Am 28. Oktober findet unsere öffentliche Leserunde TraLaLiest statt:
Wir lesen und sprechen über Dara McAnultys „Tagebuch eines jungen Naturforschers“.
Der Übersetzer Andreas Jandl ist auch dabei!
Alle Infos findet ihr hier.
Wie schreibt man anschaulich über Natur? Der junge Ire Dara McAnulty hat diese Frage mit seinem Tagebuch eines jungen Naturforschers eindrucksvoll und einfühlsam beantwortet. Er hat sie nicht nur beschrieben, sondern die Sprache der Natur für seine Leser:innen übersetzt und in eine poetische Prosaform gegossen. Durch das Tagebuch ist es möglich, Natur ähnlich intensiv zu erleben, wie Dara McAnulty es tut, und ihr fortan mehr Aufmerksamkeit zu schenken und draußen im Alltag einfach mal innezuhalten.
Dara McAnulty war gerade einmal vierzehn Jahre alt, als er das Tagebuch eines jungen Naturforschers als Blog geschrieben hat, für dessen Buchform er inzwischen als jüngster Preisträger den renommierten Wainwright Prize for Nature Writing erhalten hat. Die Biografie des jungen Autors ist beeindruckend. Als Aktivist engagiert er sich seit Jahren für den Umweltschutz, ist auf diesem Gebiet ein gefragter Spezialist und erforscht die Natur auf eigene Faust, um darüber Beiträge für die BBC oder Naturmagazine zu schreiben. Jetzt liegt der englischsprachige Bestseller dank der Übertragung von Andreas Jandl auch auf Deutsch vor und lädt zu intensiven Naturbetrachtungen und ‑erfahrungen ein.
In dem veröffentlichten Tagebuch schreibt Dara McAnulty über sein fünfzehntes Lebensjahr, das durch einen Umzug, einen Schulwechsel und eine schwere Depression geprägt wird, aber vor allem auch durch den Wechsel und die Wunder der Jahreszeiten und die alltäglichen Naturschauspiele, die sich vor seiner Haustür in Nordirland und der Umgebung abspielen. Außerdem erzählt er offen von seinem Autismus und dem Autismus seiner Geschwister und seiner Mutter (nur sein Vater hat keinen Autismus) und gewährt den Leser:innen einen Einblick in eine vermeintlich fremde Welt, die gar nicht so anders ist.
All das verpackt McAnulty in eine Sprache, die man wohl kaum von einem Teenager erwarten würde. Er hat eine ganz eigene Stimme erschaffen, die den Naturalltag auf eigentümlich lyrische Weise zelebriert, was dem Übersetzer mit Sicherheit einiges Kopfzerbrechen bereitet haben dürfte. Schließlich ist man sonst doch immer darauf aus, eine jugendliche Stimme möglichst authentisch wiederzugeben und sich Inspiration von den Straßenbahngesprächen unter Teenagern zu holen und aktuelle Jugendsprache wohldosiert einfließen zu lassen. Bei Dara McAnulty musste sich Jandl also voll und ganz auf die für einen Vierzehnjährigen sehr erwachsene Stimme einlassen, die unglaublich reflektiert ist, sehr direkt, aber gleichzeitig auch gespickt mit Stilmitteln und naturkundlichen Fachbegriffen. Schon im Vorwort geht McAnulty in die Vollen:
The outpourings on these pages express my connection to wildlife, try to explain the way I see the world, and describe how we weather the storms as a family.
Der Fluss aus meiner Feder zeigt meine Verbundenheit mit Flora und Fauna, erklärt möglichst klar meine Sicht auf die Welt und erzählt, wie wir als Familie alle Stürme überstehen.
Andreas Jandl hat die sprachlichen Besonderheiten in seiner Übersetzung perfekt aufgefangen und präsentiert sich als Meister des Klangs, aus den P‘s in „outpourings on the pages“ macht er „Fluss aus meiner Feder“, der die „Verbundenheit mit Flora und Fauna“ zeigt; die S‑Laute von „the way I see the world“ werden zu K‑Lauten: „erklärt möglichst klar“. Und das Idiom „to weather the storm“ wird durch das Beibehalten der Stürme und die beiden Ü‑Laute bestens aufgefangen.
Mit Alliterationen arbeitet der junge Naturforscher besonders gern:
Dimming all sounds, snow creates so much space in the mind.
Weil er allen Schall schluckt, schafft Schnee so viel Raum im Kopf.
McAnulty versteht sich darauf, lange, ausufernde und verwobene Naturbeschreibungen zu kreieren, die er aber immer wieder mit kurzen, klaren und pointierten Sätzen durchbricht, in denen Komplexes ganz konkret und schön formuliert wird. Wer kennt diese besondere Stille nicht, die nur Schnee erzeugt? Aber wer kann diese Stille und ihren Effekt so spezifisch in Worte fassen? Dara McAnulty beherrscht diese Kunst und Andreas Jandl baut sie in seiner Übersetzung ebenso kreativ und gekonnt nach.
