Es gibt etwa 7000 Sprachen auf der Welt, doch nur ein winziger Bruchteil davon wird ins Deutsche übersetzt. Wir interviewen Menschen, die Werke aus unterrepräsentierten und ungewöhnlichen Sprachen übersetzen und uns so Zugang zu wenig erkundeten Welten verschaffen. Alle Beiträge der Rubrik findet ihr hier.
Sie übersetzen aus dem Rumänischen ins Deutsche und umgekehrt. Wie haben Sie beide Sprachen gelernt?
Mein Geburtsort Cluj-Napoca (dt. Klausenburg) gehört zu Siebenbürgen, wo es eine deutsche Minderheit gibt. Ich habe dort einen deutschen Kindergarten und eine deutsche Schule besucht und später an der Universität Babeș-Bolyai Angewandte Fremdsprachen und an der Universität Osnabrück Germanistik studiert. Die Dozent:innen haben uns vermittelt, dass wir als zukünftige Übersetzer:innen beide Sprachen möglichst auf muttersprachlichem Niveau beherrschen sollten, um Feinheiten übertragen zu können. Mittlerweile verstehe ich, was damit gemeint ist. Es reicht nicht, die Muttersprache in- und auswendig zu kennen, wenn man kein Gespür für die zweite Sprache hat. Durch das Übersetzen in beide Richtungen habe ich das Gefühl, meinen sprachlichen Horizont permanent erweitern zu können.
Wie sieht die rumänische Literaturszene aus?
Bunt. Wie ein Basar, auf dem es allerlei zu entdecken gibt, allerdings keine Meterware, eher Unikate. Was mich begeistert, ist, dass der rumänische Büchermarkt sich gerade zu öffnen scheint. Den Verlagen ist bewusst geworden, dass sich das lesende Publikum verändert hat und mit ihm der Bedarf an neuerer Literatur. Die etablierten Schriftsteller:innen gibt es immer noch. Hinzugekommen sind jüngere, frische Stimmen, die – ohne sich selbst zu zensieren – direkt und offen Themen behandeln, die sie beschäftigen. Seien es Erkrankungen (Diana Bădică, Ioana Stăncescu), Erfahrungen in der Arbeitswelt (Mihai Radu, Lavinia Braniște) oder familiäre Konflikte (Maria Orban, Bogdan Coșa, Simona Goșu). Diese Schriftsteller:innen schreiben aus einem anderen Blickwinkel auch über die Migration innerhalb von Europa und thematisieren dabei deren Wirkung auf das Individuum und sein Umfeld (Irina Nechit, Mircea Țuglea). Zusätzlich gab es in letzter Zeit einige vielversprechende Debüts im Bereich der Genreliteratur, historische, Liebes- und Fantasy-Romane. Es ist toll, diese Werke im Buchladen neben den etablierten Autor:innen stehen zu sehen.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
- Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit von M. Blecher (1909–1938), das als Meilenstein der mitteleuropäischen Moderne gilt. Der Roman wurde von Ernest Wichner übersetzt, in einem ausführlichen Nachwort begründet Herta Müller die große Bedeutung dieses Buches.
- Der Unfall von Mihail Sebastian, aus dem Rumänischen von Georg Aescht, erschienen im Claassen Verlag. Wegen seiner Herkunft diskriminiert, wurde der jüdische Autor erst lange nach seinem Tod (1945) wiederentdeckt, obwohl er zu Lebzeiten eng mit Autoren wie Ionesco, Eliade und Cioran befreundet war. Der Unfall gilt als sein bedeutendster Roman.
- Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt: Tagebücher 1935–1944, Mihail Sebastians Tagebücher, von Edward Kanterian und Roland Erb übersetzt und ebenfalls im Claassen Verlag erschienen. Ein aufwühlendes Zeugnis der Menschlichkeit, das mit Victor Klemperers Tagebüchern vergleichbar ist, weil es das damalige Leben unter Verfolgung und wachsender Todesgefahr dokumentiert.
- Humbug und Variationen von Ion Luca Caragiale, ein Klassiker der rumänischen Literatur, der aufgrund seiner sprachlichen Komplexität als unübersetzbar galt, erschien in Eva-Ruth Wemmes Übersetzung.
- Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte von Tatiana Țîbuleac, einer aus Moldawien stammenden Schriftstellerin, welcher 2019 der Europäische Preis für Literatur verliehen wurde. Der Roman handelt von einer letzten Mutter-Sohn-Begegnung, bei dem sich Hass in Liebe verwandelt. Er wurde vor kurzem in Ernest Wichners Übersetzung veröffentlicht.
Was ist noch nicht übersetzt?
Ganz viel. Zum Beispiel Sofia Nădejde, eine der ersten Feministinnen in Rumänien. Nach ihr wurde der in 2018 ins Leben gerufene Preis für Frauenliteratur benannt. Oder Cella Serghi, die trotz der männlichen Dominanz zu einer der wichtigsten Autor:innen der Zwischenkriegszeit wurde.
In der Gegenwartsliteratur gibt es eine Reihe von Schriftsteller:innen, die von Beziehungen, Scheidungen, Enttäuschung und Alltag in der postkommunistischen Gesellschaft erzählen – und dabei zugleich die komplexen psychologischen Strukturen in den Blick nehmen. Vielleicht werden in Zukunft auch einige der folgenden Namen den deutschen Leser:innen etwas sagen: Octavian Soviany, Ioana Crețoiu, Cecilia Ștefănescu, Radu Paraschivescu.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Rumänischen?
