Als die Helsinkier Zeitung Helsingin Sangomat 1992 bei Künstler*innen und Literaturkritiker*innen nachfragte, welcher Roman der wichtigste Finnlands seit der Unabhängigkeit 1917 sei, nannten diese ausgerechnet Volter Kilpis Alastalon salissa (Im Saal von Alastalo). Die Überraschung muss groß gewesen sein, hatte dieses Buch doch so gut wie niemand gelesen, da sein Autor als vergessen galt. Und das nicht ohne Grund, denn Alastalo erzählt zwar eine Geschichte, erfindet aber auch eine Sprache, die heutigen und wohl auch damaligen Hörgewohnheiten kaum entgegenzukommen vermag.
Eines Herbsttages im Jahr 1864 kommen achtundzwanzig Landbesitzer auf Alastalo, dem Gut des Hermann Matsson, zusammen, um Anteile an einer Bark zu zeichnen. Diese Landbesitzer sind nicht nur ausgebuffte Geschäftsleute und Trickser, sondern auch begnadete Geschichtenerzähler. Sie rollen Seemannsgarn auf, schwelgen in Anekdoten und rangeln miteinander um Macht und Ansehen. Und obwohl die meisten von ihnen eher wohlbetucht sind, gibt es soziale Unterschiede zwischen ihnen, die Kilpi mit aller Liebe zum Detail beschreibt: Alastalo selbst tritt zwar als Primus motor auf, ist aber mitnichten der Reichste, obwohl auch er sich einiges leisten kann (genannt sei stellvertretend das für die damalige Zeit unübliche Sofa im titelgebenden Saal). Am meisten Geld hat Langholma, der staatsmännisch über Wohl und Weh der Bauunternehmung entscheiden darf. Pukkila ist der Eigenbrötler, der sich ständig gegen die Mächtigsten der Gruppe auflehnen muss; und Härkäniemi tritt nicht nur als Pfeifenraucher mit exquisitem Kennerwissen auf, sondern hat auch die tollsten „Histörchen“ auf Lager. Mal wird in der ersten, mal in der dritten Person von diesen Figuren erzählt, man befindet sich immer in einem Bewusstseinsstrom, wodurch oft der Eindruck entsteht, man höre den Charakteren nicht beim Gespräch, sondern beim Denken zu. Es schwirren zwar viele Worte durch den Saal von Alastalo, oft herrscht aber tiefes Schweigen.
Sprachlich betritt Kilpi komplettes Neuland. Er fokussiert sich vor allem auf Rhythmus und Klang, wiederholt Wörter wie auch Silben und breitet seine Sätze oft über mehrere Seiten aus. Daneben verwendet er maritime Fachausdrücke und Lehnwörter aus dem Schwedischen, er bedient sich am Dialekt seiner Heimat Kustavi, bringt Wortneuschöpfungen ein und verweigert sich den Regeln der Grammatik – all das in einer bildreichen Sprache, die das Konkrete und das Abstrakte nebeneinanderstellt, oft auch in ausladenden Genitivmetaphern.
Die Übersetzungshistorie von Alastalon salissa ist mindestens so umständlich wie der Roman selbst. Denn sie ist zunächst einmal eine Geschichte des Scheiterns. Noch 1996 veröffentlichte der Literaturkritiker Kai Laitinen in Books Of Finland einen Artikel mit dem vielsagenden Titel On Not Translating Volter Kilpi. Versuche hatte es zwar durchaus gegeben, nur keine erfolgreichen. Auf Geheiß Kilpis, der sein Buch gerne in einer anderen Sprache sehen wollte, war der finnlandschwedische Dichter Elmer Diktonius noch zu Lebzeiten des Autors vorangeprescht, das Ganze stellte sich aber als künstlerisches und finanzielles Debakel heraus. Selbst der renommierte englische Übersetzer David Barrett kam nur wenige Abschnitte weit und musste konstatieren, dass nur ein fanatischer Kilpi-Enthusiast eine solche Aufgabe bewältigen könne. Der hieß Thomas Warburton und vollendete 1997 die erste Komplettfassung des Romans in einer anderen Sprache.
Über die Jahre sind aber immerhin Auszüge von Alastalon salissa erschienen. 2014, als Finnland Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war, gab es mit Die Albatros eine von Härkäniemi dargebrachte Erzählung als Single-Auskopplung zu lesen (Ü.: Gabriele Schrey-Vasara). Ebenso bekommt man auf dem Blog des Autors George Salis tatsächlich eine englische Fassung des ersten Kapitels geboten, und zwar vom Linguisten Douglas Robinson, der auch schon Aleksis Kivis Sieben Brüder in eine Art Shakespeare-Englisch übersetzt hat.
Bis 2021 war also Thomas Warburtons schwedische Fassung die einzige vollständige Übersetzung dieses Romans. Im Oktober erscheint Alastalon salissa nun erstmals komplett auf Deutsch. Ich habe den Übersetzer Stefan Moster gefragt, wie er es geschafft hat, diesen so schwierigen Roman zu meistern.
