An Gustave Flaubert denkt man nicht in erster Linie als einen Reisenden, sondern verbindet mit dem großen Romancier den eremitengleich Zurückgezogenen, den am Schreibtisch an seinen Texten feilenden Schriftsteller, der seine Werke in einem kleinen Gartenpavillon in Croisset bei Rouen schrieb, wo er auch 1880 starb. Und doch hat Flaubert zahlreiche Reisen unternommen und die Eindrücke in seiner umfangreichen Korrespondenz, in Reiseberichten und seinen literarischen Werken verarbeitet, deren Übersetzungen ins Deutsche hier im Fokus stehen werden.
Die erste Reise macht Flaubert 1840 im Alter von 19 Jahren in Begleitung eines älteren Freundes der Familie durch Südfrankreich, über Bordeaux, die Pyrenäen, den Midi bis nach Toulon, von wo aus er sich nach Korsika einschifft. Schon damals fertigt er erste Notizen an, um das Gesehene festzuhalten. Viele Jahre später berichtet er von diesen frühen Aufzeichnungen: „[Es war] Briefpapier von blauer Tönung, das noch heftweise aufgeteilt war, damit die Schnüre meiner Reisemappe es besser zusammenhielten. Sie waren in Toulon gekauft worden, an einem jener Morgen voll literarischem Hunger, an denen es so aussieht, als sei der Hunger groß genug, um sich über irgendetwas maßlos zu verbreiten.1 In dieser Erinnerung kommt bereits ein wesentliches Element von Flauberts schriftstellerischer Entwicklung zum Tragen: Schreiben und alles festhalten, was sich dem Betrachter bietet. Die französische Veröffentlichungsgeschichte der Reise nach Korsika ist insgesamt kompliziert, der Text erschien jedenfalls erst 1910 in Auszügen, anschließend in weiteren Ausgaben. Die posthume Veröffentlichung der Korsikareise zeigt, dass sowohl Flaubert als auch die Verleger seine Reiseberichte nicht als eigenständiges literarisches Genre empfanden, so wie das ein heutiges Lesepublikum tut.
Nachdem Flaubert mit seiner als skandalös empfundenen und von der Zensur als Verstoß gegen die guten Sitten verurteilten Madame Bovary 1856 schlagartig berühmt geworden war, wurden seine Werke nach und nach, zum Teil auch mehrfach ins Deutsche übersetzt. Die Beschreibung der Reise nach Korsika sowie die aller weiteren Reisen erschien jedoch erst 1919 in einer Übersetzung durch Eduard Wilhelm Fischer (1867–1960); dieser (man findet ihn auch als Carl Eduard Wilhelm Fischer) scheint identisch zu sein mit dem Flaubert-Übersetzer Ernst Wilhelm Fischer, der auch weitere Werke Flauberts wie Novembre, wie Bouvard et Pécuchet und Auszüge aus seiner Korrespondenz ins Deutsche übertragen hat. Die dreibändige deutsche Ausgabe der Reisen wurde 1993 in Leipzig bei Gustav Kiepenheuer nachgedruckt; sie ist nur noch antiquarisch erhältlich und trägt den Titel Die Reisetagebücher.2 Die Bände enthalten jeweils Anmerkungen und ein Nachwort, in dem sich E. W. Fischer auch zur Publikationsgeschichte und zu seinem Vorgehen als Übersetzer äußert:
Es konnte nicht die Aufgabe der vorliegenden Übersetzung sein, aus den hingeworfenen Notizen ein glattes, leicht lesbares Buch zu machen; ihre harte, schroffe, eindrucksvolle Unmittelbarkeit musste mit all ihrer zackigen Unausgeglichenheit und mancher Dunkelheit bestehen bleiben. (Reisetagebücher, Bd. II, S. 446)
Einige Beispiele aus dem deutschen Text mögen diese „Unmittelbarkeit“ Flauberts belegen: „Ich werfe ohne Umschweife aufs Papier, was ich aufgespürt habe, und philosophiere über Kunst, ohne ihre Grundelemente zu kennen.“3 Immer wieder wird der Text durch Angaben, wann und wo der Autor seine Notizen gemacht hat, unterbrochen: „Auf dem Canal du Midi geschrieben, um die Zeit hinzubringen“.4 Flauberts Schaffensprozess lässt sich darüber gut nachvollziehen, er hält spontane Eindrücke fest, führt diese dann aber erst nach der Rückkehr näher aus. Er hat die Arbeit in Marseille beiseite gelegt, dann nach vierzehn Tagen wieder aufgegriffen und scheint nun sehr froh, wieder zuhause zu sein:
