Ein Buch zu lesen bedeutet für mich auch, die Worte mehr oder weniger deutlich gesprochen in meinem Kopf zu hören. Wenn ich die Stimme des Menschen hinter dem Text kenne, höre ich beim Lesen genau diese – umso mehr, wenn es eine so besondere Stimme wie die der 1946 in Chicago geborenen Sängerin und Dichterin Patti Smith ist: Rau und volltönend zugleich, tief, kehlig und ungeheuer warm, so klingt sie für mich. Die Frage war also, wen oder was höre ich, wenn ich M Train nach der Lektüre im Original in der Übersetzung von Brigitte Jakobeit lese? Und was verändert sich dadurch?
M Train – als ich den Titel das erste Mal las, dachte ich an „Mindtrain“ und an U‑Bahn-Linien, besonders solche in New York, der Stadt, in der Patti Smith seit vielen Jahren, Jahrzehnten lebt. Beides passt, denn in dem Buch aus dem Jahr 2015 folgt die Autorin Träumen, Erinnerungen, Assoziationen und verwebt verschiedene Reisen mit der Suche nach Verlorenem – den Menschen, die sie im Lauf ihres Lebens verlor, Dingen wie einem Mantel und Orten wie ihrem Lieblingscafé in New York, das zu verlieren sie gerade im Begriff ist – und der Jagd nach dem perfekten Kaffee. Man taucht beim Lesen tief ein in die mäandernden Bewusstseinsströme dieser Künstlerin, und ich bin heilfroh, dass ich den Erzählfluss für meinen Übersetzungskommentar, meine Meditation über Erzähl- und Erzählerinnenstimmen, nicht nachzeichnen muss. Ob auf Deutsch oder im englischsprachigen Original, den Text und die darin enthaltenen Reisen sollte jede*r für sich allein entdecken dürfen. Wobei ich natürlich liebend gerne wüsste, was andere Leser*innen hören, wenn sie dieses Buch lesen – sofern Texte denn auch in ihren Köpfen zu Stimmen werden …
In meinem Kopf verstärkte die Tatsache, dass mir Patti Smith’ Stimme wohlvertraut ist, einen Effekt, den ich generell beim Lesen von Büchern in der Originalsprache suche: Es gibt mir das Gefühl, der Autorin, dem Autor besonders nah zu kommen, näher jedenfalls als mit jeder noch so guten Übersetzung. Das war auch bei M Train der Fall – allerdings mit einem überraschenden Twist: In der Originalversion hatte ich das Gefühl, Patti Smith’ Denken und ihre schlafwandlerisch-intuitive Kreativität und Lebensweise unmittelbar miterleben zu dürfen. So nah, schien es mir, lassen wenige Autoren autobiografischer Texte ihre Leser an sich heran. Bei der deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit verschob sich der Fokus, und ich staunte, wie nah nun umgekehrt Patti Smith plötzlich mir kam.
Ganz nah am Text und vor allen Dingen an dessen Bildern und Atmosphären bleibt Jakobeits Übersetzung, sodass kleinste Kleinigkeiten mich erst stolpern und dann angeregt nachdenken lassen. Zwei solcher Details finden sich in den Erinnerungen an die Reise, die Patti Smith mit ihrem geliebten Ehemann Fred zu den Ruinen des Straflagers von Saint-Laurent unternahm, um für Jean Genet Steine aus dem verlassenen Gefängnis zu holen:
The morning sun was strong. I left our clothes to dry on the patio. There was a small chameleon melting into the khaki-color of Fred’s shirt. I spread the contents of our pockets on a small table. A wilting map, damp receipts, dismembered fruits, Fred’s ever-present guitar picks.
Die Morgensonne war heiß. Ich legte unsere Sachen zum Trocknen auf die Terrasse. Ein kleines Chamäleon verschmolz mit Freds khakifarbenem Hemd. Ich legte den Inhalt unserer Taschen auf einen kleinen Tisch. Eine welkende Landkarte, feuchte Quittungen, zerstückeltes Obst, Freds immer präsente Plektren.
Die Atmosphäre ist im Deutschen so reich wie im Englischen, die Bilder im Kopf sind dieselben, die Stimmen (die englische von Patti Smith und die unbestimmte, aber definitiv weibliche der Übersetzung) klingen ein wenig wie von fern, was zum zeitlichen wie räumlichen Abstand passt – und dann stolpere ich über die „immer präsenten Plektren“: Der Sprachfluss gerät ins Stocken, der Rhythmus hakt für einen winzigen Moment, und dann ist da die Frage, wäre hier auf Deutsch nicht „Freds allgegenwärtige Plektren“ treffender gewesen?