Auch an ausgefallenen Farbbezeichnungen hat Dara McAnulty seine Freude – Inspiration hat er in Patrick Symes Buch Werners Nomenklatur der Farben gefunden. Und so liest man von einem „blutunterlaufenen Brombeerhimmel“ (bruised blackberry sky), einem „enteneiblauen“ (duck-egg blue) Himmel oder von verschiedenen Orangetönen:
We can still see an ocean of fertilised fields, the luminous greens contrasting with the rugged mountain, forest and the patchwork of birch leaves in Dutch and orpiment orange.
Wir sehen immer noch ein Meer aus gedüngten Weiden, hell leuchtendes Grün im starken Kontrast zu den zerklüfteten Bergen, zum Wald und dem Flickenteppich aus Birkenblättern in Holländisch Orange und Rauschgelb.
Auch Dara McAnultys Beschreibungen seiner Gefühlswelt sollte man besondere Beachtung schenken. Jahrelang war er in der Schule psychischem und physischem Mobbing ausgesetzt, das seine Spuren hinterlassen hat. Die Worte, mit denen Dara McAnulty diese Erfahrungen offen beschreibt, schmerzen beim Lesen und machen wütend („Die Mobber waren kräftige Jungs, beliebt, sportlich, und Lügen rollten ihnen von den Zungen wie Diamanten. Schwarze Diamanten. Blutdiamanten.“). Diese Offenheit zeigt er aber in beide Richtungen, und die Worte, die er für positive Empfindungen findet, die er meist in der Natur erlebt, unterstreichen die Heilkraft der Natur und die Stärke, die Dara aus der Begegnung mit Greif- oder Zugvögeln zieht:
Dave asks me to hold one of the birds, and as I bring it close to my chest its body heat illuminates me. I start to fill with something visceral. This is who I am. This is who we all could be.
Dave bittet mich, einen der Vögel zu halten, und als er so bei mir vor der Brust liegt, durchzieht mich seine leuchtende Körperwärme. Etwas in mir füllt sich mit etwas ganz Tiefem. So bin ich. So könnten wir alle sein.
Ein anderes Mal fühlt Dara sich „wie in goldenes Licht getaucht“ („it feels as if I’ve been dipped in a golden light“). Andreas Jandl hat die Gefühlswelt des jungen Autors behutsam und genau ins Deutsche übersetzt und vermittelt sie den Leser:innen dadurch äußerst authentisch.
Ein anderes Thema, das sich durch das ganze Tagebuch zieht, ist der Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. Daras jüngere Geschwister geben sich oftmals viel ungehemmter als er, während er selbst immer öfter zu spüren bekommt, dass bestimmte Verhaltensweisen, wie Herumhüpfen oder ausgelassenes Lachen, in seinem Alter nicht mehr angemessen sind. Und auch hierzu hat Dara McAnulty wunderbar klare und richtige Gedanken, die er glücklicherweise mit seinen Leser:innen teilt:
We’re told that childishness is wrong, bad almost. I mourn a world without such feelings. A joyless world, a disconnected one. I push these feelings aside.
Mir wurde beigebracht, dass kindisches Verhalten falsch ist, fast schlecht. Eine Welt ohne solche Gefühle finde ich zum Heulen. Eine freudlose, entfremdete Welt. Ich verdränge den Gedanken.
Dara McAnulty zeigt uns mit seinem Tagebuch eines jungen Naturforschers eine Welt, die vor natürlicher Schönheit und fantastischen Wundern nur so strotzt, die wir Menschen aber seit Jahren kontinuierlich zerstören. Mit seinen eindringlichen Naturbeobachtungen, seiner Liebe für Vögel und seiner grenzenlosen Offenheit weist Dara uns den richtigen Pfad, ohne den Zeigefinger zu erheben. Auf unnachahmliche Weise verbindet er sein Leben als Autist mit der Natur und den Mythen Nordirlands und nimmt uns mit auf eine Reise, die uns den eigentlich wichtigen Dingen des Lebens wieder näherbringt: dem inneren Kind, den Bäumen und Vögeln, unserer unmittelbaren Umwelt, unserem Lebensraum. Andreas Jandl hat die herausfordernde poetische Stimme von Dara McAnulty perfekt eingefangen, sodass dessen Verletzlichkeit und Kraft auch im Deutschen gleichermaßen zur Geltung kommen. Darüber hinaus zeigt sich Jandl als Meister von Rhythmus und Musikalität, wie die fließenden und klingenden Naturbeschreibungen eindringlich zeigen.
Anfang Oktober postete Dara McAnulty auf Twitter ein Foto von seinem PC-Bildschirm, auf dem ein Dokument mit den folgenden Worten geöffnet war: „Wanderings of a Young Naturalist. Dara McAnulty“. Wir können also darauf hoffen, dass Dara McAnulty uns in naher Zukunft wieder die Sprache der Natur übersetzt – und dass Andreas Jandl diese Aufgabe wieder für die deutschsprachigen Leser:innen übernimmt!