Selbst­fin­dung in der Banlieue

Auf der Suche nach Identität: Fatima Daas und Sina de Malafosse haben den Internationalen Literaturpreis für „Die jüngste Tochter“ erhalten. Ein Blick ins Buch. Von

Metro in Paris
Fatima Daas lässt auf ihrem täglichen Pendelweg im Großraum Paris die Gedanken schweifen. Bild: Louis Paulin auf Unsplash

Die jüngs­te Toch­ter ist der Debüt­ro­man der jun­gen Schrift­stel­le­rin Fati­ma Daas, in Frank­reich 2020 ein über­ra­schen­der Best­sel­ler und von vie­len Sei­ten in den höchs­ten Tönen gelobt. Die Erfolgs­au­torin Vir­gi­nie Despen­tes sprach sogar von einem Update von Bar­thes und Mau­riac für Clichy-sous-bois, der Pari­ser Vor­stadt, in der die Prot­ago­nis­tin des Romans lebt. Auch im deutsch­spra­chi­gen Raum erhielt das Buch viel Auf­merk­sam­keit, nicht zuletzt, weil Fati­ma Daas und ihre Über­set­ze­rin Sina de Mal­a­fo­s­se jüngst mit dem Inter­na­tio­na­len Lite­ra­tur­preis, ver­ge­ben vom Haus der Kul­tu­ren der Welt in Ber­lin, aus­ge­zeich­net wurden.

Die Prot­ago­nis­tin Fati­ma Daas ist eine jun­ge Frau Ende zwan­zig, Asth­ma­ti­ke­rin, gläu­bi­ge Mus­li­min, Fran­zö­sin und Alge­rie­rin, Außen­sei­te­rin und inti­me Beob­ach­te­rin, in der Schu­le ver­hal­tens­auf­fäl­lig und zugleich Vor­zei­ge­en­ke­lin beim Besuch der Groß­fa­mi­lie in Alge­ri­en, zärt­li­che Lieb­ha­be­rin und unauf­ge­reg­te Erzäh­le­rin, homo­se­xu­ell mit aner­zo­ge­ner Homo­pho­bie. Dass die­se auf den ers­ten Blick unver­ein­ba­ren Aspek­te ein Span­nungs­ver­hält­nis erzeu­gen, ist wenig über­ra­schend. Doch die­ses inhalt­li­che Fun­da­ment allein macht das Buch noch lan­ge nicht zu dem, was es ist.

Bei Die jüngs­te Toch­ter han­delt es sich laut Umschlag um einen Roman, doch die­se Bezeich­nung könn­te eini­ge Lese­rin­nen und Leser auf eine fal­sche Fähr­te locken oder gar ent­täu­schen. Viel­mehr han­delt es sich um eine Anein­an­der­rei­hung ein­zel­ner Abschnit­te, meist nur weni­ge Sei­ten lang, in rhyth­mi­scher und knap­per Spra­che – ein moder­nes Pro­sa­ge­dicht, das skiz­zen­haft, aber den­noch prä­zi­se eine Frau por­trä­tiert, die aus all den Facet­ten ihres Daseins eine Iden­ti­tät zu kon­stru­ie­ren ver­sucht. Es ist kein Zufall, dass die titel­ge­ben­de jüngs­te Toch­ter den Namen der Autorin trägt: Fati­ma Daas. Die Par­al­le­le zwi­schen Roman­fi­gur und Autorin ist durch den glei­chen Namen nicht zu über­se­hen, inter­es­san­ter­wei­se ist Fati­ma Daas aber ein Pseud­onym der 1995 gebo­re­nen Autorin, die mit ihr eine Kunst­fi­gur geschaf­fen hat, wel­che ihre Geschich­te auf­schreibt und teilt.

Jeder Abschnitt des Buches – mit zwei signi­fi­kan­ten Aus­nah­men – beginnt mit der glei­chen selbst­ver­ge­wis­sern­den Fest­stel­lung: „Ich hei­ße Fati­ma“ oder „Ich hei­ße Fati­ma Daas“. Dar­auf fol­gen wei­te­re Fak­ten, prä­gen­de Erleb­nis­se, Erin­ne­rungs­fet­zen, ety­mo­lo­gi­sche Anek­do­ten oder kur­ze Ein­bli­cke in das von inne­ren Kon­flik­ten gepräg­te Leben der Prot­ago­nis­tin. Abschnitt für Abschnitt setzt sich so ein Bild zusam­men, das aber nie wirk­lich voll­stän­dig wird. Fati­ma befin­det sich in einem Schwe­be­zu­stand, einem In-bet­ween, was bewirkt, dass auch der Hand­lungs­strang des Buches lose in der Luft hängt, ohne je wirk­lich kon­kret zu werden.