Vielleicht fällt diese Stelle auch deshalb ins Auge, weil das Wort „immer“ des Öfteren ein Stolpersteinchen beim Lesen für mich ist. So heißt es wenig später ganz schnörkellos und direkt im Original:
Fred spent a lot of time in the bar, talking to the fellows. Despite the heat, Fred wore a shirt and a tie.
Fred hielt sich oft in der Bar auf und unterhielt sich mit den Männern. Trotz der Hitze trug er immer ein Hemd und eine Krawatte.
Immer? Wo kommt denn das her? Das ist nicht Patti Smith’ Erzählstimme, dachte ich, als ich beim Lesen stolperte. Sicher, wenn Fred sich oft in der Bar aufhält, bezieht sich rein logisch das „immer“ darauf. Dennoch, warum „immer“? Das ist so ein abgegriffenes Wort im Deutschen, dessen nörgelnder Beiklang („Immer musst du die Zahnpastatube offen rumliegen lassen!“) nicht hierher passt. Und Alternativen hätte es allemal gegeben: „Fred verbrachte viel Zeit in der Bar und unterhielt sich mit den Männern. Trotz der Hitze trug er ein Hemd und eine Krawatte.“ Oder auch: „Trotz der Hitze trug er stets Hemd und Krawatte.“ Stets wie in ‚stetig‘, das klingt nach Beständigkeit, und wenn es im Folgenden darum geht, dass die Männer Fred (trotz Krawatte, womöglich) völlig ironiefrei respektieren, macht das für mich mehr Sinn.
Wenig bis keinen Sinn ergibt die Übersetzung der folgenden, in der Tat kniffligen Stelle:
My father sat at his desk, in this chair, for decades, writing checks, filling out tax forms, and working fervently on his own system for handicapping horses.
Auf diesem Stuhl saß mein Vater jahrzehntelang an seinem Schreibtisch, unterzeichnete Schecks, füllte Steuerformulare aus und arbeitete leidenschaftlich an seinem eigenen System für Handicap-Pferde.
Handicap-Pferde? Was soll denn das sein? Ohne Smith’ Vater, den Autodidakten mit den vielen Interessen und Hobbys (as in hobbyhorses, maybe) oder Patti Smith selbst (deren erstes Album aus dem Jahr 1975 seinen Titel Horses womöglich sogar der väterlichen Rennleidenschaft verdankt) fragen zu können, liegt doch auf der Hand, dass es um ein System gehen dürfte, mit dem man Informationen über ein Rennpferd nutzt, um dessen Chancen auf eine bestimmte Platzierung möglichst präzise vorhersagen zu können. Leider muss man das im Deutschen mangels eines konkreten Begriffs umschreiben, und leicht ist das sicher nicht, dennoch, die gewählte Übersetzung funktioniert für mich so nicht.
Ein Sessel und ein ungewöhnliches Wort in der Übersetzung (sowie eine Formulierung, die auch in Patti Smith’ aktuellem Buch Year of the Monkey vorkommt) ließen mich im Zusammenhang mit dem CDC – dem Alfred Wegener und seiner Entdeckung der Kontinentalverschiebung gewidmeten Continental Drift Club, dem Smith als Mitglied Nr. 23 angehörte und der einen eigenen, geradezu verwunschenen Strang im Geflecht des M Train hat – aufmerken:
Ich machte mehrere Fotos von dem Jungen und kehrte dann in mein Zimmer zurück, rollte mich in einem dunklen Samtsessel zusammen und sank in einen kurzen, traumlosen Schlaf.
Um sechs wurde ich zu einem kleinen Hörsaal in einem nahegelegenen Gebäude eskamotiert, wie Holly Martins in Der dritte Mann.
Eskamotiert – wow, was für ein wunderbares, elektrisierendes Wort! Da ich mich an keine ähnlich heftige Reaktion beim Lesen des Originals erinnerte, schlug ich nach, wie diese Passage in Englisch formuliert ist:
I took several pictures of the boy and then returned to my room, curling up in a dark velvet armchair, drifting into a small patch of dreamless sleep.
At six I was spirited to a small lecture hall in a nearby location, like Holly Martins in The Third Man.
Ist „eskamotiert“ die perfekte Übersetzung, weil sich sein Klang in „eskortiert“ spiegelt, oder ist dieser der Magie zugeordnete Begriff nicht ganz stimmig, weil Smith wie Martins ja nicht wirklich „irgendwohin gezaubert“ wird? Hinzu kommt, dass ich vermutlich nicht die einzige bin, die die genaue Bedeutung von „eskamotiert“ nachschlagen musste, während der englische Satz einfach so verständlich ist – ich freue mich über den Zugewinn an Wortwissen und die Begegnung mit dem klangvollen Begriff und bleibe hin- und hergerissen.