Me voilà réinstallé dans mon fauteuil vert, auprès de mon feu qui brûle, voilà que je recommence ma vie des ans passés. Qu’ont donc les voyages de si attrayant pour qu’on les regrette à peine finis? (Œuvres complètes, Paris 1973. Bd. 10; S. 331)
Hier sitze ich wieder in meinem grünen Sessel, an meinem brennenden Kamin, und jetzt beginnt wieder das alte Leben. Was hat denn das Reisen so Anziehendes, dass man sich, kaum heimgekehrt, wieder hinaussehnt? (a.a.O., S. 123)
Der Autor vergleicht seine Aufzeichnungen, die mit unterschiedlicher Tinte geschrieben seien, mit einem Mosaik und kündigt an, er wolle sie „noch oft vornehmen. Ich werde sie ausspinnen und dabei ins einzelne gehen […].“5 Diese Bemerkung zeigt Flauberts ausgeprägte Liebe zum Detail, für die er berühmt werden sollte und die er einsetzt, um seine Romanfiguren zu charakterisieren, ohne dass der Erzähler direkt in Erscheinung tritt.
1845 und somit fünf Jahre nach der Korsikareise unternimmt Flaubert eine zweite Reise, als Begleitung seiner jüngeren Schwester Caroline auf deren Hochzeitsreise nach Italien. Er gibt kurze, aber prägnante Beschreibungen von Museen und Sehenswürdigkeiten, oft sind es auch nur Stichworte, die nicht einer gewissen Komik entbehren und – wie diese Notizen von der Rückreise – Flauberts erzählerischen Realismus zeigen:
Retour à Rouen dans le wagon étouffant, derrière, au coin de gauche, comme à mon dernier voyage. – Le monsieur d’en face. – Le vieux vomissant de la bile. – Les Anglais qui ont monté à Oissel. (a.a.O.; S. 387)
Rückkehr nach Rouen in einem stickigen Wagen, auf dem Rücksitz in der linken Ecke, wie bei meiner letzten Reise. – Der Herr gegenüber. – Der Alte brach Galle. – Die Engländer, die in Oissel eingestiegen sind. (Bd. I; S. 243)
Wie mühsam das Reisen in der Postkutsche damals von statten ging, zeigt übrigens auch Flauberts Schilderung zu Beginn des Zweiten Teils der Éducation sentimentale. Die Erleichterung über die Heimkehr aus Italien ist ihm anzumerken, wenn er im oben zitierten Text fortfährt:
Et enfin Rouen, le port, l’éternel port, la cour pavée. – Et enfin ma chambre, le même milieu, le passé derrière moi et comme toujours la vague apparence d’une brise plus parfumée. (a.a.O.; S. 387)
Und endlich Rouen, der Hafen, der ewige Hafen, der gepflasterte Hof. – Und zuletzt mein Zimmer, die alte Umgebung, die Vergangenheit hinter mir, und wie immer die unbestimmte Hoffnung auf eine blütenreichere Zukunft. (a.a.O.; S. 243)
Eine dritte Reise folgt 1847. Flaubert und sein Freund, der Schriftsteller und Journalist Maxime Du Camp (1822–1894), brechen auf in die Bretagne, damals eine abgelegene Region, für die man sogar einen Pass benötigte. Die Freunde fahren mit der Bahn, mit dem Wagen oder gehen zu Fuß, und sie möchten eine Art Tagebuch über ihre Reise führen, das dann allerdings erst 1886 unter dem Titel Par les champs et par les grèves erscheinen wird. Die schriftstellerische Arbeit haben sie sich aufgeteilt – Flaubert schreibt die ungeraden, Du Camp die geraden Kapitel. Flaubert beginnt das erste Kapitel erneut in einem humorvollen Ton, der auch seine anderen Reiseberichte auszeichnet und der sich, von Cornelia Hastings Übersetzung gewandt eingefangen, durch das gesamte Buch zieht:
