Jahren, eine Generation nach seinem Tod, wurde Melville als Erzähler von der Kritik entdeckt und Billy Budd wurde sogar erst in dieser Zeit posthum publiziert. Die zögernde Auseinandersetzung mit Melvilles Lyrik begann im deutschen Sprachraum, teilweise allein auf literaturwissenschaftlicher Ebene, um 1950, aber bis heute sind seine Gedichte dem breiteren Publikum kaum bekannt.
Es mag Spekulation bleiben, warum Melville nach einer sehr intensiven Tätigkeit als Erzähler begann, sich der Lyrik zuzuwenden. Man kann wohl annehmen, dass es ihm darum ging, sich vor sich selbst als Dichter zu bestätigen, und vielleicht auch darum, sich vor dem Publikum wenigstens auf einem anderen Gebiet als dem zu beweisen, auf dem ihm Anerkennung versagt geblieben war. Berücksichtigen muss man vermutlich aber genauso, dass sich Melville gegen Ende der 1850er-Jahre aufgrund der kommerziellen Misserfolge seiner Romane und Erzählungen allein aus den Erträgen, die seine Farm abwarf, kaum in der Lage sah, seine Familie – er und seine Frau hatten mittlerweile vier Kinder – zu ernähren und ruhig und beständig ausschließlich an einem größeren Projekt wie etwa einem Roman zu arbeiten; die literarische Form des Gedichts war mutmaßlich besser mit seinen Lebensumständen vereinbar. Er verkaufte nämlich 1863 seine Farm und ging nach New York zurück, wo er von 1866 bis 1885 als Inspektor beim Zoll arbeitete.
Mit den Battle-Pieces, seinem 1866 veröffentlichten ersten Gedichtband, nahm er Bezug auf den Sezessionskrieg. Vieles an den darin enthaltenen Gedichten wird erst verständlich und nachvollziehbar, wenn man wenigstens in Grundzügen die historischen Ereignisse kennt. Dennoch muss man sich im Einzelfall stärker in die Historie der Ereignisse vertiefen, um allen auftretenden Bezügen und Aspekten gerecht werden zu können.
Melville mochte wohl schon seit Ausbruch des Krieges 1861 die Idee zu diesem Band mit sich herumgetragen haben. Er war für ihn wohl so etwas wie ein Logbuch des Krieges, obgleich man schwerlich davon ausgehen kann, dass die Gedichte in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit den Ereignissen entstanden, auf die sie sich beziehen. Richtig zu schreiben begann er wohl erst nach dem Fall von Richmond im Jahr 1865. Aber auch wenn er sich oft auf zeitgeschichtliche Quellen, Zeitungsberichte etc. bezog, ist erkennbar, dass er nicht nur als Chronist schrieb, sondern eigenes inneres Erleben verarbeitete. Er sah den Sezessionskrieg in erster Linie als Bruderkrieg, als „üblen Frevel der Menschheit“, der Schatten auf das Ideal der Gründerväter eines Staates freier und gleicher Menschen, „der Welt schönste Hoffnung“ 1 warf, wobei Melville trotz allem keinen Zweifel daran ließ, dass die Nordstaaten die richtige, die gerechte Sache vertraten. Er erkannte zugleich sehr deutlich die andere Art eines nun maschinisierten und technisierten Krieges. Diese zeigte sich für ihn vor allem im Niedergang der Segelschifffahrt und im Wandel des alten Seekrieges zur Seeschlacht gepanzerter Dampfschiffe, zur kriegerischen Auseinandersetzung mit „Kurbel, Drehmoment, Schraube“, wie er das in einem anderen Gedicht nannte.
Zugleich geht er aber auch ein auf das Elend und die Not, die der Krieg mit sich brachte, und vermutlich hoffte er auf so etwas wie die „Läuterung der Nation“ durch die Schrecken der Ereignisse; vielleicht hat er sich und seine Gedichte in diesem Zusammenhang gesehen, und wir müssen auch sein Gedicht „In the Prison Pen“ von 1864 (D. Robillard, Ed., The Poems of Herman Melville, Kent, Ohio und London 2000) in diesen Zusammenhang stellen:
In the Prison Pen
Listless he eyes the palisades
And sentries in the glare;
’Tis barren as a pelican-beach
But his world is ended there.
Nothing to do; and vacant hands
Bring on the idiot-pain;
He tries to think – to recollect,
But the blur is on his brain.
Around him swarm the plaining ghosts
Like those on Virgil’s shore –
A wilderness of faces dim,
And pale ones gashed and hoar.
