Brot­lo­se Kunst

Zwei aktuelle Veröffentlichungen versprechen einen neuen Blick auf den Literaturbetrieb. Leider scheitern beide krachend. Von

Hintergrundbild: Alfons Morales via Unsplash.

Es scheint ein gigan­ti­sches Tabu zu sein, ein mam­mut­ar­ti­ger Ele­fant im Raum, an den da in jüngs­ter Zeit gerührt wird. „Autor:innen haben meis­tens Brot­jobs“, lau­tet der gewich­tig dröh­nen­de ers­te Satz im Vor­wort eines kürz­lich im Ber­li­ner Ver­bre­cher Ver­lag erschie­ne­nen Sam­mel­ban­des über „Brot­jobs & Lite­ra­tur“, und wei­ter: „Das ist so und wird kaum the­ma­ti­siert, nicht von den Lite­ra­tur­schaf­fen­den oder vom sie umge­ben­den Betrieb, nicht von den Leser:innen.“ Das vier­köp­fi­ge Her­aus­ge­ber­team – Iudi­tha Bal­int, Julia Dathe, Kath­rin Schadt sowie Chris­toph Wen­zel – hat hier eine Markt­lü­cke aus­ge­macht und neun­zehn deutsch­spra­chi­gen Autorin­nen und Autoren 600 Euro pro Kopf aus­ge­zahlt, damit sie uns von ihren „Brot­jobs“ erzählen.

Aber gibt es die­ses Tabu wirklich?

Ein kur­zer Blick auf die Home­page eines Ver­ban­des von „Lite­ra­tur­schaf­fen­den“, des Lite­ra­tur­über­set­zer-Ver­ban­des VdÜ: Zumin­dest hier wer­den die (Ausbeutungs-)Bedingungen des Lite­ra­tur­be­triebs the­ma­ti­siert, was das Zeug hält. Pres­se­mit­tei­lung vom 13. Okto­ber: „Lei­der wird die Arbeit der Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer nicht ange­mes­sen ent­lohnt.“ Pres­se­mit­tei­lung vom 6. Juni: „Die pre­kä­re Situa­ti­on unse­rer Zunft ist wei­ter­hin Rea­li­tät.“ Und so wei­ter. Im Inter­view mit TraLaLit plau­der­te die Über­set­ze­rin Chris­tel Krö­ning ganz locker über ihren Neben­job bei einer Autoversicherung.

Was also ist da los? Wie kann ein Sam­mel­band, der für sich die „Prä­sen­ta­ti­on viel­fäl­ti­ger Stim­men und eines brei­ten Spek­trums von Arbeits­ver­hält­nis­sen“, die „Ent­ta­bui­sie­rung die­ser [lite­ra­ri­schen] Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen“ sowie die „The­ma­ti­sie­rung der zumeist scham­be­setz­ten finan­zi­el­len Ver­hält­nis­se im Lite­ra­tur­be­trieb“ in Anspruch nimmt, nicht ein­mal zur Kennt­nis neh­men, dass ein wesent­li­cher Teil des Lite­ra­tur­be­triebs Jahr für Jahr ohne grö­ße­re Tabus über die­se Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen spricht?

Die Mise­re beginnt lei­der bei der Aus­wahl der Bei­trä­ge. Die „Prä­sen­ta­ti­on viel­fäl­ti­ger Stim­men“ ist näm­lich in Wahr­heit eine ziem­lich mono­to­ne Ange­le­gen­heit, in der eine Para­de aus  deutsch­spra­chi­gen Autorin­nen und Autoren (aus­schließ­lich von Erwach­se­nen­li­te­ra­tur übri­gens, Kin­der­buch­au­torin­nen oder ‑autoren kom­men auch nicht vor) an uns vor­bei­zieht, um von ihren mehr oder weni­ger berich­tens­wer­ten Neben­tä­tig­kei­ten zu berich­ten. Wir erfah­ren, dass Domi­nik Dom­brow­ski am liebs­ten Pake­te sor­tiert, dass Johan­na Han­sen mit Gemäl­den Geld ver­dient, und dass Din­çer Güçye­ter Gabel­stap­ler fährt. Letz­te­rer ist neben­be­ruf­lich (auch) Ver­le­ger, aber Über­set­zer, Jour­na­lis­tin­nen, freie Lek­to­ren oder ande­re schrei­ben­de Gewer­ke sind in die­sem „brei­ten Spek­trum von Arbeits­ver­hält­nis­sen“ offen­bar nicht vorgesehen.

