Hauptfiguren literarischer Werke sind nicht selten von Beruf Autor oder Autorin. Verwunderlich ist das nicht, schließlich ist es eine Lebensrealität, die Autoren von Büchern kennen wie keine andere. Anders ist es mit dem Literaturübersetzen. In der breiten Öffentlichkeit ist nur wenigen Menschen bewusst, was diese Tätigkeit eigentlich genau beinhaltet, und es gibt auch nur eine Handvoll Bücher, in denen Literaturübersetzerinnen die Hauptrolle spielen. In Cécile Wajsbrots Roman Nevermore, kürzlich in einer Übersetzung von Anne Weber auf Deutsch erschienen, ist die zentrale Figur, deren Perspektive die Leserinnen und Leser einnehmen, nicht nur Literaturübersetzerin, ihre Arbeit an der Übersetzung von Virginia Woolfs To the Lighthouse ist das Fundament und Gerüst der Handlung.
Die nicht namentlich genannte Übersetzerin in Wajsbrots Roman beantragt ein Aufenthaltsstipendium und verlässt ihre gewohnte Umgebung Paris, um in Dresden an der Übersetzung von Virginia Woolfs Werk ins Französische zu arbeiten. Warum ausgerechnet Dresden? Die Frage wird zwar versucht zu beantworten, doch so ganz scheint es auch der Übersetzerin nicht klar zu sein, was der Grund für ihren Ortswechsel war. Sie versucht Abstand zu gewinnen, den Tod einer Freundin zu verarbeiten, in einer Stadt, deren Geschichte von Krieg geprägt ist, ein Buch zu übersetzen, dass zu der Zeit eines anderen Krieges spielt.
Schon auf den ersten Seiten macht sie sich an die Arbeit. Leserinnen und Leser blicken ihr dabei über die Schulter und bekommen einen Eindruck des Übersetzungsprozesses:
»Well, we must wait for the future to show«, said Mr. Bankes, coming in from the terrace.
Wir müssen warten, dass die Zukunft sich zeigt, sagte Mr. Bankes, von der Terrasse kommend. Wir müssen sehen, was die Zukunft für uns bereithält, sagte Mr. Bankes, von der Terrasse kommend.
Wir müssen darauf warten, dass die Zukunft sich zeigt, sagte Mr. Bankes, als er von der Terrasse ins Haus trat. Wir müssen warten, womit die Zukunft uns aufwartet, sagte Mr. Bankes, der von der Terrasse hereinkam.
Warten wir, was die Zukunft für uns bereithält. Warten wir ab, was die Zukunft … Nun, wir müssen abwarten, was die Zukunft … sagte Mr. Bankes, der von der Terrasse kam.
Wie an diesem ersten Absatz zu erkennen, fließt die Übersetzung – nicht das finale Produkt, sondern der Prozess des Übersetzens – in den Text ein und liest sich als Gedankenstrom der Übersetzerin. Die englischen Originalstellen werden vorangestellt und darauf folgt die Annäherung der Übersetzerin an den Text. Mal konkreter und zielgerichteter, mal ausschweifend und unausgereift.
Dieser Aufbau, bei dem die Lesenden in die Gedankenwelt der Literaturübersetzerin bei der Arbeit eintauchen, zieht sich durch das gesamte, etwa 220 Seiten umfassende, Buch. Stellenweise kann dies etwas langatmig werden, denn die Handlung schiebt sich nur sehr schleppend voran. Die Rahmenhandlung der Übersetzerin, die nach Dresden fährt, um an ihrem neuesten Auftrag zu arbeiten, und dabei versucht, von ihrer verstorbenen Freundin Abschied zu nehmen, wird zwar immer wieder aufgegriffen – wie in einem zentralen und auch freistehenden Satz: „Ich bin gekommen, jemanden zu beweinen“ – aber meist sehr in den Hintergrund gerückt. Es geht in Nevermore vor allem um den Übersetzungsprozess an sich, als Handwerk, als Kunst und im übertragenen Sinne.
Die Autorin verknüpft die Arbeit an Woolfs Werk und die Trauer lose mit erst scheinbar unzusammenhängenden Motiven, die einfließen, ohne dass den Leserinnen und Lesern die Denkarbeit abgenommen wird, zu ergründen, warum diese eine Rolle spielen. Die Entwicklung der Gegend um Tschernobyl nach der verheerenden Atomkatastrophe, der Bau des sogenannten High Line Parks in Manhattan sowie Glockengeläut und Glocken als Motive der klassischen Musik. Wie genau diese Motive zusammenhängen, was sie mit Zerfall und Wiederaufbau, mit Tod und Auferstehung, Natur und ihrer regenerierenden Kraft zu tun haben, bleibt ebenso eine Andeutung – eine Annäherung – wie die Übersetzung an sich.
