Es scheint ein gigantisches Tabu zu sein, ein mammutartiger Elefant im Raum, an den da in jüngster Zeit gerührt wird. „Autor:innen haben meistens Brotjobs“, lautet der gewichtig dröhnende erste Satz im Vorwort eines kürzlich im Berliner Verbrecher Verlag erschienenen Sammelbandes über „Brotjobs & Literatur“, und weiter: „Das ist so und wird kaum thematisiert, nicht von den Literaturschaffenden oder vom sie umgebenden Betrieb, nicht von den Leser:innen.“ Das vierköpfige Herausgeberteam – Iuditha Balint, Julia Dathe, Kathrin Schadt sowie Christoph Wenzel – hat hier eine Marktlücke ausgemacht und neunzehn deutschsprachigen Autorinnen und Autoren 600 Euro pro Kopf ausgezahlt, damit sie uns von ihren „Brotjobs“ erzählen.
Aber gibt es dieses Tabu wirklich?
Ein kurzer Blick auf die Homepage eines Verbandes von „Literaturschaffenden“, des Literaturübersetzer-Verbandes VdÜ: Zumindest hier werden die (Ausbeutungs-)Bedingungen des Literaturbetriebs thematisiert, was das Zeug hält. Pressemitteilung vom 13. Oktober: „Leider wird die Arbeit der Übersetzerinnen und Übersetzer nicht angemessen entlohnt.“ Pressemitteilung vom 6. Juni: „Die prekäre Situation unserer Zunft ist weiterhin Realität.“ Und so weiter. Im Interview mit TraLaLit plauderte die Übersetzerin Christel Kröning ganz locker über ihren Nebenjob bei einer Autoversicherung.
Was also ist da los? Wie kann ein Sammelband, der für sich die „Präsentation vielfältiger Stimmen und eines breiten Spektrums von Arbeitsverhältnissen“, die „Enttabuisierung dieser [literarischen] Produktionsbedingungen“ sowie die „Thematisierung der zumeist schambesetzten finanziellen Verhältnisse im Literaturbetrieb“ in Anspruch nimmt, nicht einmal zur Kenntnis nehmen, dass ein wesentlicher Teil des Literaturbetriebs Jahr für Jahr ohne größere Tabus über diese Produktionsbedingungen spricht?
Die Misere beginnt leider bei der Auswahl der Beiträge. Die „Präsentation vielfältiger Stimmen“ ist nämlich in Wahrheit eine ziemlich monotone Angelegenheit, in der eine Parade aus deutschsprachigen Autorinnen und Autoren (ausschließlich von Erwachsenenliteratur übrigens, Kinderbuchautorinnen oder ‑autoren kommen auch nicht vor) an uns vorbeizieht, um von ihren mehr oder weniger berichtenswerten Nebentätigkeiten zu berichten. Wir erfahren, dass Dominik Dombrowski am liebsten Pakete sortiert, dass Johanna Hansen mit Gemälden Geld verdient, und dass Dinçer Güçyeter Gabelstapler fährt. Letzterer ist nebenberuflich (auch) Verleger, aber Übersetzer, Journalistinnen, freie Lektoren oder andere schreibende Gewerke sind in diesem „breiten Spektrum von Arbeitsverhältnissen“ offenbar nicht vorgesehen.
Diese Abgrenzung hat etwas ziemlich Hochnäsiges, zumal sie nirgendwo reflektiert wird. Die Macherinnen und Macher scheinen schlicht davon ausgegangen zu sein, dass es ausschließlich „Autor:innen“ sind, die „schriftstellerischer Arbeit“, wie sie es auch nennen, nachgehen. Das Übersetzen kommt, im Vorwort wie in den Beiträgen, allenfalls als Nebentätigkeit bzw. als, wie sie es umständlich nennen, „Mehrfachfunktion im literarischen Feld“ vor. Es wird also lustigerweise auf die Seite der „Brotjobs“ verschoben, was bei so mancher Übersetzerin die Frage hervorrufen dürfte, was denn ihre eigenen „Brotjobs“ dann sein sollen: „Mehljobs“ etwa?
Aber dieser verengte Blick auf das sogenannte „literarische Feld“ ist kein Zufall, sondern hat offenbar Methode. In ihrer 800-seitigen Dissertationsschrift namens „Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit“, die jetzt in der Reihe „Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft“ erschienen ist, unternimmt die Soziologin Carolin Amlinger eine gigantische Bestandsaufnahme des Literaturbetriebs in Deutschland (so gut wie nur in Deutschland, wie schon bei „Brotjobs & Literatur“), ohne dass Übersetzerinnen und Übersetzer als eigenständige Berufsgruppe auch nur vorkommen. („Schreiben“ die denn nicht?, möchte man Frau Amlinger gerne fragen, ist das Übersetzen etwa keine „literarische Arbeit“?)
Amlinger holt weit aus, beschreibt zunächst, wie sich die Produktionsbedingungen für Bücher in Deutschland seit der Goethezeit entwickelt haben – ein durchaus erfrischender Blick auf über 200 Jahre (deutsche) Literaturgeschichte –, und nimmt im ausführlicheren zweiten Teil die Produktion literarischer Texte heute in den Blick. Ihr qualitatives Verfahren, das sich vor allem auf anonymisierte Interviews mit 17 verschieden erfolgreichen Autorinnen und Autoren stützt, ist durchaus einsichtsreich. Aber es sind eben alles (deutsche) Autorinnen und Autoren, und die methodische Entscheidung, sich nur diesem Personenkreis zu widmen, verengt Amlingers Bild auf das sogenannte „literarische Feld“ gleich doppelt.