Herr Moster, wie wurden Sie auf Kilpi aufmerksam?
Wer sich mit finnischer Literatur befasst, wird automatisch auf Kilpi aufmerksam. Er zählt zu den großen Klassikern. Allerdings passt er nicht hundertprozentig in die konventionelle Erzählung der finnischen Literaturgeschichte, weshalb der große Name auch für mich lange ein großer weißer Fleck blieb. Aber dann besuchte ich eines Sommers die Volter-Kilpi-Literaturtage in Kustavi, seinem Heimatort, und sah mir eine Theateraufführung an, in der die Erzählung „Der Wanderer auf dem Eis“ in einem szenischen Monolog gezeigt wurde, und da begriff ich die besondere Kraft von Kilpis Sprache.
Was hat Sie an diesem Text gereizt?
Die besondere Kraft von Kilpis Sprache. Die Verrücktheit der Idee. Die totale Eigensinnigkeit eines Menschen, der dringend was zu erzählen hat, und zwar viel. Der großartige Witz. Die haarsträubenden Ketten von Metaphern. Die wunderbare Kunst, auch mit den verschlungensten Sätzen zu einem schlüssigen Ende zu kommen. Der Rhythmus dieser Prosa. Die Einzigartigkeit des ganzen Dings. Um nur ein paar Aspekte zu nennen.
Meine Erfahrung mit Projekten solcher Art ist, dass Verlage erstmal schreiend davonrennen, wenn man ihnen als enthusiastischer Übersetzer von einem Vorhaben dieser Größenordnung erzählt. Wie ist es Ihnen gelungen, mare von Kilpi zu überzeugen?
Das war leicht. Sie fragten mich, welches der maritime Klassiker in Finnland sei. Ich nannte Kilpi. Daraufhin zogen sie Erkundigungen ein. Außerdem hatte ich da schon Auszüge der erwähnten Erzählung „Der Wanderer auf dem Eis“ übersetzt und konnte vorzeigen, wie Kilpi schreibt. Und das hat die Verantwortlichen im Verlag sofort überzeugt. Ich musste gar nichts tun. Kilpi sprach für sich selbst.
Haben Sie kontinuierlich an Alastalo gearbeitet oder immer wieder mal, je nachdem, wie Ihre Zeit es zuließ? Wie sah Ihr Arbeitstag aus?
Ich habe zunächst gut neun Monate hauptamtlich an der Übersetzung gearbeitet. Früh aufstehen, nach dem Frühstück anfangen zu übersetzen, mit Pausen bis zum Nachmittag weitermachen. Danach ausruhen, um am nächsten Morgen wieder fit zu sein. Mein Zeitplan haute nicht hin, es ging sehr langsam voran, ich musste nochmal so viel Zeit investieren und dann auch mal für eine andere Arbeit unterbrechen. Aber da war ich schon so tief drin, dass ich jeden Tag ein bestimmtes Pensum schaffte.
Welche Hilfe hatten Sie bei Ihrer Arbeit? Hatten Sie jemals Kontakt zu Gabriele Schrey-Vasara, die bereits 2014 einen Auszug aus dem Roman ins Deutsche gebracht hat?
Gabriele Schrey-Vasara ist eine alte Freundin von mir, wir kennen uns seit dreißig Jahren und arbeiten oft zusammen, aber über Kilpi haben wir nie gesprochen. Ich habe ihre Übersetzung auch nicht gelesen. Meine Hilfen waren Wörterbücher, Literatur über Schifffahrt und über die Schären, natürlich auch über Kilpi, dazu die Zettelkästen des finnischen Dialektarchivs sowie finnische Gewährsleute, denen ich in der Schlussphase, also beim letzten Durchgang, Fragen stellte. Das waren Leute, die selber schreiben oder übersetzen oder aus Kilpis Gegend stammen oder begeisterte Kilpi-Leser sind. Außerdem warf ich stellenweise einen Blick in die schwedische Übersetzung, um zu sehen, wie da die besonders kniffligen Stellen gelöst wurden.
In Ihrer Nachbemerkung zur Übersetzung erwähnen Sie, dass Kilpi nicht nur Neologismen verwendet, sondern auch lokalspezifische Phänomene. Können Sie an einem Textbeispiel verdeutlichen, was Sie damit meinen?