Für ihre Suche nach Defi­ni­tio­nen ste­hen Fati­ma eini­ge Spra­chen zur Ver­fü­gung, von denen sie Gebrauch macht und die sie – pas­send zu ihrer Per­sön­lich­keit – sprung­haft ver­mischt. Sie erzählt in der Über­set­zung meist auf Deutsch mit klei­nen Hin­wei­sen auf den fran­zö­si­schen Her­kunfts­text (z. B. flie­ßend ein­ge­bau­ter Lokal­ko­lo­rit durch Anre­den wie „Madame“ oder „Made­moi­sel­le“), aber auch auf Ara­bisch, das durch pho­ne­ti­sche Tran­skrip­ti­on in den Text ein­ge­bun­den wird. Außer­dem wer­den Eng­lisch und Spa­nisch hin und wie­der ein­ge­streut. In den unter­schied­li­chen Spra­chen sucht Fati­ma nach einer Stim­me, was die Suche nach Iden­ti­tät widerspiegelt:

Par­fois, quand je par­le algé­ri­en, on me com­prend mal ou pas du tout, alors on deman­de à ma mère : Qu’est-ce qu’elle a dit ? Qu’est-ce qu’elle a vou­lu dire par là ?

Je ne veux pas que ma mère ser­ve de média­ti­on ent­re ma famil­le et moi.

Je ne veux pas qu’elle me tra­dui­se à eux.

Je ne veux pas être étrangère.

Wenn ich Alge­risch spre­che, ver­steht man mich manch­mal schlecht oder über­haupt nicht, also wird mei­ne Mut­ter gefragt: Was hat sie gesagt? Was woll­te sie damit sagen?

Ich will nicht, dass mei­ne Mut­ter als Ver­mitt­le­rin zwi­schen mei­ner Fami­lie und mir steht.

Ich will nicht, dass sie mich ihnen über­setzt.

Ich will kei­ne Frem­de sein.

Die vie­len Spra­chen der Prot­ago­nis­tin wer­den manch­mal ohne zusätz­li­che Erläu­te­run­gen sogar inner­halb der Sät­ze gemischt. Die Stel­len sind zwar kur­siv her­vor­ge­ho­ben, aber die Sprach­wech­sel wer­den nicht wei­ter the­ma­ti­siert. Ohne die nöti­ge Sprach­kennt­nis hilft ein genau­es Erfas­sen des Kon­tex­tes, der meist alles bie­tet, was es zum Ver­ste­hen braucht.

L’imam tire sur sa bar­be à chaque fois qu’il s’apprête à par­ler.

Enco­re un trou­ble obses­si­on­nel com­pul­sif !

Wech rahé der haja mal. Elle ne souf­fri­rait pas loukèn kanè­te darèt haja mlek­ha – Ce qu’elle fait, c’est quel­que cho­se de mal. Elle n’en souf­fri­rait pas si c’était un bien pour elle.

Jedes Mal, bevor er etwas sagt, zieht der Imam an sei­nem Bart.

Noch jemand mit einer Ver­hal­tens­stö­rung!

Wech rahé der haja schlecht. Sie wür­de nicht lei­den loi­kèn kanè­te darèt haja mlek­ha.“ – Was sie tut, ist schlecht. Sie wür­de nicht lei­den, wenn es gut für sie wäre.

Auch sonst über­las­sen Fati­ma Daas und Sina de Mal­a­fo­s­se ihren Lese­rin­nen und Lesern das Zusam­men­set­zen der ein­zel­nen Frag­men­te des Tex­tes. Ihre Aus­drucks­wei­se ist kurz ange­bun­den, meist sind es ein­fa­che Haupt­sät­ze, die For­mu­lie­run­gen sind prä­zi­se, aber den­noch oft nicht ganz ein­deu­tig. So ein Schreib­stil legt alles offen und stel­len­wei­se wirkt es, als wäre ihre Suche nach Iden­ti­tät auch eine Suche nach dem pas­sends­ten Wort, das manch­mal ein­fach nicht gefun­den wer­den kann. Für die Über­set­ze­rin eine schwie­ri­ge Auf­ga­be, denn sie muss im Deut­schen Wör­ter und For­mu­lie­run­gen fin­den, die das Bedeu­tungs­spek­trum des fran­zö­si­schen Begrif­fes abde­cken, aber zugleich eben­so unein­deu­tig sind.

Je com­mence à prend­re les trans­ports régu­liè­re­ment à mes dix-huit ans.

Après un cer­tain temps je res­sens la « fati­gue des trans­ports » […].

C’est cet­te même fati­gue qui te fait pen­ser à « te rappro­cher ».

« Se rappro­cher », c’est par­tir.

Par­tir : tra­hir, renon­cer et quitter.

Mit acht­zehn fan­ge ich an, regel­mä­ßig mit den Öffent­li­chen zu fah­ren.

Nach einer Wei­le spü­re ich den „Bahn­über­druss“ […].

Die glei­che Erschöp­fung, die einen erwä­gen lässt, sich der Stadt end­gül­tig „zu nähern“.