Le 1er mai 1847, à huit heures et demie du matin, les deux monades dont l’agglomération va servir à barbouiller de noir le papier subséquent sortirent de Paris dans le but d’aller respirer à l’aise au milieu des bruyères et des genêts, ou au bord des flots sur les grandes plages de sable. (Par les champs et par les grèves, in: Œuvres complètes, Paris 1973. Bd. 10; S. 29)
Am 1. Mai 1847, morgens um halb neun, haben die beiden Monaden, deren Verbindung dazu dienen wird, die folgenden Bögen zu schwärzen, Paris mit dem Ziel verlassen, zwischen Farnkraut und Ginster oder auf den weiten Sandstränden am Meeressaum unbeschwert Atem zu schöpfen. (Über Felder und Strände; S. 7)
Die Neuübersetzung durch Hasting wurde 2016 im Dörlemann Verlag unter dem Titel Über Felder und Strände. Eine Reise in die Bretagne veröffentlicht.6 Als Autoren werden Gustave Flaubert und Maxime Du Camp genannt, während in der bereits erwähnten älteren Übersetzung der Reisetagebücher Flauberts durch E. W. Fischer gemäß der französischen Vorlage die Kapitel von Du Camp ausgeklammert und für die geraden Kapitel nur Flauberts Notizen abgedruckt wurden. Es war Flauberts erste von seiner Familie unabhängige Reise. Er hatte einige Jahre zuvor aus gesundheitlichen Gründen, vor allem aber auch, weil er sich nicht für dieses Fach berufen fühlte, sein Jura-Studium aufgegeben und beschlossen, sich dem Schreiben zu widmen. Die beiden Freunde wollten die Bretagne erkunden und gemeinsam einen Reisebericht verfassen, den sie dann allerdings unabhängig voneinander veröffentlichten. Möglicherweise ist dies und Flauberts größere Berühmtheit auch ein Grund dafür, dass in französischen Flaubert-Werkausgaben ursprünglich nur Flauberts Text abgedruckt wurde. Somit liegt erst mit der Übersetzung von Cornelia Hasting der gesamte Text auf Deutsch vor.
Die Beschreibung der Bretagne ist witzig und unterhaltsam, sie offenbart die Neugierde der Reisenden, die hier eine Fülle von Details zu Kunst, Architektur und Natur liefern. So werden auch heutige Leserinnen und Leser in diesem Buch viel über die Bretagne erfahren, wobei auffällt, dass sich die beiden Freunde weniger für die großen Sehenswürdigkeiten als vielmehr für die kleinen Dinge in einem Landstrich interessieren, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs ein touristischer Hotspot war. So schreibt etwa Flaubert im III. Kapitel: „Ich halte Nantes für eine ziemlich geistlose Stadt; aber ich habe dort so viele Garnelen gegessen, dass ich sie in erfreulicher Erinnerung behalte.“7
Auch die Darstellung der Landbevölkerung gerät nicht immer vorteilhaft: „Pont‑l’Abbé ist eine auf ganzer Länge von einer breiten gepflasterten Straße geteilte äußerst friedliche Stadt. Die ärmlichen Rentner, die sie bewohnen, können nicht unbedeutender, bescheidener und dümmer aussehen.“8 Allerdings rufen auch die beiden Besucher Verwunderung hervor, wie die Begegnung mit zwei Gendarmen zeigt: „Nie konnten sie aber glauben, dass wir Herren waren, die zu ihrer persönlichen Erholung zu Fuß durch die Lande zogen; das erschien ihnen unerhört, absurd;“9 Auch hier blitzt Flauberts Humor hervor, wenn er aufzählt, welcher geheimen Aufträge die Gendarmen sie verdächtigten: Sie hätten als Kartographen ihre Kollegen übertreffen und so das Kreuz der Ehrenlegion erringen wollen, sie seien von der Regierung beauftragt, um die Leuchtturmwächter zu überwachen … Flaubert wendet sich gegen diese verrückten Ideen mit der Bemerkung, sie seien doch „bloß humoristische Beobachter und literarische Träumer!“10
