Auf den ersten Seiten der Graphic Novel tauchen wir direkt ins Leben eines Fischerdörfchens an der normannischen Küste ein: Es ist ein typischer Morgen auf dem Fischmarkt von Troumesnil, wo die blinde, alte Dame Madeleine ihren Einkauf tätigt. Der zentrale Konflikt der Geschichte zeigt sich hier bereits. Aufgrund des Klimawandels tragen sich die Klippen im Ort immer mehr ab. Da das Haus von Madeleine am Rande einer Klippe steht, ist es gefährdet, demnächst einzustürzen. Vergeblich versucht der Bürgermeister auf dem Markt, die alte Frau davon zu überzeugen, in ein lokales Altersheim überzusiedeln. Ob er damit politische oder menschliche Absichten verfolgt, sei dahingestellt. Klar ist: Die schrullige Alte ist stur. Sie und ihre Katze Balthazar bleiben in diesem Haus, komme was wolle. Wegziehen? Jamais. Niemals.
In der Graphic Novel von Bruno Duhamel dominieren Blautöne – besonders in den Traumsequenzen, in denen Madeleine die Vergangenheit einholt, oder in den Nachtszenen. Die Farbe Blau passt zum Setting (Küstendörfchen) und zur Thematik (Meer, Klima, Wind). Duhamel zeichnet das Werk in angenehmen Pastellfarben. Dabei kontrastieren die starken Konturen (ligne claire) mit der sanften Farbgebung. Der Zeichenstil passt auch in Bezug auf die Charaktere sehr gut: Sie sind markant und cartoonhaft gezeichnet. Denn Madeleine ist nicht die einzige einprägsame Persönlichkeit der Geschichte. Der Bürgermeister, seine Frau, der Feuerwehrmann sowie die Charaktere in der Dorfkneipe sind so dargestellt, wie man sich die Menschen in einem französischen Küstendörfchen vorstellt.
Leutnant Quedrago, wohl der einzige Mitbürger, der Madeleine wirklich versteht, ist eine der interessantesten Figuren. Der neu hinzugezogene Feuerwehrmann bläut dem Bürgermeister ein, dass man vor dem Klima auf der Hut sein muss, denn „wenn man dem Wetterbericht glaubt, wird wohl der nächste Windstoss bei nem Gezeitenkoeffizienten von 90 die Steilküste geringfügig umgestalten“. Das Klima als Gesprächsthema zieht sich denn auch durch die ganze Geschichte hindurch. Sprachlich gesehen, ist Quedrago eher „mild“ unterwegs – ganz im Gegensatz zu Madeleine und dem Bürgermeister.
Der Bürgermeister ist eine Figur, die einem beim Lesen gleichzeitig sympathisch und unsympathisch ist. Einerseits erregt er Mitleid, da er keine Chance hat, Madeleine zu überzeugen, ihr Haus zu verlassen. Andererseits zweifelt man seine wahren Motive an, da er beispielsweise behauptet, die Medien würden seinen Ruf schädigen (wenn er Madeleine nicht rette). Er scheint also Angst vor einem Skandal zu haben, sollte die blinde Dame in ihrem Zuhause bleiben. Seine Mimik wechselt von erstaunt zu verärgert zu wütend. Und seine Ausdrucksweise („la vieille“ – „die Alte“, „elle est foldingue“ – „sie ist verrückt“) zeigt, wie rasend ihn Madeleine macht. Oder seine Frau: „Tais-toi, Josiane!!! C’est grâce à tes idées brillantes qu’on en est là, et tu as osé faire un faux sans ma permission, alors FERME-LA!!!“ – „Sei still, Josiane!!! Wegen deiner brillanten Ideen ist es erst so weit gekommen. Du hast ohne meine Erlaubnis einen Brief gefälscht, also halt’s Maul!!!“. Das kräftige, umgangssprachliche „ferme-la“ überträgt die Übersetzerin mit dem nicht minder starken „halt’s Maul“ passend ins Deutsche. Die Ausrufezeichen am Ende des Satzes (im Original und in der Übersetzung) verstärken die Aussage noch und bringen die Wut des Bürgermeisters zum Ausdruck.
