Es gibt etwa 7000 Sprachen auf der Welt, doch nur ein winziger Bruchteil davon wird ins Deutsche übersetzt. Wir interviewen Menschen, die Werke aus unterrepräsentierten und ungewöhnlichen Sprachen übersetzen und uns so Zugang zu wenig erkundeten Welten verschaffen. Alle Beiträge der Rubrik findet ihr hier.
Wie haben Sie Hebräisch gelernt?
Nach dem Abitur 1980 in Tübingen ging ich zunächst als Freiwillige der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste nach Israel. In den 18 Monaten Altenarbeit dort habe ich die Sprache im Grunde wie ein Kind gelernt: durch Zuhören, Rumrätseln, Nachfragen und Nachsprechen. (Ich glaube, hier liegt der Grund, dass ich so schnell den Weg zum Lyrikübersetzen fand.) Danach wollte ich aber auch systematisch Lesen und Schreiben lernen, um etwas von dem Neuentdeckten nach Hause mitnehmen zu können, wo damals, soviel ich wusste, niemand Ivrith (heutiges modernes Hebräisch) sprach. Also verbrachte ich weitere 18 Monate in klassischen Einwanderer-Sprachkursen in Jerusalem.
Fasziniert hat mich beim Erlernen der Sprache, dass man, wie bei den semitischen Sprachen überhaupt, von einer einzigen „Wortwurzel“, die eine Grundbedeutung enthält, nach festgelegten Worbildungsmustern verschiedenste Verben, Adjektive, Substantive und Abstrakta ableiten kann. Dadurch kann man (gerade als Anfängerin, wenn einem noch so viele Wörter fehlen) auch Wörter bilden, deren Stellen im sprachlichen System vielleicht gar nicht besetzt sind, die aber dennoch sofort verstanden werden.
Haben Sie neben modernem Hebräisch auch Althebräisch gelernt?
1983 kehrte ich nach Tübingen zurück, studierte erst Biblisches Hebräisch und dann an der Freien Universität Berlin im Hauptfach Judaistik. Dort lernten wir zunächst die Grundlagen der verschiedenen historischen Entwicklungsstufen des Hebräischen, angefangen vom Alten Testament, dem Tenach (ab 7. Jahrhundert vor Chr.), über Mischna und Talmud (im 3.–6. Jahrhundert), zur mittelalterlichen Poesie bis hin zum Hebräischen der jüdischen Aufklärung und dem modernen Ivrith. All diese Sprachschichten unterscheiden sich etwas in Grammatik und Syntax, und jede fügte im Laufe der Jahrhunderte dem bisherigen Bestand einen neuen, eigenen Wortschatz und vor allem ihre charakteristische eigene Literatur hinzu.
Diese früheren Sprachschichten sind im modernen Hebräisch – und das ist seine große Besonderheit – noch lebendig und erkennbar enthalten. Sie sind nicht, wie etwa das Alt- oder Mittelhochdeutsche bei uns, von neueren überschrieben worden. Auf eben dieser Besonderheit beruht auch die hebräische Lesekultur.
Mit jedem neuen Autor, den ich übersetze, erschließt sich mir ein jeweils neuer Umgang mit diesem enormen synchronen Sprachschatz. Es gibt AutorInnen, die sich fast ausschließlich in der neuesten Schicht des Ivrith bewegen, und andere, die nur selten, für besondere Situationen ganz gezielt auf die tieferen, alten Sprachschichten zurückgreifen, und es gibt solche, die dies beinah in jedem Absatz tun. Damit rufen sie ganz bewusst entweder den assoziativen Kontext der jüdischen Traditionsliteratur (also von Tenach, Mischna, Talmud oder den Gebetstexten) mit auf, wie etwa Samuel Joseph Agnon oder Chaim Be’er, oder sie nutzen die alten Quellen primär als Fundgrube für einen starken, nicht abgegriffenen Wortschatz, wie Zeruya Shalev.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Hebräischen? Wie gehen Sie damit um?
Die größte Schwierigkeit beim Übersetzen bestimmter literarischer Texte liegt wohl weniger in den Unterschieden zwischen indoeuropäischen und semitischen Sprachsystemen als in einer Besonderheit der hebräischen Lesekultur. Während christliche Kulturen auf Bibelübersetzungen fußen, haben Juden über die Jahrhunderte am hebräischen Originaltext des Tenach in seiner ursprünglichen sprachlichen Form festgehalten und sich gegen jede Übersetzung oder eine Angleichung an den Sprachwandel gewehrt. Sie haben damit also an der spezifischen Verbindung von Inhalt und Form des geoffenbarten Textes festgehalten.