Von Oktober 1849 bis Juli 1851 unternimmt Flaubert, erneut mit seinem Freund Maxime Du Camp, eine Reise in den Orient. Es wird seine längste Reise sein. Gewiss war er unschlüssig, ob er sie unternehmen sollte, doch hatten ihm seine Eltern wegen seiner nervösen Erkrankung – er hatte epileptische Anfälle – stets zu Reisen geraten, außerdem reizte ihn das Neue. Die Stationen sind Ägypten – Nubien – Palästina – Syrien – Libanon. (Die Rückreise erfolgt über Rhodos, Kleinasien und Italien nach Frankreich.) Der im Ruf eines Orientkenners stehende Du Camp hatte sich den Auftrag zu einer Nilexpedition verschafft und Flaubert überredet, ihn zu begleiten. Du Camp hatte von Anfang an versucht, seine Reisen dahingehend zu nutzen, sein Renommee als Journalist und Autor zu steigern. Er wird weniger von einer romantischen Sehnsucht nach dem Orient getrieben, ihn interessiert der Erfolg als Feuilletonist. Heute ist er im Vergleich zu Flaubert vergessen. Dokumentiert hat Flaubert seine Reiseerlebnisse sowohl in Briefen (diese sind verstreut in seiner zu großen Teilen mittlerweile auch ins Deutsche übersetzten Korrespondenz zugänglich), als auch in Aufzeichnungen, die allerdings – von einem kurzen Text über den Nil abgesehen – erst wesentlich später unter dem Titel Voyage en Orient publiziert wurden. Diese Reiseaufzeichnungen sind in zwei Übersetzungen verfügbar. In den bereits erwähnten Bänden von Eduard Wilhelm Fischer und in einer als Inseltaschenbuch 1985 erschienenen Neuübersetzung von Reinold Werner und André Stoll.
Die Ägyptenmode hatte mit Napoleons Ägyptenfeldzug in den Jahren 1798–1801 begonnen. Zum Gefolge dieses auch „Ägyptische Expedition“ genannten Feldzugs gehörten 167 Ingenieure, Wissenschaftler und Künstler. Insgesamt war die Unternehmung zwar eine militärische Niederlage, sie führte jedoch dazu, dass die altägyptische Kultur in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt war; ein Interesse, welches sich verstärken sollte, nachdem es Jean-François Champollion 1822 gelungen war, die Hieroglyphenschrift des (1799 aufgefundenen) Steins von Rosetta zu entziffern. Flaubert war ein Reisender, der nicht unbedingt gern auf Reisen ging – bei der Abreise ist er unendlich traurig und überlegt an allen Stationen, ob er nicht besser zurückfahren solle. Dies ging ihm im Grunde bei all seinen Reisen so: Zwar zog ihn die Ferne an und er interessierte sich für die neuen Eindrücke, zugleich schreckte er jedoch vor den Mühen zurück und fühlte sich letztlich am heimischen Schreibtisch am wohlsten. Er hatte die Reise einerseits wegen des angenehmen und daher gesundheitsfördernden Klimas unternommen, andererseits interessierte ihn Ägypten, weil sich seine Tentation du Saint-Antoine, deren erste Fassung er kurz zuvor vollendet hatte, auf die Legende des ägyptischen Mönchs und Einsiedlers Antonius bezog.
Offiziell reiste Flaubert im Auftrag des französischen Agrarministers und sollte Daten über die ägyptische Landwirtschaft erheben, eine Aufgabe, die er wohl nicht allzu ernst genommen hat. Lieber widmet er sich seinen Aufzeichnungen und macht sich in einem Brief sogar darüber lustig, dass er an einem Tisch schreibe, in Reichweite die ministeriellen Anweisungen, welche ihm vermutlich eines schönen Tages als Toilettenpapier dienen würden. In seinen Reiseaufzeichnungen wechseln fast stakkatoartige Eindrücke mit längeren Beschreibungen von Architektur und Bauwerken, er schildert Begegnungen mit Frauen, Eindrücke von Landschaft, Licht und Farben sowie Sitten und Gebräuche.