Doch Madeleine ist bei weitem die radikalste Figur dieser Graphic Novel. So greift sie in diesem Konflikt zu drastischen Mitteln, um ihr Haus zu verteidigen. Sie setzt sogar Handgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg ein, die ihr vor Jahren auf See verschollener Ehemann aus dem Garten ausgegraben hat. Noch intensiver als ihre Taten (vollbracht oder angedroht) wirkt jedoch die raue Sprache der alten Dame. Und diese ist zum Glück sehr treffend übersetzt. Dass ihre starken Worte nicht nur leere Hülsen sind, sondern darauf Taten folgen, wird dem Bürgermeister bewusst, als Madeleine ihre Kämpfernatur zum Ausdruck bringt: Sie ist bereit, bis zum Letzten zu gehen und sich inklusive ihres Hauses mit den deutschen Granaten in die Luft zu sprengen. Natürlich nur, wenn er ihr das Haus wegnimmt. „Votre falaise, je vais tellement la faire reculer qu’il va falloir redessiner toutes les cartes IGN!“. Da es hier um Granaten geht, hat die Übersetzerin dies sehr passend eingebracht: „Ich werd Ihre Steilküste so granatenmässig umgestalten, dass Sie danach alle Landkarten neu zeichnen müssen!“
Die Übersetzerin verstärkt an einigen Stellen den ruppigen Ton der blinden Frau sogar noch. Wie dann, als Madeleine ihre Rosen giesst, die leider im nächsten Moment mitsamt den Klippen ins Meer fallen. Sie redet mit sich selbst und wundert sich, dass es schon lange nicht mehr geregnet hat. Dann schliesst sie mit „Enfin… On ne va pas se plaindre“ übersetzt mit „Naja… Schluss mit dem Gemecker“. Den französischen Ausdruck hätte man weitaus neutraler übersetzen können, aber die Entscheidung der Übersetzerin, das umgangssprachliche Wort „Gemecker“ zu verwenden, passt zum üblichen Wortlaut der blinden Frau. Ein weiteres Beispiel für diese sprachliche Verstärkung: Die blinde Frau redet von einer „canicule“, also einer Hitzewelle. Lilian Pithan übersetzt den Begriff mit „Affenhitze“, was wiederum sehr gut zur üblichen Ausdrucksweise der alten Dame passt. Seltsam nur, dass auf dem Thermometer im Haus von Madeleine nur etwas mehr als 15 Grad angezeigt werden. Eigentlich droht nämlich ein Unwetter, wie der Bürgermeister und der Feuerwehrmann in der Dorfkneipe sagen.
Unzählige weitere Beispiele zeigen, dass Lilian Pithan ihr Handwerk ausgezeichnet beherrscht und den Charakter dieser Graphic Novel (und seiner Protagonistin) erfasst hat. Auch Redewendungen – wohl etwas vom Schwierigsten zum Übersetzen – überträgt sie gekonnt ins Deutsche. Als Madeleine dem Feuerwehrmann erklärt, dass sie weder verrückt noch eine Idiotin sei, führt sie den Tod ihres Mannes an. Duhamel ändert die Redewendung „manger les pissenlits par la racine“ im Satz „Mon mari, je sais bien qu’il est au fond de l’eau, à manger les fruits de mer par la racine“ auf kreative Weise ab und schafft somit einen Bezug zum Meer. Die ursprüngliche Redewendung kann auf Deutsch mit „die Radieschen von unten anschauen“ übersetzt werden. Die Übersetzerin überträgt dies in „Ich weiss sehr wohl, dass mein Mann sich die Meeresfrüchte von unten anschaut“. Mit der Redewendung „Il vaut mieux entendre ça que d’être sourde !“ bringt Madeleine ihre komplette Uneinigkeit bezüglich eines Films (der sich übrigens um eine blinde Frau dreht) zum Ausdruck. Pithan übersetzt mit „Das ist doch Quatsch mit Sosse“, was relativ frei interpretiert ist, aber den Nagel auf den Kopf trifft. Denn erneut zeigt sich die kratzbürstige Art der alten Dame, welche mit der originalen Redewendung weitaus weniger zum Ausdruck kommt.
Die alte Dame ist einem genau deswegen so sympathisch, weil sie sich nichts sagen lässt, aber manchmal trotzdem ihre weiche Seite durchscheint. Zum Beispiel, als sie beim Denkmal der verschollenen Seemänner steht und ihren Jules verzweifelt um Hilfe bittet. Da sieht man, wie verletzlich sie eigentlich ist. Das Haus ist für sie viel mehr als nur ein Haus. Es ist ein Lebewesen, verbunden und vollgepackt mit Erinnerungen an ein gemeinsames Leben. Interessant ist auch, wie Duhamel zum Ausdruck bringt, dass Madeleine blind ist. Die Leserinnen und Leser können sich in die Welt von Madeleine hineinversetzen, da er durch die Bilder ihre Empfindungen haptisch erlebbar macht. Als sie spazieren geht, hören die Leserinnen und Leser die Möwe kreischen, die Biene summen, den Vogel tschirpen und scheinen die Sonne förmlich zu spüren, die durch die Bäume strahlt. Niemals ist eine Graphic Novel mit viel Wortwitz und Charme, die ihre Leserinnen und Leser zum Schmunzeln bringt. Und aufzeigt, dass es immer anders kommt, als man denkt.