Na ja, das sind natürlich einerseits lokaldialektale Wörter, andererseits aber Phänomene, die in Kustavi normal waren, anderswo aber nicht unbedingt, beispielsweise eine bestimmte Bauweise von Schiffsanlegern mit angeschlossenem Magazin und dann natürlich der Erfahrungsraum der so genannten „Bauernkapitäne“, die Getreide anbauten, Vieh züchteten, Fische fingen, Bäume fällten und alle Erzeugnisse mit selbst gebauten Schiffen und nach eigenem Gutdünken exportierten. Geräte, Tätigkeiten, Orte, Erfahrungen usw. So steht z. B. im Saal von Alastalo ein riesiges Sofa, wie man es garantiert in keinem finnischen Museum findet, das dort aber stehen konnte, weil Alastalo in die Ferne gesegelt ist, dort gesehen hat, was im Ausland ein Sofa sein kann und damit ein Vorbild für ein eigenes Sofa mit nach Hause bringen konnte, das im Finnland um 1860 garantiert die Super-Avantgarde der Wohnzimmermöblierung darstellte. Und das Ganze im kleinen, bäuerlichen Kustavi. Man muss das alles wissen, damit man beim Übersetzen die richtigen Worte wählt.
Es gibt verschiedene Ansätze, einen Roman wie diesen in eine andere Sprache zu bringen. Thomas Warburton wollte Kilpis morphologische Eigenheiten im Schwedischen gar nicht erst imitieren, sondern hat stattdessen mit dem Vokabular älterer Literatur gearbeitet und so gut wie möglich versucht, die wellenähnlichen Rhythmen des Originaltexts nachzuempfinden. Douglas Robinson, der seine Übersetzung hoffentlich irgendwann wird abschließen können, erschafft in Anlehnung an Kilpis archaisches Finnisch eine archaische englische Kunstsprache.
Ihre Übersetzung hingegen ist anders. Sie lässt sich leichter lesen, auch wenn Sie öfters altmodische oder weniger gebräuchliche Wörter und Fachbegriffe verwenden, z. B. „schamfilen“, „Knust“, „Hofgeviert“, oder aber bildreiche Neuschöpfungen, etwa „Verstandeskahn“, „Kopfknäuel“ oder Genitivmetaphern wie „Backenzähne des Denkens“. Wie sind Sie zur Entscheidung gekommen, Im Saal von Alastalo genau so zu übersetzen und nicht anders?
Ich fragte mich, was Kilpi wollte, mit welchem Ansatz er an die Sache ranging. Er wollte es nicht kompliziert machen, sondern genau. Er wollte die Sprache in voller Breite und Tiefe aktivieren, in voller Farbigkeit auch. Er wollte Rhythmus und Klang. Das waren meine Maßstäbe. Das Problem bei Texten mit vielen Neologismen ist nicht, dass es schwer wäre, sich als Übersetzer Neuschöpfungen auszudenken, sondern es liegt darin, dass sie treffend sein müssen, nicht nur semantisch, sondern klanglich. Kilpis Neologismen sehen aus wie Wörter, die es schon gibt. Und so muss es auch im Deutschen sein. Wenn das nicht hinhaut, nimmt man lieber ein bekanntes Wort.
Zweites Problem: Dialekt. Dialekte sind lokal gebunden, wecken also entsprechende Assoziationen. Und sie lassen sich nicht so leicht mischen, jedenfalls nicht im Deutschen. Eine Romanfigur kann nicht in einem Satz „das kann doch nicht angehen“ sagen und im nächsten „legst di nieder“. Insofern gab es gar keine andere Wahl, als es im Deutschen einen Hauch zugänglicher zu machen. Aber natürlich hängt das auch damit zusammen, dass ich meine Grenzen habe. Ein anderer oder eine andere würden es vielleicht besser machen. Es hat aber niemand gemacht.
Und schließlich: Kilpi auf Finnisch zu lesen ist eigentlich nicht schwer. Man stößt halt ständig auf wenig geläufige Wörter, aber man weiß trotzdem immer, was los ist. Es besteht von daher kein Grund, es für deutsche Leser*innen vorsätzlich kompliziert zu machen.
Im Saal von Alastalo ist ja nur der erste Teil der sogenannten „Schären-Trilogie“, an der Kilpi gegen Ende seines Lebens arbeitete. Mit Der Wanderer auf dem Eis haben Sie nun einige Erzählungen mit herausgegeben, die ebenfalls zu diesem Werkkosmos gehören. Wollen Sie auch Kirkolle, den dritten Band, übersetzen?
Selbstverständlich will ich das. Aber wir wollen nicht zu viel erwarten. Ist schon wahnsinnig toll, dass es jetzt zwei Kilpi-Bücher auf Deutsch gibt.
In Finnland kann man zum jährlichen Kilpi-Festival T‑Shirts kaufen, auf denen die Aufschrift „Ich habe Alastalon salissa gelesen“ prangt. Gibt es seitens des Verlags Pläne, so ein T‑Shirt auch in Deutschland auf den Markt zu bringen? Schließlich wäre es schön, wenn sich die (wenigen) Kilpinauten irgendwie gegenseitig erkennen könnten, wenn sie sich auf der Buchmesse oder auf einsamen Inseln über den Weg laufen …
Ich glaube, das wurde mal erwogen. Aber ich weiß nicht, wie der aktuelle Stand der Dinge ist. Ich selbst besitze übrigens so ein finnisches Original-T-Shirt nicht. Obwohl ich nun wirklich das Recht hätte, es zu tragen.