Die Literaturvermittlerin Anita Djafari ist Ende letzten Jahres in den Ruhestand gegangen – pandemiebedingt gab es zum Abschluss keine echte Buchmesse in Frankfurt und keine große Party, sondern nur ein kleines schönes Abschiedsessen mit den nächsten Kolleg*innen im Restaurant. Dieses Jahr aber wird die Lektorin, Veranstalterin, Buchhändlerin, Übersetzerin und Litprom-Geschäftsleiterin Anita Djafari glücklicherweise doch noch gebührend verabschiedet: Am 3. Oktober wird ihr auf der Translationale, dem neuen Festival für Literaturübersetzung in Berlin, die Übersetzerbarke für „ihre Verdienste um die Diversität in der deutschen Literaturszene“ verliehen.
Die Literaturbranche ist facettenreich. Es gibt Verlage mit Lektorat und Vertrieb, die Texte von Schriftstellerinnen und Schriftstellern vermarkten, es gibt Übersetzerinnen und Übersetzer, die den Büchermarkt und den Lesehorizont des Publikums durch ihre Übersetzungsarbeit bereichern, es gibt Buchhandlungen, Veranstaltungen, Buchmessen, Literaturvereine und vieles mehr. Aber es gibt vermutlich nur wenige Menschen in der Literaturbranche, die all diese Stationen selbst durchlaufen haben.
Anita Djafari ist einer dieser Menschen. Dabei waren ihre Startbedingungen nicht gerade optimal: Sie ist in Tann (Rhön) in einem bäuerlichen Milieu aufgewachsen – Bücher gab es im Elternhaus nicht. Heute sitzt Anita Djafari zu Hause vor ihrem Laptop und warnt schon mal vor: Die Handwerker könnten eventuell etwas Lärm machen. Höflich und herzlich wirkt sie, und dieser Eindruck wird sich im Laufe des Gesprächs bestätigen. Zusammen gehen wir der Frage nach, wie sich die Literatur in Anita Djafaris Leben geschlichen, sich immer weiter ausgebreitet hat, bis sie mit jeder Faser des Körpers gelebt wurde. Und wie entsteht eigentlich Liebe zur Literatur, wenn sie nicht zu Hause vorgelebt wird?
Ausschlaggebend für das Erwachen der Literaturbegeisterung waren zwei Aspekte in Djafaris Jugend. Erst einmal gab es im Ort eine kleine Gemeindebibliothek, die ehrenamtlich von einem älteren Herrn geführt wurde: „Die Bibliothek war nur ein kleiner Raum, eigentlich der Sitzungssaal im Bürgermeisteramt. Ich habe noch den Geruch in der Nase. Und da gab es alles, was man brauchte: Lindgren oder auch Jim Knopf. Das hat mich sehr geprägt“, erinnert sich Djafari. Und dann gab es da noch eine Deutschlehrerin, „die man damals wohl als Blaustrumpf bezeichnet hätte“, erzählt sie weiter und muss selbst über den Ausdruck lachen. Diese Lehrerin beherrschte die Kunst, ihre Schülerinnen und Schüler für Literatur zu begeistern. Sie nahm die Klasse mit zu Theateraufführungen in benachbarte Orte, um sich Die Glasmenagerie von Tennessee Williams oder Der Hauptmann von Köpernick anzuschauen und anschließend kleine Kritiken über die Stücke zu verfassen. „Das war ein toller Unterricht, anders kann man das nicht sagen“, sagt Djafari, und man sieht ihr an, welche Bedeutung er für ihren weiteren Lebensweg hatte. Außerdem war es eben jene Deutschlehrerin, die in Djafari die Idee weckte, im Literaturbetrieb arbeiten zu wollen:
„Meine Deutschlehrerin hat mir früh gesagt, dass sie mir ‚Buchhändlerin‘ als Beruf empfehlen würde. Und das habe ich freudig zur Kenntnis genommen“.
Aber wie entwächst aus dem Plan, Buchhändlerin zu werden, eine Affinität für Literatur aus der Fremde, aus Afrika, Asien und der arabischen Welt? Wie gelang der Sprung von Pippi Langstrumpf zur Litprom-Geschäftsleiterin? Das Interesse an Literatur aus der Fremde fand seinen Ursprung in einem ganz gewöhnlichen Abkapselungsprozess. Nach der mittleren Reife wollte Anita Djafari in die weite Welt:
„Ich bin im Zonenrandgebiet aufgewachsen, da musste man weg. Bei uns war es eng, ich war die Älteste, hatte kein eigenes Zimmer und wollte einfach raus“.
In den 70er Jahren fing sie deshalb in der Abteilung für Fernreisen bei einem Reiseveranstalter in Frankfurt am Main an und bekam auf diese Weise die Möglichkeit, in jungen Jahren in weit entfernte Länder zu reisen: „Ich war in Kenia, Sri Lanka, Thailand, Hongkong und Singapur unterwegs. Und da habe ich gemerkt: Ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin. Wieso sind Araber in Afrika? Was hat es mit der chinesischen Grenze und der Kulturrevolution auf sich? Keine Ahnung! Da ist der Wunsch gewachsen, die Welt, die ich bereisen durfte, zu verstehen.“ Das Interesse an der Fremde war geweckt.