Die­se Abgren­zung hat etwas ziem­lich Hoch­nä­si­ges, zumal sie nir­gend­wo reflek­tiert wird. Die Mache­rin­nen und Macher schei­nen schlicht davon aus­ge­gan­gen zu sein, dass es aus­schließ­lich „Autor:innen“ sind, die „schrift­stel­le­ri­scher Arbeit“, wie sie es auch nen­nen, nach­ge­hen. Das Über­set­zen kommt, im Vor­wort wie in den Bei­trä­gen, allen­falls als Neben­tä­tig­keit bzw. als, wie sie es umständ­lich nen­nen, „Mehr­fach­funk­ti­on im lite­ra­ri­schen Feld“ vor. Es wird also lus­ti­ger­wei­se auf die Sei­te der „Brot­jobs“ ver­scho­ben, was bei so man­cher Über­set­ze­rin die Fra­ge her­vor­ru­fen dürf­te, was denn ihre eige­nen „Brot­jobs“ dann sein sol­len: „Mehl­jobs“ etwa?

Aber die­ser ver­eng­te Blick auf das soge­nann­te „lite­ra­ri­sche Feld“ ist kein Zufall, son­dern hat offen­bar Metho­de. In ihrer 800-sei­ti­gen Dis­ser­ta­ti­ons­schrift namens „Schrei­ben. Eine Sozio­lo­gie lite­ra­ri­scher Arbeit“, die jetzt in der Rei­he „Suhr­kamp Taschen­buch Wis­sen­schaft“ erschie­nen ist, unter­nimmt die Sozio­lo­gin Caro­lin Amlin­ger eine gigan­ti­sche Bestands­auf­nah­me des Lite­ra­tur­be­triebs in Deutsch­land (so gut wie nur in Deutsch­land, wie schon bei „Brot­jobs & Lite­ra­tur“), ohne dass Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer als eigen­stän­di­ge Berufs­grup­pe auch nur vor­kom­men. („Schrei­ben“ die denn nicht?, möch­te man Frau Amlin­ger ger­ne fra­gen, ist das Über­set­zen etwa kei­ne „lite­ra­ri­sche Arbeit“?)

Amlin­ger holt weit aus, beschreibt zunächst, wie sich die Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen für Bücher in Deutsch­land seit der Goe­the­zeit ent­wi­ckelt haben – ein durch­aus erfri­schen­der Blick auf über 200 Jah­re (deut­sche) Lite­ra­tur­ge­schich­te –, und nimmt im aus­führ­li­che­ren zwei­ten Teil die Pro­duk­ti­on lite­ra­ri­scher Tex­te heu­te in den Blick. Ihr qua­li­ta­ti­ves Ver­fah­ren, das sich vor allem auf anony­mi­sier­te Inter­views mit 17 ver­schie­den erfolg­rei­chen Autorin­nen und Autoren stützt, ist durch­aus ein­sichts­reich. Aber es sind eben alles (deut­sche) Autorin­nen und Autoren, und die metho­di­sche Ent­schei­dung, sich nur die­sem Per­so­nen­kreis zu wid­men, ver­engt Amlin­gers Bild auf das soge­nann­te „lite­ra­ri­sche Feld“ gleich doppelt.

Einer­seits kom­men Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer als Per­so­nen gar nicht vor (Lek­to­rin­nen und Lek­to­ren hin­ge­gen schon), und ihre Tätig­keit schließt Amlin­ger mit äußerst selt­sa­men For­mu­lie­run­gen kom­plett aus dem von ihr immer wie­der so genann­ten „lite­ra­ri­schen Feld“ aus. Bei­spiels­wei­se spricht sie von lite­ra­ri­schen Agen­tu­ren, die „für den Han­del mit den ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Über­set­zun­gen an […] Bedeu­tung“ gewön­nen – so als wür­den Über­set­zun­gen per Con­tai­ner aus Über­see ange­lie­fert und müss­ten anschlie­ßend nur noch auf dem deut­schen Markt ver­teilt werden.