In Frankreich erlebte die Orientmode in den 1840er und 1850er Jahren ihren Höhepunkt. Der Sehnsuchtsort Orient wurde unzählige Male – etwa, um nur einige wenige zu nennen, in Victor Hugos Gedichten Les Orientales (1825), im Voyage en Orient (1851) von Gérard de Nerval, im Roman de la momie (1857) von Théophile Gautier, in den Gemälden von Eugène Delacroix, Jean-August-Dominique Ingres oder Jean-Léon Gérôme – literarisch und künstlerisch gestaltet. Der Orientalismus war vielfach Ausdruck von Zivilisationsmüdigkeit, einer romantisierenden Sehnsucht nach dem Exotischen und Fremden, die dann in entsprechenden Wunschbildern ihren Ausdruck fanden. Dementsprechend vage und geographisch sehr weit gefasst wurde der Orientbegriff verwendet, so auch bei Flauberts und Du Camps Reise. Zugleich wurden Orientreisen und die daraus resultierenden Berichte oder Gemälde aber auch eingesetzt – wie Edward Said in seiner Untersuchung Orientalism (1978) kritisch dargelegt hat –, um die kulturelle Hegemonie des Westens zu begründen.
Berühmt wurde Flauberts Orientreise vor allem aber auch wegen der außergewöhnlichen Photographien von Maxime du Camp. Diese Bilder gehören zu den frühesten Aufnahmen von Landschaften, Ruinen und Tempeln des Vorderen Orients und Du Camp hatte als Vorbereitung sogar Unterricht bei Gustave Le Gray (1820–1884) genommen, einem namhaften Pionier der Photographie. Flaubert fühlt sich jedoch vom photographischen Furor seines Reisegefährten zusehends abgestoßen, zumal er das moderne Medium eher misstrauisch betrachtet, und schreibt: „Die Aufnahmen im Palast überwacht. Nach Beendigung dieser stumpfsinnigen Betätigung Spaziergang um Karnak herum […].“11 Und einen Tag später: „Noch einmal Aufnahmen. Das Mittel frißt den Zweck, ein sattes Nichtstun in der Sonne ist weniger steril als solche Beschäftigungen, wo das Herz nicht dabei ist.“12 Dieses letzte Zitat mag belegen, dass neuere Übersetzungen nicht immer die besseren Worte finden. Bei Ernst Wilhelm Fischer heißt es nämlich für die bei Stoll/Werner im Deutschen etwas seltsame, offenbar wörtlich aus dem Französischen („le moyen mange le but“) übertragene Formulierung „das Mittel frißt den Zweck“ schlicht und ergreifend: „Das Mittel steht in keinem Verhältnis zum Zweck“.
Insgesamt gibt es an der neueren Übersetzung von Stoll und Werner jedoch nichts zu bemängeln, sie ist in vielen Formulierungen moderner und äußerst leserfreundlich: Der 100 Seiten starke Anhang bietet nach einem allgemeinen Hinweis der Übersetzer nützliche Worterläuterungen für wenig bekannte Wörter wie zum Beispiel „Ardab“ – ein altes orientalisches Hohlmaß – oder die Kakteenart „Nopalee“, außerdem Karten der Reiserouten mit Ortsregister. Dazu kommt ein „Text zur Bedeutung der photographischen Dokumente“, ein Bildteil mit Maxime Du Camps Photographien sowie ein ausführlicher Aufsatz von André Stoll über die Hintergründe der Reise, die zeitgenössische Orient- und Ägyptenmode und die Stellung der Reise in den Orient innerhalb von Flauberts Werk 13.
Die lange Freundschaft zwischen den beiden Reisegefährten Du Camp und Flaubert erhielt auf der Orientreise einen ersten Dämpfer. Es gab immer wieder Unstimmigkeiten zwischen den beiden, unter anderem auch, weil Du Camp die in der von ihm herausgegebenen Revue de Paris erschienene Erstfassung (1857) der Madame Bovary mit eigenmächtigen Kürzungen publizierte. Ein gewisser Gegensatz zwischen den Freunden spiegelte sich auch darin, dass Du Camp eine elegante Erscheinung mit gewandtem Auftreten war, gegen die Flaubert bäurisch und provinziell wirken musste. Dabei entbehrt es auch nicht einer gewissen Ironie, dass Du Camp 1880 als Mitglied in die Académie française berufen wurde, Flaubert hingegen nicht. Jedenfalls hat Du Camp in einem eigenen Reisebericht, den er, nach dem Band mit seinen Photographien, 1853 in der Revue de Paris veröffentlicht hatte, Flaubert nicht einmal namentlich erwähnt.
