Mit Hand­gra­na­ten gegen den Klimawandel

Lilian Pithans Übersetzung von Bruno Duhamels Graphic Novel "Jamais" fängt den Charakter seiner eigenwilligen Protagonistin Madeleine überzeugend ein. "Niemals" ist eine Ode an den Widerstand – und daran, sich treu zu bleiben.

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Madeleine im Kampf gegen den Klimawandel (Zeichnung: Bruno Duhamel). ©Avant Verlag

Auf den ers­ten Sei­ten der Gra­phic Novel tau­chen wir direkt ins Leben eines Fischer­dörf­chens an der nor­man­ni­schen Küs­te ein: Es ist ein typi­scher Mor­gen auf dem Fisch­markt von Tro­u­mes­nil, wo die blin­de, alte Dame Made­lei­ne ihren Ein­kauf tätigt. Der zen­tra­le Kon­flikt der Geschich­te zeigt sich hier bereits. Auf­grund des Kli­ma­wan­dels tra­gen sich die Klip­pen im Ort immer mehr ab. Da das Haus von Made­lei­ne am Ran­de einer Klip­pe steht, ist es gefähr­det, dem­nächst ein­zu­stür­zen. Ver­geb­lich ver­sucht der Bür­ger­meis­ter auf dem Markt, die alte Frau davon zu über­zeu­gen, in ein loka­les Alters­heim über­zu­sie­deln. Ob er damit poli­ti­sche oder mensch­li­che Absich­ten ver­folgt, sei dahin­ge­stellt. Klar ist: Die schrul­li­ge Alte ist stur. Sie und ihre Kat­ze Balt­ha­zar blei­ben in die­sem Haus, kom­me was wol­le. Weg­zie­hen? Jamais. Nie­mals.

In der Gra­phic Novel von Bru­no Duha­mel domi­nie­ren Blau­tö­ne – beson­ders in den Traum­se­quen­zen, in denen Made­lei­ne die Ver­gan­gen­heit ein­holt, oder in den Nacht­sze­nen. Die Far­be Blau passt zum Set­ting (Küs­ten­dörf­chen) und zur The­ma­tik (Meer, Kli­ma, Wind). Duha­mel zeich­net das Werk in ange­neh­men Pas­tell­far­ben. Dabei kon­tras­tie­ren die star­ken Kon­tu­ren (ligne clai­re) mit der sanf­ten Farb­ge­bung. Der Zei­chen­stil passt auch in Bezug auf die Cha­rak­te­re sehr gut: Sie sind mar­kant und car­toon­haft gezeich­net. Denn Made­lei­ne ist nicht die ein­zi­ge ein­präg­sa­me Per­sön­lich­keit der Geschich­te. Der Bür­ger­meis­ter, sei­ne Frau, der Feu­er­wehr­mann sowie die Cha­rak­te­re in der Dorf­knei­pe sind so dar­ge­stellt, wie man sich die Men­schen in einem fran­zö­si­schen Küs­ten­dörf­chen vorstellt.

Leut­nant Qued­ra­go, wohl der ein­zi­ge Mit­bür­ger, der Made­lei­ne wirk­lich ver­steht, ist eine der inter­es­san­tes­ten Figu­ren. Der neu hin­zu­ge­zo­ge­ne Feu­er­wehr­mann bläut dem Bür­ger­meis­ter ein, dass man vor dem Kli­ma auf der Hut sein muss, denn „wenn man dem Wet­ter­be­richt glaubt, wird wohl der nächs­te Wind­stoss bei nem Gezei­ten­ko­ef­fi­zi­en­ten von 90 die Steil­küs­te gering­fü­gig umge­stal­ten“. Das Kli­ma als Gesprächs­the­ma zieht sich denn auch durch die gan­ze Geschich­te hin­durch. Sprach­lich gese­hen, ist Qued­ra­go eher „mild“ unter­wegs – ganz im Gegen­satz zu Made­lei­ne und dem Bürgermeister.

