Die jüngste Tochter ist der Debütroman der jungen Schriftstellerin Fatima Daas, in Frankreich 2020 ein überraschender Bestseller und von vielen Seiten in den höchsten Tönen gelobt. Die Erfolgsautorin Virginie Despentes sprach sogar von einem Update von Barthes und Mauriac für Clichy-sous-bois, der Pariser Vorstadt, in der die Protagonistin des Romans lebt. Auch im deutschsprachigen Raum erhielt das Buch viel Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil Fatima Daas und ihre Übersetzerin Sina de Malafosse jüngst mit dem Internationalen Literaturpreis, vergeben vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin, ausgezeichnet wurden.
Die Protagonistin Fatima Daas ist eine junge Frau Ende zwanzig, Asthmatikerin, gläubige Muslimin, Französin und Algerierin, Außenseiterin und intime Beobachterin, in der Schule verhaltensauffällig und zugleich Vorzeigeenkelin beim Besuch der Großfamilie in Algerien, zärtliche Liebhaberin und unaufgeregte Erzählerin, homosexuell mit anerzogener Homophobie. Dass diese auf den ersten Blick unvereinbaren Aspekte ein Spannungsverhältnis erzeugen, ist wenig überraschend. Doch dieses inhaltliche Fundament allein macht das Buch noch lange nicht zu dem, was es ist.
Bei Die jüngste Tochter handelt es sich laut Umschlag um einen Roman, doch diese Bezeichnung könnte einige Leserinnen und Leser auf eine falsche Fährte locken oder gar enttäuschen. Vielmehr handelt es sich um eine Aneinanderreihung einzelner Abschnitte, meist nur wenige Seiten lang, in rhythmischer und knapper Sprache – ein modernes Prosagedicht, das skizzenhaft, aber dennoch präzise eine Frau porträtiert, die aus all den Facetten ihres Daseins eine Identität zu konstruieren versucht. Es ist kein Zufall, dass die titelgebende jüngste Tochter den Namen der Autorin trägt: Fatima Daas. Die Parallele zwischen Romanfigur und Autorin ist durch den gleichen Namen nicht zu übersehen, interessanterweise ist Fatima Daas aber ein Pseudonym der 1995 geborenen Autorin, die mit ihr eine Kunstfigur geschaffen hat, welche ihre Geschichte aufschreibt und teilt.
Jeder Abschnitt des Buches – mit zwei signifikanten Ausnahmen – beginnt mit der gleichen selbstvergewissernden Feststellung: „Ich heiße Fatima“ oder „Ich heiße Fatima Daas“. Darauf folgen weitere Fakten, prägende Erlebnisse, Erinnerungsfetzen, etymologische Anekdoten oder kurze Einblicke in das von inneren Konflikten geprägte Leben der Protagonistin. Abschnitt für Abschnitt setzt sich so ein Bild zusammen, das aber nie wirklich vollständig wird. Fatima befindet sich in einem Schwebezustand, einem In-between, was bewirkt, dass auch der Handlungsstrang des Buches lose in der Luft hängt, ohne je wirklich konkret zu werden.
Für ihre Suche nach Definitionen stehen Fatima einige Sprachen zur Verfügung, von denen sie Gebrauch macht und die sie – passend zu ihrer Persönlichkeit – sprunghaft vermischt. Sie erzählt in der Übersetzung meist auf Deutsch mit kleinen Hinweisen auf den französischen Herkunftstext (z. B. fließend eingebauter Lokalkolorit durch Anreden wie „Madame“ oder „Mademoiselle“), aber auch auf Arabisch, das durch phonetische Transkription in den Text eingebunden wird. Außerdem werden Englisch und Spanisch hin und wieder eingestreut. In den unterschiedlichen Sprachen sucht Fatima nach einer Stimme, was die Suche nach Identität widerspiegelt:
Parfois, quand je parle algérien, on me comprend mal ou pas du tout, alors on demande à ma mère : Qu’est-ce qu’elle a dit ? Qu’est-ce qu’elle a voulu dire par là ?
Je ne veux pas que ma mère serve de médiation entre ma famille et moi.
Je ne veux pas qu’elle me traduise à eux.
Je ne veux pas être étrangère.
Wenn ich Algerisch spreche, versteht man mich manchmal schlecht oder überhaupt nicht, also wird meine Mutter gefragt: Was hat sie gesagt? Was wollte sie damit sagen?
Ich will nicht, dass meine Mutter als Vermittlerin zwischen meiner Familie und mir steht.
Ich will nicht, dass sie mich ihnen übersetzt.
Ich will keine Fremde sein.
Die vielen Sprachen der Protagonistin werden manchmal ohne zusätzliche Erläuterungen sogar innerhalb der Sätze gemischt. Die Stellen sind zwar kursiv hervorgehoben, aber die Sprachwechsel werden nicht weiter thematisiert. Ohne die nötige Sprachkenntnis hilft ein genaues Erfassen des Kontextes, der meist alles bietet, was es zum Verstehen braucht.