Flauberts letzte große Reise war eine Studienreise, die er gezielt 1858 nach Tunesien und Algerien unternahm, um Material zu sammeln für Salammbô (1862), seinen historischen Roman über Karthago. Seine Notizen bestehen überwiegend aus topographischen Gegebenheiten sowie aus Eindrücken von Landschaft, Pflanzen und Farben: „Nach Tunis zu der flockige Himmel und die violett-braunen Berge. Der Himmel ist von einem äußerst goldigen Blau; am Fuß von Hammam-lif ist das Meer grünlich.“14 Oder auch: „Auf dem Vorsprung am Meeresufer zwei runde Wasserflächen wie in Karthago; zwei kleine weiße Dörfer am Ufer außerhalb der Mauer. Davor liegt eine Art Tumulus, auf dem ein Fort erbaut ist.“15 Die Beispiele zeigen, dass es Flaubert darauf ankam, die Notizen für seinen Roman zu verwenden und nicht, einen Reisebericht im Sinne einer eigenen literarischen Gattung zu verfassen. Es ging ihm in Salammbô nicht um die historisch präzise Darstellung eines exotischen Stoffs, sondern vielmehr um dessen ästhetische Gestaltung.
Flauberts Reiseberichte sind für heutige Leserinnen und Leser interessant, weil sie uns nicht nur einiges über den Autor und seine Arbeitsweise verraten, sondern auch über die damalige Sichtweise der Reisenden auf die besuchten Orte. Dies belegt auch der Band mit Reisegeschichten des Schriftstellers und Übersetzers Ludwig Harig (1927–2018). Unter dem Titel Spaziergänge mit Flaubert (Hanser 1997) folgt Harig reisend den Spuren anderer Schriftsteller. Die Reisegeschichte zu Flaubert trägt den Untertitel „Ein Frühling in der Bretagne“ – Harig schreibt darin:
[Flaubert] macht sich lustig über Archäologen, über Kosmographen, über Literaten, und wir folgen ihm und seinen Wörtern, den mengenmathematischen Spekulationen, vorbei an den wirklich und wahrhaftig rollenden und tanzenden, kreisenden und schwingenden Steinen, ja wir folgen ihm, Ort für Ort, an der ganzen Küste entlang, bis hinauf an die Pointe du Raz. (Harig, a.a.O.; S. 81f.)
Gustave Flaubert hat also auf seinen Reisen viele außergewöhnliche und bemerkenswerte Dinge beobachtet, und die Lektüre seiner Reisenotizen ist lohnenswert, auch wenn der Autor nach wie vor vielen deutschen Leserinnen und Lesern überwiegend als Verfasser der Romane Madame Bovary (1856) und der Éducation sentimentale (1869) bekannt sein dürfte. Vor allem erfahren wir, welche Bedeutung das Sehen und das Schreiben für ihn hatten und wie die Reisenotizen sein Werk beeinflusst haben. Flaubert war ein unermüdlicher Briefschreiber, seine Korrespondenz umfasst Tausende von Briefen: Auch in ihnen lassen sich aufschlussreiche Bemerkungen zur Bedeutung des Reisens finden, wie dieser Brief vom 1. Mai 1845 aus Genua zeigt, den der noch junge Autor seinem Freund Alfred Le Poittevin schickte:
Il fut un temps où j’aurais fait beaucoup plus de réflexions que je n’en fais maintenant (je ne sais pas bien lesquelles); j’aurais peut-être plus réfléchi et moins regardé. Au contraire j’ouvre les yeux sur tout, naïvement et simplement, ce qui est peut-être supérieur. (Flaubert: Correspondance, Bd. I, Gallimard 1973; S. 226)