A smiting sun. No shed, no tree;
He totters to his lair –
A den that sick hands dug in earth
Ere famine wasted there,
Or, dropping in his place, he swoons,
Walled in by throngs that press,
Till forth from the throngs they bear him dead –
Dead in his meagerness.
Im Gefangenenlager
Anteilslos beäugt er Palisaden, Wachen,
Auf die grell das Sonnenlicht fällt;
Öd ist’s und kahl wie ein Pelikan-Strand –
Doch hier ist das End’ seiner Welt.
Nichts zu tun; und des Schwachsinns Pein
Geht einher mit untätiger Hand;
Er versucht zu denken – sich zu erinnern,
Doch dunkel bleibt sein Verstand.
Um ihn drängen abstumpfende Geister,
Jenen an Vergils Küste gleich –
Eine Wildnis düst’rer grauer Gesichter,
Blutig von Wunden und bleich.
Quälende Sonn’, kein Schatten, kein Baum;
Er wankt zu seiner Lagerstatt –
Ein Loch, gegraben, krank, mit Händen,
Damals, als man noch wurd’ satt,
Oder sinkt ohnmächtig hin auf der Stell,
Als ob das Gedränge erdrückt ihn hätt’,
Und tot bergen sie ihn aus der Meng’ –
Tot, abgemagert zum Skelett.
Ü: B. S. Orthau
Dem Leser – und genauso dem Übersetzer – der sich zum ersten Mal mit diesem Gedicht befasst und seine Kenntnisse über Kriegsgefangenenlager aus alten Hollywood-Filmen oder aus Erzählungen des Vaters oder Großvaters von der ‚amerikanischen‘ Gefangenschaft bezieht, der in einer Ketchup-Fabrik arbeiten oder Offiziersfamilien die Wände streichen musste, wird manches darin seltsam vorkommen. Es käme ihm wohl kaum in den Sinn, dass die in diesem Gedicht geschilderten Zustände Realität gewesen sein könnten.
Was also ist mit dem Verweis auf das Ende der Welt für den Gefangenen an einem öden „Pelikan-Strand“ anzufangen? Man mag hierzulande einen Pelikan-Strand vielleicht in Verbindung mit den ekligen Stellen am Schwanenweiher im Stadtpark bringen, wo die Vögel am Ufer hausen, aber wieso kann ein Gefangenenlager an einem Strand, einem Ufer liegen und was meint für den Gefangenen das Ende seiner Welt? Seiner Welt als Soldat? Oder wenn es existenzieller gemeint ist, warum? Was hat es auf sich mit den „untätigen Händen“ und der „Idioten-Pein“, also dem Schwachsinn? Warum kann ein Gefangener nicht mehr denken, sich nicht mehr erinnern? Was hat es mit den „plaining ghosts“ gleich denen an Vergils Küste auf sich, außer dass sie eine erneute Umschreibung für den drohenden Schwachsinn sein könnten und zudem auf eine Stelle in der Göttlichen Komödie zu verweisen scheinen? Oder sind die blutigen und bleichen Gesichter, die den Gefangenen umgeben, die der Kameraden in vergangenen Schlachten in seiner Erinnerung oder gar die der andern Kriegsgefangenen? Und warum sollten diese dann blutig sein? Warum haust der Gefangene in einem damals, bevor der Hunger ausbrach oder wütete, von Händen gegrabenen Loch? Wie kann es sein, dass Gefangene überhaupt hungerten, und warum zieht man den, von dem hier die Rede ist, zum Skelett abgemagert aus der Menge, als ob sie ihn zerdrückt hätte? Wie können solche Zustände in den USA zur Zeit Lincolns überhaupt so eingetreten sein? Oder ist das Ganze eher in einem übertragenen Sinn gemeint, sind die Aussagen also in einem andern Sinn zu verstehen?
Tatsächlich macht H. Melville mit seinem Gedicht auf die humanitäre Katastrophe aufmerksam, als die die Gefangenenlager sowohl der Nord- als auch der Südstaaten im Sezessionskrieg zu sehen waren. Bei genauerer Betrachtung wird zugleich deutlich, dass die Brutalität der Zustände dort nicht aus Bosheit und Vorsatz resultierte, sondern aus der Unbedarftheit und Überforderung der für sie Verantwortlichen. Das mag keine moralische Entlastung sein, aber es macht immerhin verständlich, wie es zu den im Gedicht beschriebenen Zuständen kommen konnte, macht damit auch das Gedicht verständlicher.