Schnell wird durch Beispiele, aber auch durch konkrete Überlegungen der Übersetzerin klar, dass sie den Übersetzungsprozess als eben so eine Annäherung begreift. Demnach liest man nicht nur die Übersetzung in unterschiedlichen Versionen, sondern erfährt auch die Hintergedanken, warum manche Formulierungen funktionieren, manche nur scheinbar und andere gar nicht. Das lädt zum Tüfteln ein, zum Weiterübersetzen, um vielleicht zu einem noch passenderen Ergebnis zu kommen, denn Wajsbrot – oder in der Übersetzung auch Anne Weber – kommt nicht immer zu einer endgültigen Fassung. So zeigt die Autorin, was vielen außerhalb der Übersetzerwelt nicht klar ist, nämlich wie die Arbeit einer Literaturübersetzerin überhaupt aussieht. Sie schreibt nicht nur den Satz in einer anderen Sprache auf, sie recherchiert, interpretiert, bastelt an den Sätzen herum, nur um manchmal zur vorherigen Fassung zurückzukehren, weil diese einen passenderen Rhythmus hatte. Dabei zeigt sie die Feinarbeit, die zum Übersetzen dazugehört, und was es mit einem Satz macht, wenn sie einzelne Bausteine umstellt und verändert. Vor allem aber betont sie, wie wichtig Rhythmus ist, auf den die Figur in Wajsbrots Roman und somit auch ihre deutsche Übersetzerin Anne Weber besonderen Wert legen.
But what after all is one night?
Aber was ist schon eine Nacht? Eine Nacht, nicht im Sinne von: Gegenteil des Tages, sondern eine zählbare Nacht. Eine einzige. Eine Nacht im weiten Raum der Zeit. Ein winziger Punkt. Da ist dieser besondere Rhythmus. But what after all is one night? Woolf hätte auch schreiben können but what is a night after all – tatsächlich folgt after all meistens auf das Verb. Hier ist es jedoch der Rhythmus, der den Satz skandiert und über den Platz der Wörter entscheidet. Der Rhythmus ist das Wesentliche beim Schreiben, sagt sie irgendwo. Es wird Nacht. Im Winter dehnt sie sich aus. Die Nacht folgt auf die Nacht. Und in dieser Welt aus nackten Bäumen, die auf die Pracht des Herbstes folgen, ist der Seufzer einer Menschheit zu hören, die die Welt noch nicht ganz aufgegeben hat.
Gerade die kurzen Sätze bereiten der Übersetzerin oft Kopfzerbrechen:
Ein kurzer Satz konnte oft stunden- und wochenlang jedem Übertragungsversuch widerstehen, während ein längerer und scheinbar komplexerer Satz eine Annäherung zuließ, ohne sich groß zu widersetzen.
Vor allem, wenn es darum geht, Formulierungen präzise, stimmig und rhythmisch auf den Punkt zu bringen, erlebt die Übersetzerin eine Blockade. Vielleicht auch ein symbolischer Hinweis, dass die Übersetzerin in der momentanen Lebensphase nicht immer einen klaren Kopf hat und nach Antworten auf ganz andere Fragen sucht, was sich in der Suche nach der passenden Übersetzung widerspiegelt.
Anne Weber hat mit Nevermore im Prinzip doppelt übersetzt. Einmal Wajsbrots französisches Original ins Deutsche und dazu auch die Übersetzungen von Virginia Woolfs To the Lighthouse aus dem Englischen, manchmal mit Bezug auf die französische Übersetzung der Romanfigur. Wie Anne Weber mit den Übersetzungen in der Übersetzung umgeht, zeugt von ihrer Vielseitigkeit, denn sie schafft es, die kniffligen Stellen und Stolpersteine, an denen die Romanfigur bastelt, glaubwürdig ins Deutsche zu übertragen. Wo es nötig ist, nimmt sie sich die Freiheit, den Text so zu gestalten, dass er auch in deutscher Übersetzung funktioniert. Stellenweise musste Anne Weber tricksen, um die Logik des Textes beizubehalten:
[Mr. Ramsay, stumbling along a passage stretched his arms out one dark morning, but Mrs. Ramsay having died rather suddenly the night before he stretched his arms out. They remained empty.]
Wie übersetzen? Der Satzbau ist verwirrend. Mr. Ramsay, der in einem Gang gestolpert war, streckte an einem düsteren Morgen die Arme aus, doch da Mrs. Ramsay in der vorhergehenden Nacht plötzlich gestorben war, streckte er die Arme aus. Ins Leere. Er streckte die Arme aus, aber er streckte die Arme aus. Sie blieben leer. Die ins Leere gingen. Die leer blieben. Mr. Ramsay streckte, im Gang stolpernd, an einem dunklen Morgen die Arme aus, aber da Mrs. Ramsay in der Nacht zuvor plötzlich gestorben war, streckte er die Arme aus. Die leer blieben. Warum kennt das französische Verb mourir kein Partizip? Warum muss man, wenn man ein Partizip braucht, das Verb décéder verwenden? Mrs. Ramsay ayant décédé la nuit précédente. Étant décédée dans la nuit. Das hört sich nach Todesanzeige an, während das Original viel natürlicher klingt. Zurück zu étant morte … Jedenfalls bleibt das eigentliche Problem – das »aber«. Er streckte die Arme aus, aber er streckte die Arme aus. Und dann der Punkt danach, der Satz hört auf und lässt diesen Widerspruch stehen. Ist es ein Tippfehler, der seit der Originalausgabe übernommen wurde? Eine sich ausdehnende Unachtsamkeit? Der Wille, einen Bruch darzustellen? Ein Zeichenfehler, also ein Punkt statt des zu erwartenden Kommas?