Der­lei Flüch­tig­keits­feh­ler wären ver­zeih­lich. Viel­leicht aber will sich Amlin­ger auch nicht wei­ter mit Über­set­zun­gen als eige­ner Kunst­form in ihrem ganz eige­nen Wider­streit mit den Markt­ge­set­zen befas­sen, weil sie sich metho­disch so fest (es wirkt gera­de­zu krampf­haft) auf den deut­schen Buch­markt (und inner­halb des­sen auf deutsch­spra­chi­ge Ori­gi­na­le) fest­legt. Die­se äußerst alt­mo­di­sche, im Kon­text des ein­und­zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert und des zusam­men­wach­sen­den Euro­pas fast schon natio­nal­ro­man­tisch anmu­ten­de Selbst­be­schrän­kung (die Amlin­ger auch nir­gend­wo recht­fer­tigt, son­dern ein­fach fest­setzt, obwohl sie immer wie­der auch impli­zit den Buch­markt in West­deutsch­land mit dem Buch­markt schlecht­hin zu ver­wech­seln scheint), führt dazu, dass sie die Ein­flüs­se der Glo­ba­li­sie­rung und Inter­na­tio­na­li­sie­rung (also der Über­set­zung) qua­si nur als dif­fu­se Bedro­hung zu fas­sen vermag.

So schreibt sie in ihrer his­to­ri­schen Einführung:

Auf dem pro­fi­ta­blen Mas­sen­markt unter­la­gen die ein­zel­nen Titel aber auch einem stei­gen­den Kon­kur­renz­druck, neben neu­en Medi­en­for­ma­ten […] inter­na­tio­na­li­sier­te sich die Buch­pro­duk­ti­on. […] Anfang der 1980er-Jah­re mach­ten die Über­set­zun­gen schließ­lich 25,1 Pro­zent der erschie­ne­nen bel­le­tris­ti­schen Titel aus, das heißt, von 11 963 Wer­ken waren 3008 kei­ne deutsch­spra­chi­gen Ori­gi­nal­aus­ga­ben. Die star­ke Domi­nanz der angel­säch­si­schen Lite­ra­tur, die sich schon in den 1950er-Jah­ren abzeich­ne­te, war sicher­lich auch von der von den Besat­zungs­mäch­ten initi­ier­ten Aus­rich­tung des west­deut­schen Buch­mark­tes beein­flusst. Die wohl stärks­te Kon­kur­renz bekam das ver­leg­te Buch aber durch […] Buchgemeinschaften […].

Soll man nun Über­set­zun­gen als „Kon­kur­renz zum ver­leg­ten Buch“ ver­ste­hen? Sind jene 3008 Wer­ke, die – oh Graus – „kei­ne deutsch­spra­chi­gen Ori­gi­nal­aus­ga­ben“ waren, zum Fens­ter hin­aus­ge­wor­fe­nes Geld, das man bes­ser in „deutsch­spra­chi­ge Ori­gi­nal­aus­ga­ben“ gesteckt hät­te? Sind Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer also über­flüs­sig? Wäre Lite­ra­tur­deutsch­land ohne die Besat­zungs­mäch­te, die den Buch­markt in den 1950ern „aus­rich­te­ten“, bes­ser dran gewesen?