L’imam tire sur sa barbe à chaque fois qu’il s’apprête à parler.
Encore un trouble obsessionnel compulsif !
Wech rahé der haja mal. Elle ne souffrirait pas loukèn kanète darèt haja mlekha – Ce qu’elle fait, c’est quelque chose de mal. Elle n’en souffrirait pas si c’était un bien pour elle.
Jedes Mal, bevor er etwas sagt, zieht der Imam an seinem Bart.
Noch jemand mit einer Verhaltensstörung!
„Wech rahé der haja schlecht. Sie würde nicht leiden loikèn kanète darèt haja mlekha.“ – Was sie tut, ist schlecht. Sie würde nicht leiden, wenn es gut für sie wäre.
Auch sonst überlassen Fatima Daas und Sina de Malafosse ihren Leserinnen und Lesern das Zusammensetzen der einzelnen Fragmente des Textes. Ihre Ausdrucksweise ist kurz angebunden, meist sind es einfache Hauptsätze, die Formulierungen sind präzise, aber dennoch oft nicht ganz eindeutig. So ein Schreibstil legt alles offen und stellenweise wirkt es, als wäre ihre Suche nach Identität auch eine Suche nach dem passendsten Wort, das manchmal einfach nicht gefunden werden kann. Für die Übersetzerin eine schwierige Aufgabe, denn sie muss im Deutschen Wörter und Formulierungen finden, die das Bedeutungsspektrum des französischen Begriffes abdecken, aber zugleich ebenso uneindeutig sind.
Je commence à prendre les transports régulièrement à mes dix-huit ans.
Après un certain temps je ressens la « fatigue des transports » […].
C’est cette même fatigue qui te fait penser à « te rapprocher ».
« Se rapprocher », c’est partir.
Partir : trahir, renoncer et quitter.
Mit achtzehn fange ich an, regelmäßig mit den Öffentlichen zu fahren.
Nach einer Weile spüre ich den „Bahnüberdruss“ […].
Die gleiche Erschöpfung, die einen erwägen lässt, sich der Stadt endgültig „zu nähern“.
„Sich nähern“ bedeutet zu gehen.
Gehen: verraten, aufgeben und verlassen.
Im Deutschen gilt es als große Kunst, lange, verschachtelte, nie enden wollende Sätze unter Kontrolle zu behalten, doch dabei wird manchmal vergessen, dass es genauso schwierig ist, in knappen Formulierungen den Nagel auf den Kopf zu treffen. Eine Kunst, die Sina de Malafosse in ihrer Übersetzung meist sehr gut gelingt.
Bei einem Roman, der nicht nur optisch durch viele Absätze, sondern auch sprachlich stark an Lyrik erinnert, spielen Rhythmus und Klang zwangsläufig eine große Rolle. Die kurzen Sätze, vielen Anaphern und stetigen Wiederholungen bilden in der deutschen Übersetzung einen eindrucksvollen melodischen Fluss. Außergewöhnlich ist, dass dieser Fluss ein Amalgam verschiedener Sprachebenen ist, die eigentlich starke Kontraste aufzeigen, in Sina de Malafosses Übersetzung aber selbstverständlich zu einem Ganzen verschmelzen. Stellenweise tritt die Protagonistin als gewaltbereite Jugendliche auf, deren junge und oft auch harte Sprache mit den philosophisch komplexen Überlegungen einer empfindsamen und nachdenklichen jungen Frau kontrastiert. Dazu mischen sich Zitate aus Hochliteratur und dem Koran ebenso mühelos wie Verweise auf Rap-Texte und bilden die vielen Facetten von Fatimas Persönlichkeit auch sprachlich vielfältig ab.
Auf dickem Papier gedruckt und sehr großzügig gesetzt wirkt die deutsche Fassung des Claassen Verlags auf den ersten Blick umfangreicher als sie ist. Tatsächlich lässt sich der Text leicht in einem Schwung lesen, was bewirkt, dass die einzelnen Abschnitte, nicht chronologisch, aber meist im Präsens erzählt, etwas wirr zusammengesetzt erscheinen. Fatima sucht sich Abschnitt für Abschnitt selbst, findet sich manchmal, nur um im nächsten Abschnitt in neuem Kontext erneut auf die Suche zu gehen. Sina de Malafosse ist in Die jüngste Tochter gelungen, die vielen Sprachebenen und die facettenreiche Identität der Protagonistin stimmig ins Deutsche zu übertragen. Durch das ständige Hin und Her der fragmentarischen Erzählung bleiben jedoch auch viele Lücken und das Gefühl entsteht, dass Fatima, die Autorin, ihre Leserinnen und Leser auf die gleiche Weise auf Distanz hält wie Fatima, die Romanfigur, ihre Partnerinnen und Mitmenschen. Leerstellen, die Leserinnen und Lesern viel Raum zum Nachdenken bieten und auch nach dem Lesen noch lange nachhallen.