Doch diese, in der Gesamtheit doch eher wenigen und eher unauffälligen Stellen, in denen den Leserinnen und Lesern ins Bewusstsein gerufen wird, dass sie es bei diesem Buch über das Übersetzen selbst mit einer Übersetzung zu tun haben, sind nicht die einzigen Abschnitte, in denen Anne Weber zeigen konnte, dass sie eine feinfühlige und stilbewusste Übersetzerin ist. Wenn im Buch nicht gerade übersetzt wird oder wir dem assoziativen Gedankenstrom der Übersetzerin folgen, ändert sich schnell der Ton der Erzählstimme. Dann werden kurz und knapp, oft auch lückenhaft Notizen wiedergegeben, die wie zur eigenen Erinnerung scheinen. Besonders beeindruckend zeigt sich der Tonwechsel in Anne Webers Übersetzung aber, wenn die Übersetzerin in ihrer Trauer glaubt, die verstorbene Freundin zu sehen, und mit ihr Gespräche führt, die im Deutschen eindringlich und poetisch wiedergegeben werden:
Eine Silhouette, ein Schatten, eine vage Gestalt mit unscharfen Konturen, die ich wiederzuerkennen glaubte. Bist du es?, sagte ich, während ich doch nicht den Mund aufmachte – den Klang meiner Stimme nicht hörte. Ich, sagte sie, sagte die Gestalt.
Das Meer – suchst du es noch?
Ich suche nicht.
Was machst du?
Erinnern.
Erinnerst du dich?
Ich suche.
In deinem Gedächtnis?
Ich komme.
Wo bist du?
Du siehst mich.
Aber vorher?
Es gibt keinen Namen.
Und du?
Keinen Namen.
Cécile Wajsbrot ist selbst auch Literaturübersetzerin, das zeigt sich von der ersten bis zur letzten Seite des Buches. Unter anderem hat sie The Waves von Virginia Woolf ins Französische übertragen und kennt also die Materie. Im Team mit Anne Weber waren hier zwei Profis am Werk, die ein Buch geschaffen haben, das als Roman für sich steht, aber auch tiefe Einblicke in die Tätigkeit einer Literaturübersetzerin gibt und die Gedanken teilt, die hinter jedem einzelnen Satz der Übersetzung stecken.
Dabei zeigen sie auch einen der Wege, an eine Übersetzung heranzugehen: den der Annäherung. Wajsbrots Übersetzerin findet schöne Bilder für ihre Auffassung des Prozesses, dieser „ungenauen Wissenschaft, ein[em] immer neu nicht zum Scheitern, aber zur Unvollkommenheit verdammte[n] Versuch“:
Gewiss stimmt das Bild nicht. Vielmehr kommt alles darauf an, wie man es betrachtet. Natürlich liegt die Übersetzung nicht über dem Originaltext, aber sie fliegt, sie schwebt zunächst einmal ohne Halt und nähert sich allmählich ihrem Stützpunkt, die Wiedergabe des Textes ist in Sicht, nimmt Konturen an, deutlichere Formen sind zu erkennen, und es kommt der Moment, wo sie auf einem soliden Sockel, auf festem Boden zu stehen kommt.
Zudem wirft das Buch übersetzerische Fragen auf, ohne konkrete Antworten darauf zu geben: Spielt das Umfeld, in dem übersetzt wird, eine Rolle? Ist es egal, ob eine Übersetzung in Paris oder Dresden entsteht? Spielt es eine Rolle, welche Themen die Übersetzerin sonst noch beschäftigen?
In Nevermore legen Cécile Wajsbrot und Anne Weber mit viel Liebe zum Detail offen, wie Übersetzungen entstehen können und was bei diesem Prozess alles mit einfließt. Sie öffnen eine Tür zu einer Welt, die vielen Leuten, selbst innerhalb der Buchbranche, ein Rätsel ist, und zeigen, dass kaum jemand einen Text so genau liest wie die Übersetzerin oder der Übersetzer. Außerdem deuten sie größere Zusammenhänge und Parallelen an, die der Übersetzungsprozess symbolisieren könnte, die aber meist in der Luft hängen bleiben und von Leserinnen und Lesern selbst gedanklich weitergeführt werden müssen. Entstanden ist ein Buch, in dem sprachlicher Feinsinn und ein Gespür für kleinste Nuancen im Text jede einzelne Seite bereichern.
Am 30. November findet unsere öffentliche Leserunde TraLaLiest statt:
Wir lesen und sprechen über Cécile Wajsbrots Nevermore.
Die Übersetzerin Anne Weber ist auch dabei!
Alle Infos findet ihr hier.