„Halbverrückte erkennen einander, (…)“ postulierte der Autor László Krasznahorkai für sich selbst einmal in Bezug auf Herman Melville, der ebenso wie er stets eine „fanatische Sehnsucht nach der Sprache“ spürte. Und so erscheint es schon weniger verwunderlich, dass sich in den letzten drei Jahren gleich zwei vielfach von der Kritik und ihrer Zunft ausgezeichnete Übersetzerinnen dem Großmeister der ungarischen Gegenwartsliteratur, der zuletzt 2021 mit dem österreichischen Staatspreis für europäische Literatur ausgezeichnet wurde, widmeten; eint doch bei allen Unterschieden Christina Viragh (Übersetzung: Baron Wenckheims Rückkehr) und Heike Flemming (Übersetzung: Herscht 07769) ein beinah fanatisches Interesse an der Ungarischen Sprache und ihrer Literaturszene. Viragh konzentrierte sich dabei zu Beginn dieser Affäre auf die drei großen ungarischen „Eleganten“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Sándor Márai, Dezsö Kosztolány und Antal Szerb, die sie fast im Alleingang aus der Vergessenheit holte und den deutschen Leserninnen in behutsam restauriertem neuen Gewand präsentierte.
Zumindest bei Márai löste sie durch ihre Neuübersetzung des Romans Die Glut, der 1950 übersetzt von Eugen Görcz erstmals unter dem Titel Die Kerzen brennen ab ohne größeres Echo erschien, eine wahre Márai-Renaissance aus. Die Übersetzerin Heike Flemming promovierte 2014 über den ungarischen Gegenwartsroman und machte seitdem unter Anderem mit Übersetzungen von Péter Nádas und Péter Esterházy von sich reden, dafür wurde sie 2021 mit dem Hieronymusring ausgezeichnet.
Es ist ein Glück, dass sich im Fischer Verlag gleich zwei solche Übersetzerinnen finden, die das durchaus anspruchsvolle Werk des Autoren übersetzen können. Gerade auch, weil sich die Romane stilistisch und inhaltlich stark ähneln. Die letzten beiden erschienenen Bücher bilden zusammen mit der 1989 erschienenen Melancholie des Widerstandes ein thematisches Triptychon, dass immer wieder den Einbruch der sogenannten Großen Welt in die Provinz und die Provinzialisierung eben dieser großen Welt durch die Kleinstadt umkreist. Stets folgt dabei der Autor den Schritten eines oft etwas naiv wirkenden Hauptprotagonisten, dessen Stolpern durch die Erzählung aber eigentlich nur Aufhänger für ein wildes Schaulaufen skurriler, teilweise bis zur Karikatur übersteigerter Charaktere ist.
Im soeben erschienen Roman Herscht 07769, übersetzt von Heike Flemming, sind es Schmierereien an Bach-Gedenkstätten, die die scheinbare Ruhe und Ordnung der fiktiven thüringischen Kleinstadt Kana an der Saale umwerfen. Wieder ist es die Provinz, das Randständige, die vergessenen Städte, in denen es kaum einen Supermarkt gibt, geschweige denn ein Zukunft und in denen das kulturtragende Bürgertum zwischen den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts dahinschmolz wie Schnee in der Frühlingssonne. Wieder wird die Ordnung gestört und wieder offenbart sich, dass hinter der Friedhofsruhe der scheinbar heilen Fassade sämtliche Beziehungen der Menschen, sowohl zueinander als auch zu sich selbst, längst faulig und morsch sind. Was wankt, muss fallen.
In Baron Wenckheims Rückkehr, 2018 übersetzt von Christina Viragh, ist der letzte Stoß die mit allzu großen Hoffnungen überladene Rückkehr eines mysteriösen und angeblich steinreichen Aristokraten. In Herscht 07769 übernimmt eine Gruppe dumpfer Neonazis die Suche nach dem Verursacher der geheimnisvollen Schmiereien, doch ihr ordnungspolitischer Anspruch zerstört nur den Rest an Gemeinsinn in der Stadt, ohne das staatliche oder demokratische Strukturen das Vakuum zu füllen bereit sind. Sinnbildlich beschäftigt sich zudem die Hauptfigur Florian Herscht, die für den Chef der rechten Gruppe arbeitet, laienhaft und zunehmend fanatisch mit den Problemen von dunkler Materie; mit der scheinbaren Bedrohung, das Universum, also alles und damit natürlich auch Kana, könnte sich jederzeit aus demselben unschuldigen Zufall heraus, aus dem es entstanden ist, in Nichts auflösen, Materie und dunkle Materie sich gegenseitig aufheben, der Kosmos verpuffen.
