Nachdem Übersetzer:innen nun fast anderthalb Jahre auf ihre üblichen Begegnungsorte wie die Jahrestagung des Übersetzerverbandes in Wolfenbüttel oder die Buchmessen verzichten mussten, bot die Translationale, ein Festival für Literaturübersetzung, ein neues Veranstaltungshighlight im Kalender. In diesem Sinne war das Festival wie so viele Literaturveranstaltungen im Herbst Vorbote einer neuen Normalität, in der es zwar Beschränkungen beim Einlass gibt, sich aber vor und nach den Programmpunkten ein Gewusel entwickeln darf, das an vergangen geglaubte Zeiten erinnert. Im Collegium Hungaricum Berlin verteilte sich das Festival auf über drei Etagen. Die Veranstalterinnen – Nora Bierich, Claudia Hamm, Eva Profousová, Dorota Stroińska von der Weltlesebühne und Aurélie Maurin vom TOLEDO-Programm des Deutschen Übersetzerfonds – und ihr Team waren drei Tage lang in allen Winkeln des Gebäudes anzutreffen und führten auch durch einige Veranstaltungen.
Was ein Festival für Literaturübersetzung zu bieten hat, wenn es die Begriffe „Literatur“ und „Übersetzung“ etwas weiter fasst, zeigte sich bereits am Freitagabend. In dem Workshop Handverlesen treffen hörende und nicht-hörende Lyriker:innen aufeinander, um sich gegenseitig zu übersetzen oder gemeinsam neue Poesie zu kreieren. Im Rahmen der Translationale stellten einige Tandems ihre Projekte vor, die nicht nur von viel Leidenschaft zeugten, sondern auch ästhetisch interessante Akzente setzen. Gefolgt wurde die Performance von der Dead Ladies Show, eine in Berlin schon lange etablierte Abendveranstaltung, bei der die bewegten Lebensgeschichten außergewöhnlicher, aber bereits verstorbener Frauen (an diesem Abend ging es um zwei Übersetzerinnen) zelebriert werden. Angeführt von der britischen Übersetzerin Katy Derbyshire gelang es, den ersten Abend auf einer lockeren Note ausklingen zu lassen und dem bis dato recht nüchtern gehaltenen Festival ein bisschen mehr Charme zu verleihen.
Überzeugen konnten vor allem die Veranstaltungen, bei denen die Moderatorinnen im Blick hatten, dass neben versierten Literaturübersetzer:innen auch noch andere im Publikum sitzen könnten. Am Samstagnachmittag versuchte man mit einer Kung-Fu-Vorführung im Rahmen des Materialgesprächs zu Karin Betz’ Übersetzung von Die Legende der Adlerkrieger die Veranstaltung aufzupeppen. Das wäre nicht unbedingt notwendig gewesen, da die Moderatorin Jing Bartz sich auch mal traute, die „einfacheren“ Fragen zu stellen (Worum geht es eigentlich in dem Roman?) und die Veranstaltung so im Griff hatte, dass sie Betz eines der greifbareren Bilder für den Übersetzungsprozess entlockte: Übersetzen sei wie ein „inneres und äußeres Kung-Fu“ – diese Beschreibung hatte deutlich mehr Witz als alle zuvor geäußerten Plattitüden über das Übersetzen.