Fortan zog sich dieses Interesse wie ein roter Faden durch Djafaris Leben. Ein Schlüsselmoment stellte eine Reise nach Tansania dar. Zusammen mit einer ebenso lesebegeisterten Freundin stieß Anita Djafari, die inzwischen Anglistik und Germanistik studierte, dort auf Bücher von afrikanischen Autorinnen und Autoren in englischer Sprache: „Mich haben diese Texte total gepackt. Als Studierende war es für uns reizvoll, sich selbst die Literatur zu erschließen, ohne viel Sekundärliteratur zu lesen. Wir haben vieles selbst entdeckt. Wir fühlten uns wie Pioniere.“ Diese Entdeckungsreise führte sie an der Universität weiter. In Frankfurt wurde 1980 der Verein Litprom gegründet. Eins der Gründungsmitglieder war Professor Riemenschneider, der auch Seminare zu postkolonialer Literatur gab, und die interessierten Studierenden sofort in die Vereinsarbeit miteinbezog. Als Mitglieder schrieben sie unter anderem Gutachten über empfehlenswerte Literatur und fertigten Probeübersetzungen an, um die Bücher Verlagen schmackhaft zu machen. „Die Qualität dieser Übersetzungen würde ich mir heute gar nicht mehr angucken wollen“, sagt Djafari über diese ersten Gehversuche als Übersetzerin, den Blick leicht beschämt auf den Tisch gerichtet. „Aber wir haben uns da begeistert reingestürzt!“
Die Literatur weit entfernter Länder spielte in Anita Djafaris Leben eine immer größere Rolle. Nach dem Studium arbeitete sie im Qumran Verlag für Ethnologie und Kunst, beschäftigte sich dort thematisch weiter mit der „Fremde“ und bekam Einblicke in alle Arbeitsbereiche eines Verlages. Durch die Arbeit für Litprom hatte Djafari jedoch einen anderen Wunsch entwickelt: „Ich träumte davon, afrikanische Literatur zu übersetzen, das konnte ich in diesem speziellen Verlag nicht ausleben.“ Als sie als Mitarbeiterin des Verlags auf der Frankfurter Buchmesse war, wagte sie den nächsten Schritt in Richtung Übersetzungskarriere:
„Ich war auf der Buchmesse, habe mir ein Buch von der nigerianischen Autorin Buchi Emecheta geschnappt, bin da ganz naiv rumgelaufen, keine Ahnung von nichts, und bin zu Antje Kunstmann gegangen, damals hieß der Verlag noch Frauenbuchverlag. Und dann habe ich gesagt: ‚Dieses Buch wäre doch was für Sie, ich würde das auch gerne übersetzen‘“.
Mit Erfolg! Kunstmann bat Anita Djafari um eine Probeübersetzung. Die amüsiert sich bei diesen Worten prächtig über ihr jüngeres Ich und gibt zu, dass man sich heute vor allem als Anfängerin kaum noch an einen Verlagsstand trauen würde. Sie machte sich aber enthusiastisch an die Arbeit und werkelte am Küchentisch mit den ehemaligen Kommilitoninnen an der Übersetzung – doch das Feedback war niederschmetternd. Antje Kunstmann wollte das Buch zwar veröffentlichen, aber nicht in Djafaris Übersetzung, sie erhielt einen dicken Brief voller Anmerkungen und Korrekturen.
Doch Djafari hatte trotzdem Antje Kunstmanns Interesse geweckt – und zwar an ihr selbst. Sie sollte im Münchner Buchfrauenverlag im Vertrieb arbeiten. München war nicht gerade Djafaris Wunschziel: „München? Da will ich eigentlich gar nicht hin!“, macht Djafari sich mit gerümpfter Nase nach, und so ließ sie den Verlag zappeln, während sie gemächlich Entscheidungsfindung betrieb. Jetzt schaut sie lachend in die Kamera und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: „Unvorstellbar, das wäre heute unvorstellbar“, sagt sie, denn bei einem Angebot aus einem Verlag würden heute wohl die wenigsten zögern. Schließlich sagte sie aber zu und eine zweijährige Station in München folgte, in der sie abends nach der Verlagsarbeit auch ihre erste Übersetzung auf der Schreibmaschine anfertigte: Das Jugendbuch Der Fluss dazwischen des kenianischen Autors Ngugi wa Thiong’o. Der Text ist auch heute noch im Unionsverlag erhältlich und wurde nie überarbeitet, erzählt Djafari und ein winziger Anflug von Stolz schwingt mit.