Die Nord- und die Südstaaten waren zu Beginn des Krieges auf die Unterbringung von Kriegsgefangenen gänzlich unvorbereitet. Nach der Beschießung von Fort Sumter gingen beide Seiten noch davon aus, dass der Krieg in wenigen Monaten zu Ende wäre; die Freilassung der gesamten Garnison durch die Südstaaten nach der Übergabe des Forts sah man noch als eine Art Selbstverständlichkeit. Bis zur Ersten Manassas-Schlacht im Juli 1861, der ersten größeren Auseinandersetzung des Krieges (im Norden bekannt als Erste Schlacht am Bull Run), wurden von den Konföderierten Gefangene auf Ehrenwort entlassen; sie durften erst wieder kämpfen, wenn sie formell gegen eine gleiche Anzahl feindlicher Gefangener ausgetauscht waren. Die anfangs noch ritterliche Haltung der Südstaaten änderte sich jedoch bald, zumal es keine ganzheitliche Erfassung und Kontrolle des Austauschs gab und Behörden und Bevölkerung durch die Aussicht auf durchziehende entlassene, möglicherweise sogar nicht einmal entwaffnete Soldaten der Gegenseite verunsichert waren.
Im Norden brauchte es einige Zeit, bis gefangen genommene Konföderierte überhaupt als Kriegsgefangene betrachtet wurden. Nach Lincolns und manch anderer Ansicht war der Süden immer noch Teil der Union, Konföderierte waren daher Landesverräter, die kein Anrecht auf Behandlung als Kriegsgefangene hatten. Diese Haltung verhinderte zugleich jeglichen Austausch. Erst die Drohung der Konföderation, es würde für jeden gehängten Südstaatler ein gefangener Yankee hingerichtet, sowie erheblicher öffentlicher und politischer Druck änderten Lincolns Auffassung.
Ein dann geplantes und anfänglich wohl auch realisiertes Programm des geregelten Austauschs blieb aber in Problemen stecken: Beide Seiten waren auf den erforderlichen Aufwand nicht gefasst und die Südstaaten weigerten sich, kriegsgefangene farbige Soldaten als gleichwertig mit weißen anzuerkennen.
Gefangene wurden zunächst hinter der Front zu Sammelstellen gebracht und dann von Zwischenlagern wie Point Lookout in Maryland oder dem später so berüchtigten Libby-Gefängnis in Richmond aus tief ins Landesinnere verlegt. Nach dem Zusammenbruch des Austauschsystems konnte die rapide ansteigende Anzahl von Gefangenen erst recht nicht mehr bewältigt werden. Oktober 1861 wurde von den Nordstaaten das erste speziell eingerichtete Kriegsgefangenenlager auf der Johnson-Insel im Erie-See in Ohio eröffnet. Das Lager sollte 1000 Gefangene aufnehmen. Die Unzulänglichkeit der Planungen zeigte sich spätestens im Februar 1862, als nach dem Fall von Fort Donelson über 15000 Gefangene gemacht wurden. Allein das erforderte die Errichtung von vier Ersatzlagern in Indiana, Illinois und Ohio, von überbelegten Gefängnissen und anderen Unterbringungsmöglichkeiten ganz zu schweigen. Im Süden wurden einige neue Lager, darunter Camp Sumter in der Nähe von Andersonville, Georgia, errichtet, aber auch dort vegetierten bald 33000 Menschen zusammengepfercht auf engstem Raum dahin. Die meisten Gefangenen wurden hineingestopft, wo gerade noch Platz war, ob auf einer kahlen Insel im James-Fluss, an die Melville in seinen Versen wohl ebenfalls gedacht hat, oder in Libby’s Tabaklager in Richmond. Das war ein ehemaliges Kaufhaus und Tabaklager, das als Gefangenenlager genutzt und (in einem andern Gedicht von Melville) als „Brutkasten“ bezeichnet wurde.
Die Lager waren demzufolge meist völlig überbelegt, dreckig, unhygienisch, voller Ungeziefer und für die Insassen ein Martyrium. Uniformen und Bekleidung wurden bald zu Lumpen. Mit der Ernährung stand es nicht besser, wobei allerdings oft kaum Unterschiede bestanden zur Verköstigung der eigenen kämpfenden Männer. Das Fleisch war häufig verdorben, das Brot voller Maden und verschimmelt. Die zugeteilten Mengen machten kaum satt. Das Trinkwasser stammte nicht selten aus verseuchten, von Lagerabfällen und Fäkalien verunreinigten Brunnen oder Wasserläufen. Es kam zu Seuchen und Mangelkrankheiten. Im Lager Elmira bei New York traten in drei Monaten 1800 Skorbutfälle auf; in Fort Delaware erkrankten über zehn Prozent der Gefangenen daran.
