Als Mariam Mansuryan To Kill A Mockingbird im Original liest, ist sie verwirrt. Obwohl sie auf Seite 60 des Klassikers angekommen ist, kann sie immer noch nicht sagen, ob Scout, die Hauptfigur, ein Junge oder ein Mädchen ist. Zumindest nicht mit Sicherheit, denn die Autorin, Harper Lee, deutet das Geschlecht nur an.
Mansuryan vertraut also auf ihre Muttersprache, das Armenische, doch die Übersetzung gibt ihr weiterhin Rätsel auf. Kein Wunder, Armenisch unterscheidet keine Genera, in der dritten Person Singular gibt es ein einziges Pronomen für alle. Erst beim Lesen der russischen Fassung lüftet sich das Geheimnis, und zwar schon auf der ersten Seite. Dort erfährt Mansuryan: Scout, der Wildfang, ist ein Mädchen. Denn Russisch ist eine geschlechtssensible Sprache, sogar Verben der Vergangenheit müssen an eines der drei Genera angepasst werden. Von der Pointe, die Harper Lee in ihr Original niedergeschrieben hat, fehlt allerdings jede Spur.
Mit dieser Anekdote spricht Mariam Mansuryan in ihrem TedTalk ein grundsätzliches Problem der Literaturübersetzung an: Sobald eine Geschichte übersetzt wird, verändert sie sich. So wie bei To Kill a Mockingbird auf Englisch, Armenisch und Russisch. Ein Roman, zwei Übersetzungen, drei Geschichten.
Aber: Geht das nicht zu weit? Gehört es nicht zur übersetzerischen Pflicht, dieselbe Geschichte noch einmal zu erzählen, nur mit anderen Worten?
Über Fragen wie diese spreche ich mit Katrin Zuschlag. Sie lehrt Französisch am FTSK Germersheim, promoviert hat sie im Jahr 2001 über prosaspezifische Übersetzungsprobleme. Das Fazit ihrer Dissertation: Übersetzte Erzählungen gleichen nie dem Original, jede Geschichte verändert sich beim Übersetzen, immer und unweigerlich. Im Interview diskutieren wir über die erzähltheoretischen Feinheiten des literarischen Übersetzens.
Frau Zuschlag, wie lesen Sie übersetzte Literatur – mit Zweifel oder Vertrauen?
Als Übersetzerin bin ich auf jeden Fall nicht unbefangen. Wenn ich Originale lese, frage ich mich oft, wie man gewisse Stellen wohl übersetzen könnte, aber ich gebe zu, dass ich mich dann selten tatsächlich auf die Suche nach den Übersetzungen mache. In übersetzter Literatur fallen mir auch immer wieder Dinge auf, die ich erzähltheoretisch seltsam finde und bei denen ich mich frage, ob das wohl so stimmt. Trotzdem: Ich lese übersetzte Literatur mit Vertrauen, ganz einfach, weil ich um die Mühe weiß und mir bewusst bin, dass eben nicht alle Punkte mit dem Original äquivalent sein können.
Beispiele hierfür sind Personalpronomina oder das Erzähltempus. Beide Aspekte haben Sie neben anderen prosaspezifischen Übersetzungsproblemen in Ihrer Dissertation untersucht. Allerdings lassen sich die Veränderungen beim Übersetzen nicht vermeiden, weil die Regelwerke der Sprachen unterschiedlich sind. Da kann ich das doch auch einfach mit Schulterzucken zur Kenntnis nehmen und mir denken: „Na und?“
Diese Veränderungen in der Erzählstruktur lassen sich nicht vermeiden – aber das ist eine gute Erkenntnis! Denn sie relativiert einige Kritik, die an übersetzter Literatur geübt wird. Auf Französisch muss ich mein Geschlecht im passé composé mit être immer offenbaren: Ich sage „je suis allée“, Sie sagen „je suis allé“. Auf Deutsch ist das nicht möglich: „Ich bin gegangen“.