Sobald es um landestypische Speisen und Traditionen geht, wird es schnell herausfordernd. Aber auch kirchliche Bräuche lassen sich oft nicht auf Anhieb vermitteln. Zu guter Letzt ist Rumänisch eine bunte, mit lauter Flüchen und Schimpfwörtern gewürzte Sprache.
Wie gehen Sie mit diesen Schwierigkeiten um?
Wenn es zum Beispiel um traditionelle Gerichte geht, bevorzuge ich es, die rumänische Bezeichnung zu übernehmen. Die Leser:innen können einfach darüber hinweglesen oder die Erklärung im Glossar oder in der Fußnote finden, wenn sie neugierig sind. Eine Alternative wäre, ein deutsches Äquivalent zu finden. Aber diese Methode hat sich für mich nicht bewährt. Denn das ist so, als würde man darauf bestehen, sich eine viel zu enge oder breite Jeans anzuziehen, nur weil man seine Größe nicht findet. Dann bleibe ich lieber meiner alten Jeans treu.
Was kann Rumänisch, was Deutsch nicht kann?
Die rumänische Sprache war lange Zeit starken Restriktionen ausgesetzt. Die rumänischen Autor:innen mussten erfinderisch werden, wollten sie veröffentlichen. Sie waren gezwungen, nach Formulierungen und Sprachbildern zu suchen, durch die sie ihre Ideen zum Ausdruck bringen konnten, ohne dass sie durch die Zensur fielen. Diesen Zugang zum Schreiben haben die Schriftsteller:innen, ob bewusst oder nicht, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs beibehalten und an die nachfolgende Generation weitergegeben. Gleichzeitig ist es jetzt aber auch möglich, vom ganzen sprachlichen Fundus Gebrauch machen und ohne Bedenken über die Grenzen jener „dezenten“ Sprache hinausgehen, z. B. wirklich vielfältig zu fluchen. Rumänische Schimpfwörter und Flüche sind ein Kapitel für sich, irgendwie herrscht da eine Besessenheit von Sexualisierung, egal ob männlicher oder weiblicher Sprecher, das Glied wird überall reingesteckt, selbst in den Leichenschmaus, und überhaupt hat man Geschlechtsverkehr mit allem, was einen ärgert, selbst mit einer Zwiebel. Weder der Duden noch das Grimm’sche Wörterbuch, geschweige denn eine Übersetzungssoftware, können mir in solchen Fällen zur Hilfe kommen. Und dann stellt man sich die Frage, wie im Himmel übersetze ich f*** den Himmel deiner Mutter ins Deutsche? Ist es verdammt, verflixt oder eher Himmelherrgott noch mal?
Andererseits habe ich das Gefühl, dass sich die rumänische Gesellschaft und mit ihr die sprachlichen Ausdrucksformen in einer Transition befinden. Die rumänische Sprache erneuert sich, wird lebendiger und passt sich den Bedürfnissen der Menschen an. Für mich als Übersetzerin ist der Transfer gerade solcher Eigenheiten mitunter heikel. So spricht meine Autorin, Lavinia Braniște, in ihrem Roman Sonia meldet sich von dem „Weitweg“, das einen einholen kann, das über einen hereinbricht und einen verrückt macht. Dabei nutzt sie ein im Rumänischen bislang nicht existierendes Substantiv, welches sie aus einem Adverb abgeleitet hat. Sicherlich wäre es möglich gewesen, die rumänische Neuschöpfung „departele“ mit „Entfernung“ oder „Vergangenheit“ zu übersetzen. Aber ich finde es schön und bereichernd, zu zeigen, wie Braniște über die Grenzen der Sprache hinausgeht. Also habe ich das „Weitweg“ erfunden.
Die rumänische Literatur ist äußerst menschenorientiert. Und das liebe ich. In den meisten Fällen dreht sich ein Roman oder eine Kurzgeschichte, selbst die Lyrik, um die persönlichen, intimen Erfahrungen und Empfindungen. Mithilfe oft autobiografischer Details transferieren die Schriftsteller:innen eine individuelle Geschichte auf eine z. B. soziale oder politische Ebene. Oder halt auch nicht. Es wird den Leser:innen überlassen, zwischen den Zeilen zu lesen. Obwohl Rumänien nach europäischen Werten strebt, ist die hiesige Literatur bislang „exotisch“ geblieben. Sie geht weniger von Konzepten aus und beschäftigt sich im Kern einerseits mit dem Leben von Menschen, die an lokalen Traditionen und alteingesessenen Denkmustern festhalten und anderseits mit der Reflexion, der Betrachtung dieser Individuen und der Gesellschaft, in der sie leben. Besonders die jüngeren Schriftsteller:innen sind dabei ausgezeichnete Beobachter:innen, weil sie dem Neuen sehr offen entgegentreten.
In manchen Rezensionen rumänischer Neuerscheinungen wird ein Hang zur Übertreibung bemängelt, in der Darstellung von Elend und Misere, aber auch von Glück. Ich persönlich mag diese Eigenheit, die emotionale Seite der rumänischen Sprache und hoffe, dass sich die rumänischen Schriftsteller:innen nicht durch stilistische und thematische Erwartungen einschüchtern lassen.
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