Zeich­nung: Bru­no Duhamel

Der Bür­ger­meis­ter ist eine Figur, die einem beim Lesen gleich­zei­tig sym­pa­thisch und unsym­pa­thisch ist. Einer­seits erregt er Mit­leid, da er kei­ne Chan­ce hat, Made­lei­ne zu über­zeu­gen, ihr Haus zu ver­las­sen. Ande­rer­seits zwei­felt man sei­ne wah­ren Moti­ve an, da er bei­spiels­wei­se behaup­tet, die Medi­en wür­den sei­nen Ruf schä­di­gen (wenn er Made­lei­ne nicht ret­te). Er scheint also Angst vor einem Skan­dal zu haben, soll­te die blin­de Dame in ihrem Zuhau­se blei­ben. Sei­ne Mimik wech­selt von erstaunt zu ver­är­gert zu wütend. Und sei­ne Aus­drucks­wei­se („la vieil­le“ – „die Alte“, „elle est fol­din­gue“ – „sie ist ver­rückt“) zeigt, wie rasend ihn Made­lei­ne macht. Oder sei­ne Frau: „Tais-toi, Josia­ne!!! C’est grâce à tes idées bril­lan­tes qu’on en est là, et tu as osé fai­re un faux sans ma per­mis­si­on, alors FERME-LA!!!“ – „Sei still, Josia­ne!!! Wegen dei­ner bril­lan­ten Ideen ist es erst so weit gekom­men. Du hast ohne mei­ne Erlaub­nis einen Brief gefälscht, also halt’s Maul!!!“. Das kräf­ti­ge, umgangs­sprach­li­che „fer­me-la“ über­trägt die Über­set­ze­rin mit dem nicht min­der star­ken „halt’s Maul“ pas­send ins Deut­sche. Die Aus­ru­fe­zei­chen am Ende des Sat­zes (im Ori­gi­nal und in der Über­set­zung) ver­stär­ken die Aus­sa­ge noch und brin­gen die Wut des Bür­ger­meis­ters zum Ausdruck.

Doch Made­lei­ne ist bei wei­tem die radi­kals­te Figur die­ser Gra­phic Novel. So greift sie in die­sem Kon­flikt zu dras­ti­schen Mit­teln, um ihr Haus zu ver­tei­di­gen. Sie setzt sogar Hand­gra­na­ten aus dem Zwei­ten Welt­krieg ein, die ihr vor Jah­ren auf See ver­schol­le­ner Ehe­mann aus dem Gar­ten aus­ge­gra­ben hat. Noch inten­si­ver als ihre Taten (voll­bracht oder ange­droht) wirkt jedoch die raue Spra­che der alten Dame. Und die­se ist zum Glück sehr tref­fend über­setzt. Dass ihre star­ken Wor­te nicht nur lee­re Hül­sen sind, son­dern dar­auf Taten fol­gen, wird dem Bür­ger­meis­ter bewusst, als Made­lei­ne ihre Kämp­fer­na­tur zum Aus­druck bringt: Sie ist bereit, bis zum Letz­ten zu gehen und sich inklu­si­ve ihres Hau­ses mit den deut­schen Gra­na­ten in die Luft zu spren­gen. Natür­lich nur, wenn er ihr das Haus weg­nimmt. „Vot­re falai­se, je vais tel­lement la fai­re recu­ler qu’il va falloir redes­si­ner tou­tes les car­tes IGN!“. Da es hier um Gra­na­ten geht, hat die Über­set­ze­rin dies sehr pas­send ein­ge­bracht: „Ich werd Ihre Steil­küs­te so gra­na­ten­mäs­sig umge­stal­ten, dass Sie danach alle Land­kar­ten neu zeich­nen müssen!“

Zeich­nung: Bru­no Duhamel

Die Über­set­ze­rin ver­stärkt an eini­gen Stel­len den rup­pi­gen Ton der blin­den Frau sogar noch. Wie dann, als Made­lei­ne ihre Rosen giesst, die lei­der im nächs­ten Moment mit­samt den Klip­pen ins Meer fal­len. Sie redet mit sich selbst und wun­dert sich, dass es schon lan­ge nicht mehr gereg­net hat. Dann schliesst sie mit „Enfin… On ne va pas se plaind­re“ über­setzt mit „Naja… Schluss mit dem Geme­cker“. Den fran­zö­si­schen Aus­druck hät­te man weit­aus neu­tra­ler über­set­zen kön­nen, aber die Ent­schei­dung der Über­set­ze­rin, das umgangs­sprach­li­che Wort „Geme­cker“ zu ver­wen­den, passt zum übli­chen Wort­laut der blin­den Frau. Ein wei­te­res Bei­spiel für die­se sprach­li­che Ver­stär­kung: Die blin­de Frau redet von einer „cani­cu­le“, also einer Hit­ze­wel­le. Lili­an Pithan über­setzt den Begriff mit „Affen­hit­ze“, was wie­der­um sehr gut zur übli­chen Aus­drucks­wei­se der alten Dame passt. Selt­sam nur, dass auf dem Ther­mo­me­ter im Haus von Made­lei­ne nur etwas mehr als 15 Grad ange­zeigt wer­den. Eigent­lich droht näm­lich ein Unwet­ter, wie der Bür­ger­meis­ter und der Feu­er­wehr­mann in der Dorf­knei­pe sagen.