Und genau das verweist auf eine weitere, besondere Eigenschaft von Brigitte Jakobeits luzider Übersetzung: Nicht nur, dass sie den traumhaften, schlafwandlerischen Charakter des Buches präzise und scheinbar leicht im Deutschen wiedererweckt, an manchen Stellen trifft sie dabei für mein Empfinden den Kern sogar noch genauer. Das erste Mal sprang mir dies am Ende der verwobenen Stränge der verschiedenen Besuche am Grab von Sylvia Plath ins Auge. Dabei wird die mehrfache Wiederkehr u. a. nötig, weil beim ersten Mal gemachte Fotos (Polaroids, die sind nun mal Smith’ Mittel der Wahl) auf der Reise verloren gehen und nicht wieder auftauchen. Ergo werden erneut Fotos gemacht, aber:
There is now one of Sylvia in spring. It is very nice, but lacking the shimmering quality of the lost ones. Nothing can be truly replicated. Not a love, not a jewel, not a single line.
Nun gibt es eins von Sylvia im Frühling. Es ist sehr schön, aber ihm fehlt der schimmernde Glanz der verlorenen. Nichts lässt sich je wirklich ersetzen. Keine Liebe, kein Kleinod, keine einzige Zeile.
Nichts gegen Jewels oder Juwelen, aber ein Kleinod, das ist doch noch einzigartiger, noch unersetzlicher und unwiederbringlicher und damit in diesem Kontext treffender für mich.
Ein zweites Beispiel für ein solches Kunststück ist für mich die folgende Stelle, in der es um das kleine, alte Haus am Strand bei New York geht. Das Haus hatte sich Smith zum Schreiben gekauft, und zwar in einer Gegend, die später vom Sturm stark zerstört und anschließend nur ganz allmählich wieder aufgebaut wird. Als der Wiederaufbau im Gange ist, fährt sie mit einem Freund dort hinaus und denkt:
Anxious for some permanency, I guess I needed to be reminded how temporal permanency is.
Das ist ein interessanter, tiefgründiger Gedanke, paradox wie ein Koan im Zen. Und genau diese Qualität kommt für mich in der deutschen Übersetzung noch klarer zum Ausdruck:
In meiner Sehnsucht nach Dauerhaftem musste ich vermutlich daran erinnert werden, wie flüchtig Dauerhaftes ist.
Flüchtig wie gesprochene Sprache, wie Gesang, wie Stimmen. Es sei denn, ein Text wird beim Lesen nicht nur zu Bildern – wie das starke Bild des Traums vom Cowboy in der Wüste und der unmöglichen Aufgabe, über nichts zu schreiben, als Ausgangspunkt dieses Buches – sondern auch zur Stimme im Kopf. So wie M Train im Original für mich beim Lesen kehlig, dunkel und unverkennbar eigen, wie ‚rezitiert‘ von Patti Smith klingt und Brigitte Jakobeits Übersetzung zwar kühler, distanzierter, aber dennoch genauso traum-haft, eben wie von einer wirklich guten Schauspielerin gelesen.
Drei Tipps für Patti Smith-Neulinge
- Sollte Ihnen Patti Smith noch nie als Sängerin untergekommen sein, Sie nun aber neugierig auf ihre Musik und ihre Singstimme geworden sein: Beginnen Sie mit dem Album Horses und hören sich von dort quer durch ihr Werk. Hören Sie nicht auf, bevor Sie zu Patti Smith’ Performance 2016 in Stockholm kommen, wo sie für Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur entgegennahm und sein „A Hard Rain’s A‑Gonna Fall“ singt.
- Wenn Sie mehr über die Künstlerin, Dichterin, Malerin, Fotografin und Sängerin und ihr bewegtes, bald 75-jähriges Leben erfahren wollen und keine Lust haben, sich durchs Internet zu wühlen: Lesen Sie es in Patti Smith’ eigenen Worten nach. Ein guter Einstieg ist Just Kids. Das aktuelle Year of the Monkey (Im Jahr des Affen) ist obendrein ein eigenwilliger Kommentar zu den USA im ersten Jahr nach der Wahl Trumps.
- Aber aufgepasst – Patti Smith ist ein Büchermensch durch und durch. Und in jedem ihrer Bücher schreibt sie auch über die Bücher, die sie gerade selbst liest, die sie bewegen. Es besteht die sehr reale Gefahr, dass man sich bereits während der Lektüre einen Stapel weiterer Bücher anderer Autor*innen zulegt!