Es gab eine Zeit, zu der ich mir viel mehr Gedanken gemacht hätte als ich es jetzt tue (ich weiß nicht sehr genau welche), vielleicht hätte ich mehr nachgedacht und weniger gesehen. Jetzt dagegen mache ich die Augen weit auf, einfach und naiv, was vielleicht noch mehr ist. (Flaubert: Briefe, hrsg. und übers. von Helmut Scheffel. Zürich: Diogenes 1977; S. 51)
- Reise in den Orient, übers. von Reinold Werner und André Stoll. Insel 1985; S. 15
- Bd. I: 1840–1847: Die Pyrenäen – Korsika – Italien – Über Feld und Strand; Bd. II: 1849–1850: Ägypten – Palästina – Rhodos; Bd. III: 1850–1858: Kleinasien – Konstantinopel – Griechenland – Italien – Die Reise nach Karthago
- Bd. I, S. 64; Originalzitat: „Je retrouve complaisamment ce que j’ai flairé et je fais de la philosophie de l’art sans en savoir de l’alphabet.“ (Œuvres complètes, Paris: Club de l’Honnête Homme 1973. Bd. 10; S. 307)
- Ebd.; Originalzitat: „Écrit sur le Canal du Midi pour passer le temps“ (Ebd.)
- a.a.O., S. 123f.; Originalzitat: „que je reprendrai souvent ces notes interrompues […] Je les allongerai, je les détaillerai de plus en plus, …“ (a.a.O.; S. 331)
- Das Buch erschien 2019 als Lizenzausgabe im Fischer Verlag.
- a.a.O.; S. 63; Originalzitat: „Je crois que Nantes est une ville assez bête, mais j’y ai tant mangé de salicoques que j’en garde un doux souvenir.“ (Œuvres complètes, a.a.O.; S. 62)
- a.a.O.; S. 228; Originalzitat: „Pont‑l’Abbé est une petite ville fort paisible, coupée dans sa logueur par une large rue pavée. Les maigres rentiers qui l’habitent ne doivent pas avoir l’air plus nul, plus modeste et plus bête.“ (Œuvres complètes, a.a.O.; S. 160)
- a.a.O.; S. 235; Originalzitat: „Jamais cependant ils ne purent croire que nous fussions des messieurs cheminant à pied pour leur récréation personnelle, cela leur paraissait inouï, absurde; […].“ (Œuvres complètes, a.a.O.; S. 164)
- Ebd.; Originalzitat: „Nous ne sommes que des contemplateurs humoristiques et des rêveurs littéraires; […]“, a.a.O.; S. 165
- Reise in den Orient, übers. Stoll/Werner; S. 163; Originalzitat: „Surveillé les estampages dans le palais. Quand cette besogne stupide fut achevée, promenade autour de Karnac […]“. (Œuvres complètes, a.a.O.; S. 526)
- a.a.O., S. 164; Originalzitat: „Re-estampage. Le moyen mange le but, une bonne oisiveté au soleil est moins stérile que ces occupations où le cœur n’est pas.“ Œuvres complètes, a.a.O.; S. 527
- Am Rande sei hier auf einen Ausstellungskatalog verwiesen, der die Photographien in größerem Format und hervorragender Bildqualität wiedergibt: Die Reise zum Nil. 1849–1850. Maxime Du Camp und Gustave Flaubert in Ägypten, Palästina und Syrien. Hrsg. von Bodo von Dewitz und Karin Schuller-Procopovici. Köln: Museum Ludwig/Göttingen: Steidl 1997.
- Originalzitat: „Du côté de Tunis, le ciel qui perle et les montagnes violet-brun. Le ciel est d’un bleu extrêmement doré ; au pied de Hamam-Lif, la mer est verdâtre.“ (Œuvres complètes. Bd. 11 ; S. 193)
- Reisetagebücher, Bd. III; S. 401 und S. 404; Originalzitat: „Sur l’éminence, au bord de la mer, deux disques d’eau comme à Carthage; deux petits villages blancs au bord de l’eau, en dehors des murs. Il y a en avant un tumulus sur lequel est un fort; […]“ Ebd.; S. 194