Überraschend aufschlussreich war auch das Gespräch zwischen Robert Walsers Übersetzerinnen Marion Graf und Lídia Nádori. Der Moderatorin Lydia Dimitrow gelang, woran andere in den manchmal überlangen 90-minütigen Veranstaltungen scheiterten: einen roten Faden zwischen den einzelnen Diskussionsteilnehmern zu spinnen und gleichzeitig einen nicht übertrieben wissenschaftlichen Übersetzungsvergleich durchzuführen, der ganz deutlich aufzeigte, wie unterschiedlich übersetzerische Strategien sein können. Am Sonntagmorgen stieß dann wie gerufen noch die mit der Übersetzerbarke ausgezeichnete Literaturvermittlerin Anita Djafari hinzu, die dafür sorgte, dass sich die Übersetzerin Larissa Bender und die Literaturagentin Nicole Witt in der Podiumsdiskussion zum Thema „Weltliteratur“ nicht in allzu pessimistischen Tiraden verannten. Alle paar Minuten erinnerte sie daran, wie sehr sich die Buchbranche stetig verändert und auch weiterentwickelt. Hin und wieder tut es gut, wenn jemand vor Augen führt, dass die übersetzte Literatur in Deutschland noch immer nicht dem Untergang geweiht ist.
Einer der wenigen Tiefpunkte der Translationale war ausgerechnet die Festivalrede des bosnischen Schriftstellers Dževad Karahasan. Die Übersetzungsbranche ist leider auch nicht vor Widersprüchen gefeit: Zum einen beschwert man sich in regelmäßigen Abständen über die mangelnde Sichtbarkeit. Zum anderen lädt man Nichtübersetzer:innen ein, die wichtigsten Reden zu halten. Am Übersetzertag des Deutschen Übersetzerfonds hielt die Schriftstellerin Mithu Sanyal die Eröffnungsrede und gestand, dass sie vom Literaturübersetzen eigentlich wenig Ahnung habe. Ähnliches passierte auch auf der Translationale: In der Biographie von Dževad Karahasan kommt das Wort „Übersetzer“ überhaupt nicht vor. Wohl aus genau diesem Grund dauerte es eine gute halbe Stunde, bis er das Wort „übersetzen“ überhaupt in den Mund nahm. Seine paternalistische Rede handelte zwar irgendwie von „der Sprache“, aber als er über Dante und Platon schließlich seinen Weg zu Lessing fand, hatte man endgültig den Eindruck, dass es ihm vor allem darum ging, rhetorisch gewandt zu wirken. Mit Literaturübersetzung oder den in den vergangenen Monaten intensiv geführten übersetzerischen Debatten hatte das alles aber wenig zu tun.
Am Sonntagnachmittag lud dann noch der Literaturübersetzer Frank Heibert seine Tell-Kollegin Sieglinde Geisel, die ocelot-Buchhändlerin Maria-Christina Piwowarski, die Übersetzerin Olga Radetzkaja und den Literaturwissenschaftler Albrecht Buschmann dazu ein, sich 90 Minuten lang mit Übersetzungskritik zu beschäftigen. Im ersten Teil erfolgte eine behutsame Annäherung an das Thema, während es im zweiten in die Praxis ging. Schulmeistermäßig verteilte Heibert selbst gewählte Textauszüge an die Beteiligten, die diese dann live kommentieren sollten. Einige nervöse Handbewegungen vermittelten den Eindruck, dass sich so manche der Beteiligten tatsächlich in ein Klassenzimmer zurückversetzt fühlten, in dem sie ohne jeglichen Kontext oder Hilfestellung einen Text analysieren mussten. Und auch im Publikum war eine gewisse Anspannung zu spüren – die Kolleginnen hatten wohl Angst, die eigene Übersetzung an die Wand projiziert zu sehen.
Erstaunlich war an der kurzweiligen Veranstaltung vor allem eins: In der ersten Hälfte echauffierte man sich noch über die inflationär verwendete Redewendung „da stolpert man“, mit der oft Unstimmigkeiten in der Übersetzung beschrieben werden, und kritisierte, dass Übersetzungen nur dann im Feuilleton besprochen werden, wenn sie besonders schlecht sind. In der zweiten Hälfte machten die Teilnehmenden dann genau das, was man wenige Minuten zuvor als Sünden der Literaturkritik abgetan hatte. Sie „stolperten“ durch die Übersetzungen und identifizierten vor allem potenzielle Fehler sowie Ungereimtheiten. Am Schluss jeder Analyse stellte Heibert noch seine Gretchenfrage: „Vertraut ihr der Übersetzung“? Die meisten Textausschnitte riefen eine gewisse Skepsis bei den Expert:innen hervor, was der Veranstaltung einen leicht bitteren Beigeschmack verlieh. Schließlich würde man annehmen, dass zumindest Vertreter:innen der Literaturbranche Vertrauen in die Arbeit der Übersetzenden haben. Gut über Übersetzungen zu sprechen, will also gelernt sein.