Im Süden waren die Verhältnisse nicht viel besser. Der Militärarzt Joseph Jones schrieb über Andersonville:
Aufgrund der Überbelegung, der unhygienischen Lebensweise, der schlechten Ernährung und des entmutigten, deprimierten Zustands ist die Verfassung der Gefangenen derart angeschlagen, dass die kleinste Hautabschürfung von einem drückenden Schuh, aufgrund von Sonnenbrand oder Moskitostichen in einigen Fällen zu einer rapiden und beängstigenden Vereiterung, sogar zum Wundbrand führte.
Die medizinische Versorgung war jämmerlich. Alle Lager besaßen nicht gerade vorbildliche Lazarette, aber das von Andersonville (Camp Sumter) spottete jeder Beschreibung. Es war ein Areal außerhalb des Lagers, wo Kranke und Verwundete auf Strohhaufen oder Brettern unter offenem Himmel lagen. Millionen von Fliegen schwärmten über die Kranken. Selbst in Gefängnislazaretten wie Camp Douglas in Illinois lag die Sterblichkeitsrate schon bei sechs Todesfällen pro Tag; in Andersonville herrschten besonders extreme Verhältnisse und hier war die Sterblichkeitsrate bedeutend höher.
Die Männer hatten darüber hinaus mit Langeweile, Heimweh und Hoffnungslosigkeit zu kämpfen. Um sich abzulenken, schrieben die meisten Gefangenen so oft wie möglich. Aber Papier war knapp, besonders im Süden, viele baten ihre Angehörigen um Zusendung von Briefpapier, aber mit der Zeit mussten einige Lagerkommandanten den Briefverkehr wegen Überlastung der Zensoren einschränken. „Die Leiden des Körpers waren nichts im Vergleich zu denen des Geistes“, schrieb ein Gefangener aus New Hampshire. Unsicherheit, Isolation, Verzweiflung und fehlende Nachrichten von draußen „hatten alle eine deprimierende Wirkung auf den Geist, und letztendlich wurden viele verrückt“. Viele gaben einfach auf und starben.2
Offensichtlich waren also die von Melville in seinem Gedicht angesprochenen Zustände drastische Realität und man mag sogar seine Meisterschaft bewundern, mit der er für Lager wie denen auf der Insel im Erie-See oder im St. James-Fluss mit dem „Pelikan-Strand“ auf die von Fäkalien verunreinigten Ufer und all das aufmerksam macht, was man sich daraus an Folgen für die Hygiene oder einfach die Verwahrlosung der Gefangenen vorstellen kann. Aber, und das ist wohl etwas, auf das man zunächst noch weniger gefasst war als den Hunger, das materielle und gesundheitliche Elend, unter dem die Gefangenen litten, auch die geistige Situation der Gefangenen wird als Not- und Grenzsituation dargestellt: Lager wurden aufgrund der genannten Bedingungen genauso zur geistigen Öde.
Die eingetretenen geistigen Zustände sind vielleicht mit Symptomen des Hospitalismus oder des Delirs vergleichbar; das Delir geht mit Störungen der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins, mit Beeinträchtigungen cerebraler Funktionen einher und kann sich bei Intensivpatienten und – je nach Art des Eingriffs – bei chirurgischen Patienten im Krankenhaus in Verbindung mit dem körperlichen Zustand innerhalb kurzer Zeit entwickeln. Es hat eine erhöhte Sterblichkeit, einen längeren Krankenhausaufenthalt und schlechtere Behandlungsergebnisse zur Folge und hinterlässt teilweise auch nach seiner Überwindung kognitive Störungen.
Kaum verwunderlich also, wenn Melville die Gefangenen umgeben sieht von Gestalten, wie sie Vergil dem Dichter der Göttlichen Komödie nach der Überfahrt über den Acheron am andern Ufer zeigt, und in der Tat, auch die Gefangenen befanden sich in einer Art Totenreich, dem Leben enthoben, umgeben von Wahnbildern, von schrecklichen Gestalten und schrecklichen Gedanken an einem schrecklichen Ort, vom Tod durch Hunger, durch Krankheit und Seuchen, durch selbst kleinste Verletzungen bedroht, wie der oben zitierte Militärarzt ausführte: Es war für sie, aller Hoffnungen beraubt, buchstäblich das Ende ihres Daseins, ihrer Welt.