Caro­lin Amlin­ger ver­folgt sicher­lich kein neu­rech­tes oder gar revi­sio­nis­ti­sches Pro­gramm. Aber ihr lite­ra­tur­his­to­ri­scher (und damit auch ‑sozio­lo­gi­scher) Zugriff ist der­ma­ßen kon­ser­va­tiv, dass jedem inter­na­tio­nal auf­ge­schlos­se­nen Leser nach eini­ger Zeit das Gru­seln kom­men muss. Wenn lite­ra­ri­sche Glo­ba­li­sie­rung wie bei Amlin­ger durch­weg mit „inter­na­tio­na­len Best­sel­lern“ kon­no­tiert wird, die der Markt­kon­zen­tra­ti­on Vor­schub leis­ten und, so wird es immer wie­der impli­ziert, den deut­schen Autoren öko­no­misch die Luft zum Atmen neh­men, dann geht dabei der Blick auf das Posi­ti­ve der Inter­na­tio­na­li­sie­rung – den Spra­chen­reich­tum, die Per­spek­ti­ven­viel­falt – kom­plett verloren.

In den Main­stream-Feuil­le­tons des Lan­des sind bei­de Bän­de unter den Vor­zei­chen der Coro­na-Pan­de­mie als Bei­spie­le für einen neu­en Blick auf die lite­ra­ri­sche Pro­duk­ti­on gefei­ert wor­den. Dabei tra­gen bei­de Ansät­ze, bei allen Unter­schie­den, para­do­xer­wei­se noch wei­ter zur Ver­klä­rung „auto­no­mer“ Autor­schaft bei. Der Sam­mel­band, weil über 19 Bei­trä­ge hin­weg „ich“ das zen­tra­le Per­so­nal­pro­no­men der Tex­te ist, und Amlin­gers Schrift, weil sie ana­ly­tisch bei einem so eng gefass­ten Lite­ra­tur­be­griff ansetzt, dass jene For­men des Schrei­bens (Sach­bü­cher? Kin­der­li­te­ra­tur? Über­set­zun­gen?), die nach ande­ren Prin­zi­pi­en funk­tio­nie­ren (könn­ten), schlicht nicht vorkommen. 

Dabei wür­de doch erst ein umfas­sen­der Blick auf Lite­ra­tur zu wirk­lich inter­es­san­ten Fra­ge­stel­lun­gen füh­ren kön­nen: Wie sieht die Ver­lags- und Lite­ra­tur­land­schaft in ande­ren Län­dern bzw. Sprach­räu­men aus? Wie steht der deutsch­spra­chi­ge Buch­markt im Ver­gleich da, sowohl hin­sicht­lich sei­ner öko­no­mi­schen Ent­wick­lung, als auch der lite­ra­ri­schen Qua­li­tät sei­ner Pro­duk­te? Wie, und nach wel­chen öko­no­mi­schen und ästhe­ti­schen Gesichts­punk­ten, wird fremd­spra­chi­ge Lite­ra­tur nach Deutsch­land impor­tiert? Wo ver­or­ten sich Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer als Re-Pro­du­zen­ten aus­län­di­scher Lite­ra­tur im Span­nungs­feld zwi­schen ästhe­ti­schen und öko­no­mi­schen Zwän­gen? Und wie sehen dies eigent­lich Autorin­nen und Autoren von Sach- oder Kinderbüchern?

Kei­ne die­ser Fra­gen kom­men in den bei­den Büchern mit dem angeb­lich so „neu­en“ Blick auf den Lite­ra­tur­be­trieb auch nur vor. Statt­des­sen gefällt sich Lite­ra­tur­deutsch­land in einer öden, unin­spi­rier­ten Nabel­schau und frönt einem unan­ge­nehm unge­bro­che­nen (nur neu­mo­disch ver­pack­ten) Genie­kult. Öko­no­mi­sche Armut behan­deln die bei­den Bücher schon selbst. Doch lei­der ist das Ergeb­nis ihrer Lek­tü­re auch in intel­lek­tu­el­ler Hin­sicht ein Armutszeugnis.

Iudi­tha Bal­int | Julia Dathe | Kath­rin Schadt | Chris­toph Wen­zel (Hg.)

Brot­jobs & Literatur


Ver­bre­cher Ver­lag 2021 ⋅ 240 Sei­ten ⋅ 19 Euro


Caro­lin Amlin­ger

Schrei­ben: Eine Sozio­lo­gie lite­ra­ri­scher Arbeit


Suhr­kamp 2021 ⋅ 800 Sei­ten ⋅ 32 Euro


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