Einerseits kommen Übersetzerinnen und Übersetzer als Personen gar nicht vor (Lektorinnen und Lektoren hingegen schon), und ihre Tätigkeit schließt Amlinger mit äußerst seltsamen Formulierungen komplett aus dem von ihr immer wieder so genannten „literarischen Feld“ aus. Beispielsweise spricht sie von literarischen Agenturen, die „für den Handel mit den anglo-amerikanischen Übersetzungen an […] Bedeutung“ gewönnen – so als würden Übersetzungen per Container aus Übersee angeliefert und müssten anschließend nur noch auf dem deutschen Markt verteilt werden.
Derlei Flüchtigkeitsfehler wären verzeihlich. Vielleicht aber will sich Amlinger auch nicht weiter mit Übersetzungen als eigener Kunstform in ihrem ganz eigenen Widerstreit mit den Marktgesetzen befassen, weil sie sich methodisch so fest (es wirkt geradezu krampfhaft) auf den deutschen Buchmarkt (und innerhalb dessen auf deutschsprachige Originale) festlegt. Diese äußerst altmodische, im Kontext des einundzwanzigsten Jahrhundert und des zusammenwachsenden Europas fast schon nationalromantisch anmutende Selbstbeschränkung (die Amlinger auch nirgendwo rechtfertigt, sondern einfach festsetzt, obwohl sie immer wieder auch implizit den Buchmarkt in Westdeutschland mit dem Buchmarkt schlechthin zu verwechseln scheint), führt dazu, dass sie die Einflüsse der Globalisierung und Internationalisierung (also der Übersetzung) quasi nur als diffuse Bedrohung zu fassen vermag.
So schreibt sie in ihrer historischen Einführung:
Auf dem profitablen Massenmarkt unterlagen die einzelnen Titel aber auch einem steigenden Konkurrenzdruck, neben neuen Medienformaten […] internationalisierte sich die Buchproduktion. […] Anfang der 1980er-Jahre machten die Übersetzungen schließlich 25,1 Prozent der erschienenen belletristischen Titel aus, das heißt, von 11 963 Werken waren 3008 keine deutschsprachigen Originalausgaben. Die starke Dominanz der angelsächsischen Literatur, die sich schon in den 1950er-Jahren abzeichnete, war sicherlich auch von der von den Besatzungsmächten initiierten Ausrichtung des westdeutschen Buchmarktes beeinflusst. Die wohl stärkste Konkurrenz bekam das verlegte Buch aber durch […] Buchgemeinschaften […].
Soll man nun Übersetzungen als „Konkurrenz zum verlegten Buch“ verstehen? Sind jene 3008 Werke, die – oh Graus – „keine deutschsprachigen Originalausgaben“ waren, zum Fenster hinausgeworfenes Geld, das man besser in „deutschsprachige Originalausgaben“ gesteckt hätte? Sind Übersetzerinnen und Übersetzer also überflüssig? Wäre Literaturdeutschland ohne die Besatzungsmächte, die den Buchmarkt in den 1950ern „ausrichteten“, besser dran gewesen?
Carolin Amlinger verfolgt sicherlich kein neurechtes oder gar revisionistisches Programm. Aber ihr literaturhistorischer (und damit auch ‑soziologischer) Zugriff ist dermaßen konservativ, dass jedem international aufgeschlossenen Leser nach einiger Zeit das Gruseln kommen muss. Wenn literarische Globalisierung wie bei Amlinger durchweg mit „internationalen Bestsellern“ konnotiert wird, die der Marktkonzentration Vorschub leisten und, so wird es immer wieder impliziert, den deutschen Autoren ökonomisch die Luft zum Atmen nehmen, dann geht dabei der Blick auf das Positive der Internationalisierung – den Sprachenreichtum, die Perspektivenvielfalt – komplett verloren.
In den Mainstream-Feuilletons des Landes sind beide Bände unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie als Beispiele für einen neuen Blick auf die literarische Produktion gefeiert worden. Dabei tragen beide Ansätze, bei allen Unterschieden, paradoxerweise noch weiter zur Verklärung „autonomer“ Autorschaft bei. Der Sammelband, weil über 19 Beiträge hinweg „ich“ das zentrale Personalpronomen der Texte ist, und Amlingers Schrift, weil sie analytisch bei einem so eng gefassten Literaturbegriff ansetzt, dass jene Formen des Schreibens (Sachbücher? Kinderliteratur? Übersetzungen?), die nach anderen Prinzipien funktionieren (könnten), schlicht nicht vorkommen.
Dabei würde doch erst ein umfassender Blick auf Literatur zu wirklich interessanten Fragestellungen führen können: Wie sieht die Verlags- und Literaturlandschaft in anderen Ländern bzw. Sprachräumen aus? Wie steht der deutschsprachige Buchmarkt im Vergleich da, sowohl hinsichtlich seiner ökonomischen Entwicklung, als auch der literarischen Qualität seiner Produkte? Wie, und nach welchen ökonomischen und ästhetischen Gesichtspunkten, wird fremdsprachige Literatur nach Deutschland importiert? Wo verorten sich Übersetzerinnen und Übersetzer als Re-Produzenten ausländischer Literatur im Spannungsfeld zwischen ästhetischen und ökonomischen Zwängen? Und wie sehen dies eigentlich Autorinnen und Autoren von Sach- oder Kinderbüchern?
Keine dieser Fragen kommen in den beiden Büchern mit dem angeblich so „neuen“ Blick auf den Literaturbetrieb auch nur vor. Stattdessen gefällt sich Literaturdeutschland in einer öden, uninspirierten Nabelschau und frönt einem unangenehm ungebrochenen (nur neumodisch verpackten) Geniekult. Ökonomische Armut behandeln die beiden Bücher schon selbst. Doch leider ist das Ergebnis ihrer Lektüre auch in intellektueller Hinsicht ein Armutszeugnis.