Beide Romane reihen in endloser Folge und beinahe ohne Absätze oder Kapitelüberschriften Sätze aneinander, sind eigentlich ein einziger langer, unendlicher Satz. Wechseln kaum merklich die Perspektive, gehen mit wildem Blick durch die Stadt. Schauen hier in die Wohnung des Bürgermeisters, hier ins Büro der örtlichen Tourismus-Agentur. Es gehört zu der großen Fertigkeit des Romancier, aber auch der beiden Übersetzerinnen, dass sie es schaffen, bruchlos zwischen den verschiedensten Sprachräumen hin und her zu gehen. Um den unterschiedlichen Sprechern hierbei eine eigene Farblichkeit zu geben, setzt Krasznahorkai im Roman von 2018 verschiedene Akzente: da verdreht eine der Figuren die ungarischen Sätze so, dass sie eher zur rumänischen Grammatik passen würden, andere sprechen explizit Dialekte aus der ungarischen Nordostdialekt-Familie, was Christina Viragh durch eine deutlich süddeutsche Färbung der Sprecher kenntlich macht und in unser Sprachempfinden übertragt:
Ar, Ar, ach Liebe, ich sog´s falsch, Ar-gen-ti-nien, na, dos, ist ja nur ein Wort, aber uns war´s so fremd, ols käme es vom Mond, dos hätt wir nachsingen sollen, wir hom uns schon Mühe gegeben,…
Die dialektal gefärbte Sprache hat wie immer natürlich auch eine soziale Komponente: so spricht (und denkt) die Figur des Professors in etwas altertümlichen Begriffen. Der Bürgermeister dagegen benutzt abgenutzte, politische Begriffe aus der kommunistischen Zeit, was in Herscht 07769 keine Entsprechung hat. Hier verkürzt die Übersetzerin Heike Flemming Kraftausdrücke und Füllwörter, um den Sprechern einen aggressiven, gepressten Tonfall zu geben. So heißt es dann etwa:
… stell dir vor, vrdmmt, in unserem Thüringen, vrdmmt,…
Und sie nutzt Satzzeichen, um Betonungen auszudrücken:
… stell dir vor, vrdmmt, in unse…, vielleicht würde ihr Mann sie plötzlich brauchen, na, aber was sollte sie tun?, sie konnte doch nicht dasitzen, die Hände im Schoß?!, also fing sie an,…
Schlussendlich gleichen sich die beiden Übersetzungen jedoch, was sicher auch daran liegt, dass Krasznahorkai als Autor der Übersetzung ein strenges Korsett auflegt: die scheinbar endlosen Textfelder, ohne Trennung von inneren Monologen, wörtlicher Rede und auktorialer Erzählung, das gleichmäßige Dahinfließen des Textes, dass nicht durch besondere rhetorische Kniffe aufgeblasen wird (und wo es etwa keine Alliterationen gibt, muss man sich keine Gedanken machen, wie man sie ins Deutsche überträgt). Seine Sprache ist ein stetes Pochen, ein sich wiederholendes Hämmern, ein sich steigender Rhythmus, der ganz kontraintuitiv eher zum Ende hin abflacht und die letzten, alles unter sich begrabenden Szenen lakonisch dahin wirft.
Heike Flemming ist in ihrer Übersetzung vielleicht etwas radikaler, folgt dem Autor stärker durch das auf und ab eines Satzes:
… stell dir vor, vrdmmt, in unse…, vielleicht würde ihr Mann sie plötzlich brauchen, na, aber was sollte sie tun?, sie konnte doch nicht dasitzen, die Hände im Schoß?!, also fing sie an… einfach nur, damit keiner, nicht einmal er, Florian, sich ruhig zurücklehnen konnte, während sie sich die Seele aus dem Leib spielten, damit das Vierte Brandenburgische mit dem Andante gelang, während er von dem Ganzen nichts, aber wirklich nichts versteht, brüllte der Boss in der Burg, wenn sie ihm gegenüber Florian erwähnten, was vrdmmt schleppst du diesen Blödmann mit, ich weiß auch, dass er von dem Ganzen nichts versteht, aber vielleicht, vielleicht!, vielleicht!!! verbessert sich sein Gehör ein wenig, denn ich habe noch nie gesehen, dass es kein Ergebnis hat, wenn er sich jede Woche einmal der Musik aussetzt, wenn er sich jede Woche einmal dem Bach aussetzt, und da irrte sich der Boss auch nicht, nur entwickelte sich die Sache völlig anders, es zeigte sich, dass es Florian auf einmal gepackt hatte, dem Boss fiel es sofort auf, als sie nach der Pause zusammen nach Hause gingen und Florian rot im Gesicht wurde und seine Augen leuchteten, na?!, na?!, fragte er unterwegs, es hat dich gepackt, was?!, es hat mich gepackt, sagte Florian und konnte kaum seinen Stolz verbergen…
Während Viragh auch mal einen Punkt zulässt, einen Einschub enden lässt und der Leserschaft damit mehr entgegen kommt:
… und von da an vergingen die Tage in noch höllischerer Qual, da er keine Ahnung hatte, ob es ihm gelungen war auszubügeln, was er so sehr verdorben hatte. Zwei Wochen später klopfte der Diener bei ihm und reichte ihm auf dem Tablett einen gewöhnlichen Brief, er sei, bemerkte der Diener leise, soeben gekommen. Im Umschlag fand er eine Ansichtskarte, auf der eine Burg zu sehen war, mit einem Teich und Weiden, auf der Rückseite standen drei Wörter. Ich erwarte Sie.
Am Anfang des oben erwähnten Interviews entschuldigt sich László Krasznahorkai für sein schwaches Deutsch: „Am Ende werde ich müde, dann mein sowieso geringes Deutschwissen fährt zurück auf ein solches Niveau, dass Sie leiden werden.“ Doch dabei sollten wir froh sein, dass dem vor allem in Amerika als Kult-Autor gehandelten Ungarn mit Flemming und Viragh zwei so kompetente und sprach-poetisch versierte Übersetzerinnen zur Seite stehen, die durch ihre Arbeit das vielschichtige Werk des Autors in gleich zwei, bei allen Gemeinsamkeiten doch auch unterschiedlichen Übertragungen dem deutschsprachigem Publikum nahe bringen.