Derart vermeintlich kleine Unterschiede in den Sprachsystemen können Konsequenzen für die übersetzte Erzählung haben. Nehmen Sie den isländischen Krimi Tödliche Intrige von Arnaldur Indriðason als Beispiel. Beim Lesen hat man das Gefühl, der Ich-Erzähler sei ein Mann. Er spricht beispielsweise von seiner Freundin und in unserer heteronormativen Welt denkt man gleich, es handelt sich um ein heterosexuelles Liebespaar. Erst zum Schluss aber entpuppt sich der Erzähler als Frau, die eine lesbische Beziehung führt. Die Erzählerin hat also eine falsche Fährte gelegt, die sie beispielsweise auf Französisch nicht legen könnte.
Ein anderes Beispiel sind die zwei Vergangenheitsformen des Französischen: das imparfait für den Erzählhintergrund und das passé simple für den Erzählvordergrund. Dieses Relief kann man im Deutschen so nicht nachahmen, weil es in dieser Form kein zweites Vergangenheitstempus kennt. Allerdings kann man Partikel in die Übersetzung integrieren: „immer wieder“ oder „jedes Mal, wenn“ für das imparfait und „plötzlich“ oder „auf einmal“ für das passé simple. Wenn man sich dieser erzähltheoretischen Unterschiede bewusst ist, kann man die Tempora durchaus sensibel übersetzen.
Es geht also um Nuancen. Warum ist literarisches Erzählen für Sie als Übersetzerin ein interessantes Thema?
Weil es unterschätzt wird. Häufig ist die Rede von der unübersetzbaren Lyrik, der Roman gilt in der Literaturübersetzung als die vermeintlich leichteste Disziplin, weil die gleiche Geschichte „nur“ in einer anderen Sprache erzählt wird. Wie gesagt, verändert sich aber die Erzählstruktur, das Wie des Erzählens, durch die Übersetzung. Auf dem ersten Blick scheint es so, als müsse man bloß die Geschichte nacherzählen, bei genauerem Hinsehen erkennt man aber die Feinheiten auf der Mikroebene, die die Erzählung verändern.
Das hat einen einfachen Grund: Für mich ist in der Erzählung die Erzählfigur essenziell, denn ohne sie gäbe es keine Erzählung. Der Erzähler ist immer ein Vermittler zwischen der Geschichte und dem Geschehen, denn er selektiert die Elemente, die erzählt werden. Man spricht auch von der Ich-Hier-Jetzt-Origo, also einem persönlichen, räumlichen und zeitlichen Standpunkt, von dem aus erzählt wird, der die Perspektive bestimmt und sich wie ein Filter über das Geschehen legt. Wenn ich aber nun aus einem französischen Erzähler einen deutschen Erzähler mache, dann kann das Ergebnis nicht mehr dieselbe Erzählung sein und damit auch nicht mehr dieselbe Geschichte. Was sich dabei verändert, passiert unweigerlich und unbewusst. Deshalb geht es nicht um qualitative Kategorien wie richtig oder falsch, sondern um deskriptive Übersetzungswissenschaft.
Ist es in diesem Lichte überhaupt möglich, Erzählungen zu übersetzen, oder ist Literaturübersetzung eine Utopie?
Nein, so weit würde ich nicht gehen. Literaturübersetzung ist keine Utopie, eher eine Annäherung, denn ganz erreicht man das Original nie. Deswegen sollte man auch den Stil oder die Erzähltechnik eines Autors, im Grunde Literatur generell nicht anhand von Übersetzungen interpretieren. Auch in der Literatur zur Erzähltheorie gibt es da leider manchmal vollkommen absurde Beispiele.
Umgekehrt gibt es aber auch sehr erzählungssensible Übersetzungen. Beispielsweise hat Andreas Knop bei der Übersetzung von Gérard Genettes erzähltheoretischen Abhandlungen alle Proust-Zitate recherchiert, um zu schauen: Stimmt die Aussage von Genette in der Übersetzung noch oder muss das Zitat kommentiert werden? Das verkompliziert den übersetzten Text zwar, ist aber aus meiner Sicht dennoch die beste Lösung.
Wie analysieren Sie Literatur, wenn Sie sie übersetzen? Gibt es erzählerische Merkmale, auf die Sie besonders achten?