Das Collegium Hungaricum war das Wochenende über insgesamt gut gefüllt, wirkte jedoch keineswegs ausgebucht, wie es einige Tage vor Festivalbeginn geheißen hatte. Viele hatten sich bei dem strahlenden Sonnenschein wohl umentschieden, zumal sich das Festival auch in die lange Liste der im Herbst in Berlin stattfindenden Literaturveranstaltungen einreihen musste. Die Konkurrenz ist in der Hauptstadt groß, was wohl einer der vielen Gründe ist, warum die Translationale insgesamt wenig Literaturinteressierte ohne Translationshintergund anzog.
Allen interessierten Nichtübersetzer:innen standen die Türen des Festivals offen – das mussten sie auch, da sich die Translationale unter anderem aus öffentlichen Fördermitteln im Rahmen von Neustart Kultur finanziert. Die Öffentlichkeit selbst hatte davon aber anscheinend wenig mitbekommen, sodass die Veranstaltung phasenweise wie ein reiner Branchentreff wirkte. Dieser Eindruck bestätigte sich auch während einiger Veranstaltungen, in denen Moderatoren das Publikum mit „Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen“ ansprachen, offensichtlich in der Annahme, dass man auf der Translationale unter sich sei. Gemessen daran, dass die Literaturübersetzer:innen in den letzten Jahren auf viele Großveranstaltungen verzichten mussten, ist das zwar wenig überraschend, für ein Festival dieser Größenordnung aber etwas fragwürdig. Man kann nicht mehr Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit einfordern, nur um dann doch in seinem eigenen Mikrokosmos zu bleiben.
Die Translationale war ein ambitioniertes Festival mit viel Potenzial. Damit es dies jedoch voll entfalten kann, braucht es von vielen der bereits vorhandenen Zutaten etwas mehr, angefangen beim Publikum: Die jüngere Generation war in den Abend- und Nachmittagsveranstaltungen kaum anzutreffen, dabei hatte das internationale literaturfestival berlin erst vor wenigen Wochen bewiesen, dass auch die U40-Jährigen gerne zu Literaturveranstaltungen gehen oder gar auf deren Bühnen sitzen. Und das Programm bot zwar augenscheinlich unterschiedliche Themenschwerpunkte, ihm schien aber ein recht elitäres Verständnis von Literatur zugrunde zu liegen, sodass in den Abendveranstaltungen keine Krimi‑, Fantasy‑, SciFi- oder gar Jugendbuch-Übersetzer:innen anzutreffen waren, obgleich deren Übersetzungen ein viel breiteres Publikum ansprechen.
Bei der Eröffnung des Festivals griffen die Veranstalterinnen die Frage auf, warum es überhaupt ein Festival für Literaturübersetzung geben sollte. Die Translationale selbst lieferte einige zufriedenstellende Antworten: Weil die Arbeit der vielen hochkompetenten Übersetzer:innen mehr Aufmerksamkeit verdient, weil die vielen qualitativ überzeugenden Übersetzungen eine große Leserschaft finden sollten und weil übersetzte Literatur über alle Grenzen hinweg verbindet. In der Hauptstadt wird sich die Translationale aber nur durchsetzen können, wenn sie es schafft, den Blick zu weiten und diejenigen in ihre Veranstaltungen zu locken, die man das ganze Wochenende über am allermeisten vermisste: die Leserinnen und Leser übersetzter Literatur.