„Sich nähern“ bedeu­tet zu gehen.

Gehen: ver­ra­ten, auf­ge­ben und verlassen.

Im Deut­schen gilt es als gro­ße Kunst, lan­ge, ver­schach­tel­te, nie enden wol­len­de Sät­ze unter Kon­trol­le zu behal­ten, doch dabei wird manch­mal ver­ges­sen, dass es genau­so schwie­rig ist, in knap­pen For­mu­lie­run­gen den Nagel auf den Kopf zu tref­fen. Eine Kunst, die Sina de Mal­a­fo­s­se in ihrer Über­set­zung meist sehr gut gelingt.

Bei einem Roman, der nicht nur optisch durch vie­le Absät­ze, son­dern auch sprach­lich stark an Lyrik erin­nert, spie­len Rhyth­mus und Klang zwangs­läu­fig eine gro­ße Rol­le. Die kur­zen Sät­ze, vie­len Ana­phern und ste­ti­gen Wie­der­ho­lun­gen bil­den in der deut­schen Über­set­zung einen ein­drucks­vol­len melo­di­schen Fluss. Außer­ge­wöhn­lich ist, dass die­ser Fluss ein Amal­gam ver­schie­de­ner Sprach­ebe­nen ist, die eigent­lich star­ke Kon­tras­te auf­zei­gen, in Sina de Mal­a­fo­s­ses Über­set­zung aber selbst­ver­ständ­lich zu einem Gan­zen ver­schmel­zen. Stel­len­wei­se tritt die Prot­ago­nis­tin als gewalt­be­rei­te Jugend­li­che auf, deren jun­ge und oft auch har­te Spra­che mit den phi­lo­so­phisch kom­ple­xen Über­le­gun­gen einer emp­find­sa­men und nach­denk­li­chen jun­gen Frau kon­tras­tiert. Dazu mischen sich Zita­te aus Hoch­li­te­ra­tur und dem Koran eben­so mühe­los wie Ver­wei­se auf Rap-Tex­te und bil­den die vie­len Facet­ten von Fati­mas Per­sön­lich­keit auch sprach­lich viel­fäl­tig ab.

Auf dickem Papier gedruckt und sehr groß­zü­gig gesetzt wirkt die deut­sche Fas­sung des Cla­as­sen Ver­lags auf den ers­ten Blick umfang­rei­cher als sie ist. Tat­säch­lich lässt sich der Text leicht in einem Schwung lesen, was bewirkt, dass die ein­zel­nen Abschnit­te, nicht chro­no­lo­gisch, aber meist im Prä­sens erzählt, etwas wirr zusam­men­ge­setzt erschei­nen. Fati­ma sucht sich Abschnitt für Abschnitt selbst, fin­det sich manch­mal, nur um im nächs­ten Abschnitt in neu­em Kon­text erneut auf die Suche zu gehen. Sina de Mal­a­fo­s­se ist in Die jüngs­te Toch­ter gelun­gen, die vie­len Sprach­ebe­nen und die facet­ten­rei­che Iden­ti­tät der Prot­ago­nis­tin stim­mig ins Deut­sche zu über­tra­gen. Durch das stän­di­ge Hin und Her der frag­men­ta­ri­schen Erzäh­lung blei­ben jedoch auch vie­le Lücken und das Gefühl ent­steht, dass Fati­ma, die Autorin, ihre Lese­rin­nen und Leser auf die glei­che Wei­se auf Distanz hält wie Fati­ma, die Roman­fi­gur, ihre Part­ne­rin­nen und Mit­men­schen. Leer­stel­len, die Lese­rin­nen und Lesern viel Raum zum Nach­den­ken bie­ten und auch nach dem Lesen noch lan­ge nachhallen.

Buchcover Die jüngste Tochter

Die jüngs­te Tochter

Im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal: La Peti­te Der­niè­re

Cla­as­sen 2021 ⋅ 192 Sei­ten ⋅ 20 Euro


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2 Comments

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    Margret Hövermann-Mittelhaus

    Hal­lo Freyja,
    auch ich möch­te die­ses Buch in den höchs­ten Tönen loben. Fati­ma Daas stellt uns eine jun­ge Frau vor, »die aus all den Facet­ten ihres Daseins eine Iden­ti­tät zu kon­stru­ie­ren ver­sucht«, und fest­stellt, dass sie zwi­schen allen Stüh­len sitzt, dar­an aber kei­nes­wegs zer­bricht! »Fati­ma befin­det sich in einem Schwe­be­zu­stand, einem In-bet­ween« viel­leicht sogar ähn­lich wie die Prot­ago­nis­tin in Anna Burns ›Milch­mann‹. Auch ein emp­feh­lens­wer­ter Roman eben­so wie ›Die jüngs­te Tochter‹.
    Lie­be Grüße
    Margret

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