Man kann, glaube ich, gar nicht auf wirklich alles achten, denn sonst müsste man unendlich oft den Ausgangstext durchlaufen. Ich denke, viele Literaturübersetzer können auf ihre Erfahrung, auf ihr Gespür vertrauen. Ich persönlich übertrage viel Kinderbuchliteratur und dabei wird auf Wunsch der Redakteurin jede Rededarstellung mit einem Verb des Sagens ein- oder ausgeleitet. Ich achte darauf, einerseits Variation in das Wortfeld zu bringen, aber andererseits auch das Verb passend zur Figur und zur Äußerung zu wählen, weil die Rede immer auch die Figur charakterisiert. Denn es macht einen Unterschied, ob jemand etwas ruft, meint, erwidert oder einfach nur sagt.
Sind Autor:innen die besseren Übersetzer:innen oder sollten Übersetzer:innen auch kreativ schreiben können?
Nein, ich finde beides nicht. Im letzten Semester habe ich mit meinen Studierenden im Proseminar Selbstübersetzungen untersucht, Beispiele von Autoren, die sich selbst übersetzen, gab es in der Vergangenheit und gibt es auch im heutigen Literaturbetrieb ja immer wieder. Unser Eindruck war, dass sich Schriftsteller auch in der (Selbst-)Übersetzung meist kreativ ausleben wollen. Fremdübersetzer halten sich tendenziell zurück, lassen dem Ausgangstext den Vorrang. Das führt dazu, dass Schriftsteller häufig eher zweite Originale schaffen als Übersetzungen im engeren Sinne. Das gilt nach meiner Erfahrung vor allem für Selbstübersetzungen, aber auch für Fremdübersetzungen aus der Hand von Schriftstellern.
Für mich persönlich wiegt beim Übersetzen der Text selbst schwerer als sein Verfasser. Ich bin deshalb auch nicht der Meinung, dass Autoren die alleinige Deutungshoheit über ihren Text haben. Überspitzt gesagt, ist das, was sie damit ausdrücken wollen, im Grunde für die Übersetzung irrelevant, vielmehr geht es um die Rezeption, die Wirkung des Textes, die sich auch linguistisch untersuchen und dann eben übersetzen lässt. Für eine solche ausgangstextnahe Übersetzung steht vielen Schriftstellern vielleicht manchmal ihr eigener Blick auf die Erzählung im Weg, der alternative Lesarten ausblendet.
Zur Frage, ob Übersetzer auch literarisch schreiben können sollten: Nein, auch das müssen sie nicht. Sie müssen die Ideen, die sie geliefert bekommen, aber adäquat in Sprache übertragen können. Dafür sollten sie gut schreiben, und das heißt auch: kreativ mit Sprache umgehen können. Sie müssen (und sollten) aber keine eigenen Ideen entwickeln oder einen eigenen literarischen Stil kreieren.
Wenn übersetzte Erzählungen nicht identisch sind mit den Originalerzählungen, müssten die Verlage das dann nicht kennzeichnen? Nach dem Motto: „Lieber Leser, liebe Leserin, Sie lesen hier keine originalgetreue Erzählung, sondern eine vom Übersetzer, von der Übersetzerin formulierte Fassung der Erzählung“?
Nein, ich denke, das würde das Lese-Erlebnis stark beeinträchtigen. Solche Disclaimer würden den Zugang zur Lektüre erschweren und den Zauber des Lesens zerstören. Bei Literatur geht es ja darum, in imaginierte Welten einzutauchen, und das möchte ich als Leserin möglichst störungsfrei. Dasselbe gilt für Fußnoten: Wenn der Text voll davon ist, muss ich mich disziplinieren, sie nicht ständig mitzulesen, sondern in der Geschichte zu bleiben und den Text gewissermaßen fließen zu lassen.
Was ich sinnvoller finde als solche Vorab-Bemerkungen, sind Nachworte der Übersetzerin oder des Übersetzers. Darin können die Herausforderungen der Übersetzung erläutert werden, was den Blick für Erzähltheorie und Literaturübersetzung grundsätzlich schärfen und die Wertschätzung für die Übersetzer steigern würde. Bei einem Warnhinweis à la „Vorsicht: übersetzt!“ wäre ich hingegen skeptisch, ob er denselben Effekt hätte und nicht sogar die übersetzerische Leistung zu Unrecht in ein schlechtes Licht rücken würde. Denn bei aller Bedeutung, die das Original literatur- und erzähltheoretisch hat, machen die allermeisten literarischen Übersetzer eine sehr, sehr gute Arbeit!