Entsprechend wird beim traditionellen hebräischen Textstudium nicht nur die Bedeutung der Verse, sondern auch ihre genaue sprachliche Form als integraler Bestandteil des Textes wahrgenommen und mit memoriert. Man prägt sich die Verse in ihrer Originalform ein und kann deshalb in Jahrhunderte später geschriebenen Texten auch kleinste Bruchstücke von ihnen wiedererkennen. Das kann in christlichen Kulturen nicht stattfinden, weil die Inhalte der biblischen Bücher in immer wieder neue, modernere sprachliche Formen gegossen werden und es keine originale und verbindliche Materialität der biblischen Sprache gibt. Eine gewisse Ausnahme bietet die englische King James-Version, die zwar nicht in ihrem O‑Ton von 1534, aber doch in der Revision von 1769 bis heute eine Art „biblisches Englisch“ bewahrte. Damit komme ich zur nächsten Frage:
Was kann Hebräisch, was Deutsch nicht kann?
Hebräische AutorInnen haben heute die Möglichkeit, mittels bestimmter Wortformen aus dem Tenach und anderen Texten der Traditionsliteratur ganz gezielt einen komplett anderen Kontext mit aufzurufen, ohne dass sie die dortige Geschichte selbst erzählen müssten, denn sie können annehmen, dass ihre Leser die von dort stammenden Wortformen wiedererkennen und sich über sie an die aufgerufene Szene erinnern. Damit können sie, ohne ein einziges Wort hinzuzufügen, in ihren Texten manchmal sehr subversiv einen doppelten Boden anlegen, ohne ihn explizieren zu müssen. Wer sich an die entsprechende biblische oder talmudische Stelle erinnert, hört die zusätzlich mit eingeflochtene Perspektive, wer nicht – eben nicht. Das bedeutet aber, dass verschiedene LeserInnen des Originals so einen Text ganz unterschiedlich lesen, je nachdem, wie sehr und wie intensiv sie die Traditionsliteratur rezipiert haben.
Hieraus ergibt sich für mich beim Übersetzen die Frage: Wessen Leseeindruck soll ich denn an meine deutschsprachigen LeserInnen weitergeben? Soll ich, wie in der gerade erschienen Übersetzung von Zeruya Shalevs Roman Schicksal, die bewusste Aktivierung älterer Schichten des Hebräischen wahrnehmen oder darüber hinweglesen? Hebräische LeserInnen entscheiden das selbst; als Übersetzerin aber muss ich für mein Lesepublikum entscheiden, welcher Lesart ich mit meiner Übersetzung folgen will, und wie und ob überhaupt ich dieses spezifisch hebräische Phänomen der Gleichzeitigkeit verschiedener historischer Sprachschichten auf Deutsch gestalte.
Manchmal hilft da Luther. Da sich Luthers biblischer Ton ja nicht nur bei frommen BibelleserInnen, sondern auch über die Musik, etwa die Bachkantaten, beim deutschsprachigen Lesepublikum durchaus eingeprägt hat, baue ich besonders in der Lyrik für solche Anspielungen auf eine Art „Lutherton“ und verwende dabei bewusst nicht die neueste, sondern eine der älteren Revisionen seiner Übersetzung des Alten Testaments (die von 1964). Freilich erkennt man in der christlich geprägten Lesekultur dann doch meist nur den allgemein Bibelton und nicht die spezifische Textstelle, auf die angespielt wird. In Glücksfällen gelingt es, vergleichbare Assoziationsketten anzulegen, oft braucht es dann aber eben doch eine erklärende Anmerkung im Anhang. (Mehr und auch Beispiele hierzu vgl. meinen Beitrag „Assoziationswelten des Hebräischen“1 und auf meiner Webseite zum Gedicht von Yitzhak Laor „Mein Gefährte“.)
Wie sieht die moderne hebräische/israelische Literaturszene aus?
Noch bevor Juden nach Palästina zurückkehrten, eine Hebräisch sprechende Gesellschaft aufbauten und 1948 den Staat Israel gründeten, war die säkulare hebräische Literatur bereits in der Diaspora sehr entwickelt. Gerade im Exil kam den hebräischen Zeitschriften ab Mitte des 18. Jahrhunderts eine große identitätsstiftende Bedeutung zu. Heute gibt es in Israel einige große, aber auch jedes Jahr mehr neue kleine Verlage, die sehr literarische, auch experimentelle Texte, Lyrik und viele Übersetzungen aus anderen Sprachen herausbringen. Darüber hinaus erscheinen mehrere wichtige literarische Zeitschriften, die ganz unterschiedliche ästhetische und politische Richtungen verfolgen. So kommen tatsächlich ganz verschiedene Stimmen zu Wort.