In München wurde Anita Djafari aber nicht wirklich glücklich und es zog sie zurück nach Frankfurt, wo sie der Berufsempfehlung ihrer Deutschlehrerin nachkam – allerdings in etwas anderer Form: Sie erfüllte sich einen Traum und gründete zusammen mit einem Freund die Buchhandlung „Neue Horizonte“. Anita Djafaris Schmunzeln, die leicht gerunzelten Brauen verraten, dass ihr dieser Name heute etwas peinlich ist, aber das Konzept findet sie noch immer gut, denn vor allem führten sie Literatur aus der „dritten Welt“, wie man es damals noch nannte, und verkauften diese unter anderem auf kulturanthropologischen Tagungen, Konferenzen und entsprechenden Buchmessen. Nebenbei machte Anita Djafari auch gleich die Prüfung zur Buchhändlerin.
Nach drei Jahren zog es sie allerdings wieder in die Fremde. Sie ging mit ihrem Mann, der in der Entwicklungsarbeit tätig war, nach Cusco in Peru. Auch dort war Djafari alles andere als untätig und gründete die Sprachschule Acupari. Sie gab Deutschunterricht und konnte ihre Spanischkenntnisse gleichzeitig dank ihrer Schülerinnen und Schüler verbessern, die ihr Lob gerne mit den Worten: „Och, du machst aber auch Fortschritte!“ erwiderten. Und auch heute noch ist die Sprachschule erfolgreich, zuletzt besuchte Djafari Acupari vor fünf Jahren zum 25-jährigen Jubiläum.
Über die Jahre hinweg hatte Anita Djafari immer mal mehr und mal weniger bei Litprom mitgewirkt. Als sie nach dem dreijährigen Aufenthalt in Peru wieder in Frankfurt war, meldete sie sich zurück und bekam über den Verein Übersetzungsaufträge vermittelt. Doch mit jedem weiteren Auftrag wuchs der Respekt vor dem Übersetzen und vor den Kolleginnen. Anita Djafari schätzt ihre Arbeit sehr selbstkritisch als „passabel“ ein. Die Hochachtung vor der Übersetzungstätigkeit ist auch heute noch spürbar, in ihrer Jurytätigkeit für den LiBeraturpreis sieht sie sich als „Anwältin der Übersetzer“ und möchte, dass die hochkomplexe Tätigkeit respektvoll bewertet wird.
Und das Übersetzen bescherte ihr ein neues Schlüsselerlebnis. Mit der Autorin Amma Darko aus Ghana machte sie eine Lesereise und trat in Graz bei einem internationalen Literaturfestival im botanischen Garten auf. Dabei merkte sie, wie viel Spaß es ihr machte, selbst auf der Bühne zu sitzen und Veranstaltungen mitzuorganisieren. Außerdem stellte sie fest, dass sie nicht für die zurückgezogene Schreibtischtätigkeit gemacht war:
„Übersetzen ist schön und es gibt einem auch viele Freiheiten, aber man sitzt ja einfach zwei-drei Monate zu Hause und niemand interessiert sich für einen“.
Anita Djafari vermisste andere Menschen. „Das ist schon einsam, ich wollte aus dem Haus raus“, gibt sie offen zu. Sie intensivierte ihre Arbeit für Litprom, schrieb Artikel und lektorierte, was sich 2005 auszahlte. Die Frankfurter Buchmesse fragte Anita Djafari, ob sie den Gastlandauftritt von Südkorea organisieren wolle – und Djafari sagte zu. „Das war ein Riesenauftrag. Ich habe den kompletten Auftritt der Koreaner allein organisiert. Ich habe mir zwei Aushilfen dazu geholt, aber im Grunde habe ich das ganz allein gemacht. Wie ich das hingekriegt habe, weiß ich nicht mehr“, erzählt sie und man merkt ihr an, dass sie von dieser Wendung immer noch überrascht ist. Der Auftrag war für Anita Djafari der Durchbruch im Bereich der Veranstaltungsorganisation und es folgte gleich für das nächste Jahr die Organisation des Auftritts von Indien als Gastland 2006. Kurz darauf baute Anita Djafari auch die Öffentlichkeitsarbeit für Litprom aus und konnte bald die Geschäftsleitung des Vereins übernehmen. „Und das habe ich mir dann auch zugetraut, nach diesen ganzen Erfahrungen“, sagt sie – zu Recht.
All die verschiedenen Stationen in der Literaturbranche, die Djafari durchlaufen hatte, konnte sie in dieser Position nutzen, um als Literaturvermittlerin tätig zu sein – eine Aufgabe, mit der sie sich äußerst wohl fühlte und die sie bis vor kurzem mit größtem Engagement ausgeführt hat. Und auch jetzt, im Ruhestand, ist Anita Djafari weiter bei Litprom aktiv, ist Sprecherin der Litprom-Bestenliste Weltempfänger und sitzt in der Jury für den LiBeraturpreis. Die Literatur ist also immer noch äußerst präsent in ihrem Leben, und wenn der Kopf mal eine kleine Lesepause braucht, singt sie in einem Chor oder arbeitet im Garten. Aber dann setzt sie ihre Lektüre begeistert fort, denn das „berufliche Lesen ist ein Privileg“. Schulterzuckend ergänzt sie: „Ich lese einfach gerne Bücher.“