Unzäh­li­ge wei­te­re Bei­spie­le zei­gen, dass Lili­an Pithan ihr Hand­werk aus­ge­zeich­net beherrscht und den Cha­rak­ter die­ser Gra­phic Novel (und sei­ner Prot­ago­nis­tin) erfasst hat. Auch Rede­wen­dun­gen – wohl etwas vom Schwie­rigs­ten zum Über­set­zen – über­trägt sie gekonnt ins Deut­sche. Als Made­lei­ne dem Feu­er­wehr­mann erklärt, dass sie weder ver­rückt noch eine Idio­tin sei, führt sie den Tod ihres Man­nes an. Duha­mel ändert die Rede­wen­dung „man­ger les pis­sen­lits par la raci­ne“ im Satz „Mon mari, je sais bien qu’il est au fond de l’eau, à man­ger les fruits de mer par la raci­ne“ auf krea­ti­ve Wei­se ab und schafft somit einen Bezug zum Meer. Die ursprüng­li­che Rede­wen­dung kann auf Deutsch mit „die Radies­chen von unten anschau­en“ über­setzt wer­den. Die Über­set­ze­rin über­trägt dies in „Ich weiss sehr wohl, dass mein Mann sich die Mee­res­früch­te von unten anschaut“. Mit der Rede­wen­dung „Il vaut mieux entendre ça que d’être sourde !“ bringt Made­lei­ne ihre kom­plet­te Unei­nig­keit bezüg­lich eines Films (der sich übri­gens um eine blin­de Frau dreht) zum Aus­druck. Pithan über­setzt mit „Das ist doch Quatsch mit Sos­se“, was rela­tiv frei inter­pre­tiert ist, aber den Nagel auf den Kopf trifft. Denn erneut zeigt sich die kratz­bürs­ti­ge Art der alten Dame, wel­che mit der ori­gi­na­len Rede­wen­dung weit­aus weni­ger zum Aus­druck kommt.

Die alte Dame ist einem genau des­we­gen so sym­pa­thisch, weil sie sich nichts sagen lässt, aber manch­mal trotz­dem ihre wei­che Sei­te durch­scheint. Zum Bei­spiel, als sie beim Denk­mal der ver­schol­le­nen See­män­ner steht und ihren Jules ver­zwei­felt um Hil­fe bit­tet. Da sieht man, wie ver­letz­lich sie eigent­lich ist. Das Haus ist für sie viel mehr als nur ein Haus. Es ist ein Lebe­we­sen, ver­bun­den und voll­ge­packt mit Erin­ne­run­gen an ein gemein­sa­mes Leben. Inter­es­sant ist auch, wie Duha­mel zum Aus­druck bringt, dass Made­lei­ne blind ist. Die Lese­rin­nen und Leser kön­nen sich in die Welt von Made­lei­ne hin­ein­ver­set­zen, da er durch die Bil­der ihre Emp­fin­dun­gen hap­tisch erleb­bar macht. Als sie spa­zie­ren geht, hören die Lese­rin­nen und Leser die Möwe krei­schen, die Bie­ne sum­men, den Vogel tschir­pen und schei­nen die Son­ne förm­lich zu spü­ren, die durch die Bäu­me strahlt. Nie­mals ist eine Gra­phic Novel mit viel Wort­witz und Charme, die ihre Lese­rin­nen und Leser zum Schmun­zeln bringt. Und auf­zeigt, dass es immer anders kommt, als man denkt.

Bru­no Duha­mel | Lili­an Pithan

Nie­mals

Im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal: Jamais

Avant Ver­lag 2021 ⋅ 64 Sei­ten ⋅ 20 Euro


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