Kann so das Gedicht durch die Kenntnis der belegten historischen Gegebenheiten besser erschlossen, verstanden werden, kann es auch entsprechend übersetzt oder übertragen werden, und die oben wiedergegebene Übertragung (veröffentlicht in: H. Melville, Ausgewählte Gedichte, übertragen von B. S. Orthau, Norderstedt 2016) mag einen geeigneten Versuch darstellen.
Jenseits aller Erwägungen, die sich im konkreten Fall auch auf die Frage richten mögen, inwieweit formale und inhaltliche Aspekte in einer Übertragung gleichermaßen Berücksichtigung finden können, erhebt sich hier die Frage, wie sehr ein Gedicht vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit und der entsprechenden historischen Bedingungen gesehen werden muss oder ob seine Bedeutung sich eher daraus ergibt, dass es zeitlos etwas über allgemeine menschliche Grundsituationen und ‑probleme auszusagen vermag. Hier wird – genauso wie bei andern Gelegenheiten, zu denen etwa auch der Versuch von N. Hummelt gehört, in seiner Übertragung Eliots The Waste Land zu aktualisieren (man vergleiche die Kritiken zum Beispiel hier) – zumindest deutlich, dass vor allem Gedichte, die inhaltlich selbst auf historische Gegebenheiten Bezug nehmen, auch in diesen Zusammenhängen gesehen, aus diesen Zusammenhängen heraus verstanden werden müssen, weil erst aus dem sich ergebenden Verständnis allgemeine Einsichten oder Bedeutungen ableitbar sind.
Diese könnten sich bei Melville richten auf den Anspruch jedes Einzelnen, und sei er noch so gering, auf Humanität und humane Behandlung und die Unentschuldbarkeit der Missachtung dieses Prinzips, selbst wenn diese Missachtung vielleicht nicht gewollt ist, eher durch menschliche Unfähigkeit und mangelnde Voraussicht und schließlich durch die Umstände selbst eintritt, allgemeiner auch auf die grundlegende Problematik von (Bürger-)Kriegen und ihren Folgen, die eben nicht beherrschbar sind. Demzufolge sind diese Zusammenhänge grundsätzlich auch beim Übersetzen zu sehen, wenn eine Übertragung nicht verfälscht, missverständlich werden soll. Es entsteht allerdings oft das Problem, dass Ereignisse, zeitgebundene kulturelle oder soziale Aspekte, auf die im Original Bezug genommen wird, nicht in jedem Sprachkreis in gleicher Weise präsent sein müssen, woraus dann nicht unerhebliche Probleme für eine Übertragung entstehen können. Sie darf ja das Original nicht zusätzlich erklären, sondern muss sich an das halten, was der Dichter vorgegeben hat. Dann hilft eben nur, gesondert auf solche Aspekte hinzuweisen.
Erschienen waren die Battle-Pieces in einer Auflage von 1200 Exemplaren, 500 wurden in den ersten zehn Jahren verkauft, heißt es. Auch die weiteren Arbeiten von Melville konnten kaum etwas daran ändern, dass seine Lyrik – wie zuvor seine Prosa – kaum wahrgenommen wurde. Seine letzten beiden Gedichtbände, John Marr and Other Sailors und Timoleon, Etc., erschienen dann nur noch in kleiner Privatauflage.
Als Melville 1891 starb, war er als Dichter und Autor fast völlig vergessen. Man mag „L’Envoi“, das Gedicht, das er ans Ende von Timoleon, Etc. gestellt hat und in dem er das Ende einer Pilgerfahrt mit aller Erfahrung der Schrecken der Welt, das „Heimkommen“, begrüßt, als Liebeserklärung an seine Frau betrachten, als Ausdruck der Einsicht, dass Glück letztlich nur im Privaten gefunden werden kann. Man muss es aber auch als resignierten Abgesang eines Dichters sehen, dem die verdiente Anerkennung zu Lebzeiten – und wir können heute hinzufügen, auch lange nach seinem Tod – versagt geblieben war und von dem heute immer noch einiges zu entdecken gilt.
- vgl. Misgivings/Böse Ahnungen, https://lyricstranslate.com/de/misgivings-böse-ahnungen.html (24. 02. 2021)
- vgl. http://www.bigcountry.de/index.php?Seite=/amerikanischer-buergerkrieg.htm (06. 10. 2017)