Dies ist besonders wichtig, da Israel ja per definitionem ein Einwandererland ist, in dem Juden aus allen Teilen der Welt zusammenfinden. In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung herrschte in Politik und Kultur eine aschkenasische Hegemonie: Die Einwanderer aus den europäischen Ländern gaben den kulturellen Ton an, während die seit den 50er Jahren aus arabischen Ländern (von Marokko, Algerien bis Afghanistan, Irak, Persien) eingewanderten Juden lange keine literarische Stimme hatten (orientalische jüdische Folklore ja, „richtige“ Literatur nein). Das ändert sich in den letzten Jahrzehnten. So gibt die 1958 geborene Sara Shilo in ihrem Roman Zwerge kommen hier keine (dt.: 1998) der zweiten Generation marokkanischer Einwanderer eine überraschende, sehr poetische Stimme. Unter den Lyrikern, deren Vorfahren aus arabischen Ländern des Nahen Ostens und aus Nordafrika eingewandert sind, gründete sich z. B. die Gruppe „Ars Poetica“. Auch die jüngere Generation der aus der ehemaligen Sowjetunion und Russland Eingewanderten ist längst unter den Hebräisch Schreibenden vertreten.
Darüber hinaus bildet sich in den letzten Jahren eine Gruppe Hebräisch schreibender Autoren, die außerhalb Israels leben, eigene Plattformen haben und eine eigene politische und literarische Richtung vertreten: Mikan Ve’eylakh – Zeitschrift für diasporisches Hebräisch erscheint seit 2016 in Berlin und Paris. Diese literarisch-theoretische Zeitschrift versteht das Hebräische als diasporische Weltsprache, die nicht an ein bestimmtes Territorium gebunden ist.
Wer einen hebräischen Text las, konnte über Jahrhunderte davon ausgehen, dass er von Juden verfasst wurde. Das hat sich im Staat Israel geändert. Lange war Anton Schamass etwa mit seinem Roman Arabesken (dt. 1989 von Magali Zibaso) die einzige Stimme eines hebräisch schreibenden arabischen Israelis. Heute kommen mit Autoren wie Sayed Kashua oder Ayman Sikseck weitere hinzu, die auch in Deutschland bekannt sind.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Das ist ganz und gar eine Frage des Geschmacks. Ich kann hier nur ein paar Beispiele nennen und berücksichtige, man möge mir das verzeihen, im Folgenden vor allem von mir übersetzte literarische Werke.
Wenn man das heutige Israel in seiner gesellschaftlichen Komplexität verstehen will, gibt besonders Eshkol Nevos erster Roman Vier Häuser und eine Sehnsucht einen leicht zu lesenden und doch präzisen Einblick in die Verwerfungen der heutigen Gesellschaft. Ein umfassenderes und historisch tiefer verankertes Bild bieten die großen Romane von Amos Oz, Geschichte von Liebe und Finsternis (übersetzt von Ruth Achlama) und David Grossmans Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Sara Shilo dagegen schreibt in Zwerge kommen hier keine in einer ganz einzigartigen Sprache vom Leben einer aus Marokko stammenden Mutter und ihrer vier Kinder im Norden Israels.
Eine wichtige, aus der hebräischen Literatur nicht wegzudenkende Stimme ist bis heute der aus der Bukowina stammende, nun verstummte Aharon Appelfeld (1932–2018), unter anderem übersetzt von Mirjam Pressler. Ein weiterer, wie Appelfeld eher jüdisch als israelisch anzusehender Autor ist Chaim Be’er, dessen drei Romane Stricke, Federn und Bebelplatz aber in Deutschland nicht viele Leser gefunden haben und heute leider vergriffen sind. Darüber hinaus Meir Shalevs Roman Judiths Liebe, Yoram Kaniuks 1948 und Abraham B. Jehoshuas generationsübergreifender Roman Die Manis, alle übersetzt von Ruth Achlama. Und natürlich: Lyrik. Jehuda Amichai, Dan Pagis, Yitzhak Laor und viele andere.
Was ist noch nicht übersetzt?
Viele wichtige Werke der „klassischen“ modernen hebräischen Literatur wurden ab den 80er Jahren ins Deutsche übersetzt, verkauften sich aber nicht gut und wurden deshalb auch wieder vom Markt genommen. Darunter zwei hoch literarische Bewusstseinsstromromane, Vollendete Vergangenheit von dem großen Jaakov Shabtai (1934–1981) und Loja von Gabriela Avigur Rotem, die beide nur noch antiquarisch erhältlich sind und auch wieder aufgelegt werden müssten.
Ältere KlassikerInnen der hebräischen Moderne wie Lea Goldberg (1911–1970) oder der Nobelpreisträger Samuel Josef Agnon (1880–1970) liegen meist nur in alten Übersetzungen vor, und es ist nicht leicht, für ihren Stil einen heute relevanten Ton zu finden. Erste Neuübersetzungen verdanken wir Lydia Böhmer, Gundula Schiffer, Tuvia Rübner und Gerold Necker. Darüber hinaus sind in dieser Generation noch viele literarisch interessante Autoren zu entdecken, für die bei den Verlagen und beim Publikum aber erst Interesse geweckt werden müsste.
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