Direktor der Frankfurter Buchmesse zu sein, ist kein alltäglicher Job. Wollten Sie schon immer was mit Büchern machen?
Auf jeden Fall. Als Kind war ich süchtig nach der Stadtbibliothek und verbrachte dort meine Tage. Außerdem war mein Onkel Buchhändler, ich war also schon immer von Büchern umgeben. Später habe ich dann eine Lehre zum Verlagsbuchhändler absolviert und studiert. Im Anschluss habe ich im Buchhandel sowie in literarischen und wissenschaftlichen Verlagen gearbeitet.
Welche Stationen waren für Ihre jetzige Arbeit besonders wichtig?
Alle (lacht). Ich hatte großes Glück, dass ich sowohl im Buchhandel, genauer gesagt in einer literarischen Universitätsbuchhandlung, als auch später in der Belletristik bei Carl Hanser oder im Springer Wissenschaftsverlag arbeiten konnte. So habe ich verschiedene Facetten kennengelernt, denn in einem Wissenschaftsverlag zu arbeiten, ist etwas anderes als in einem Belletristik-Verlag – im einen bewegt man sich in der rein englischsprachigen Wissenschaftswelt, in der fast nichts übersetzt wird, im anderen geht es um hochanspruchsvolle deutschsprachige Literatur im Original und in Übersetzungen. Die Belletristik hat auf der Buchmesse eine hohe Sichtbarkeit, aber es gibt noch sehr viel mehr – vom Schulbuch bis zur Lyrik – das wird gern vergessen.
Die letzten zwei Jahre waren aufgrund der Corona-Pandemie eine Ausnahmesituation. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
In den letzten zwei Jahren war jeder Tag eine Ausnahmesituation. Im ersten Jahr haben wir noch gehofft, dass alles schnell vorbeigeht. Wir haben zwar versucht, parallel zu planen – digital und physisch, aber immer in der Hoffnung, dass es bei diesem einen Ausnahmejahr bleibt. Insgesamt war die hohe Planungsunsicherheit für das Team der Frankfurter Buchmesse sehr belastend – und ist es immer noch. Wie jede*r, der im Literaturbereich selbstständig ist und nach Unterstützung sucht, haben wir viel Erfahrung mit Förderanträgen gesammelt. Gleichzeitig erhielten wir aber auch große Unterstützung und konnten spannende Menschen im digitalen Bereich kennenlernen. Außerdem freut es mich zu sehen, dass es der Buchbranche in den letzten zwei Jahren insgesamt gut ging, insbesondere dem Kinder- und Jugendbuchbereich, der sogar gewachsen ist. Ich habe vor Kurzem mit spanischen Kollegen gesprochen, die eine große Studie durchgeführt und herausgefunden haben, dass Jungs im Teenager-Alter, die man in der Regel selten mit einem Buch erwischt, mehr lesen als je zuvor. Die Überfütterung durch das Digitale führt offenbar dazu, dass wieder mehr zum Buch gegriffen wird, und zwar nicht zu E‑Books, sondern tatsächlich zum gedruckten Buch. Solche Entwicklungen finde ich spannend.
Sie erwähnten gerade, dass Sie auf interessante Personen im digitalen Bereich gestoßen sind. Wen haben Sie im digitalen Raum kennengelernt, den Sie sonst nicht getroffen hätten?
Es gab das Format „The Hof“, benannt nach dem Hotel Frankfurter Hof, der sonst immer ein wichtiger Begegnungsort für unsere Gäste und Besucher war. Wir haben versucht, diesen Raum digital nachzubilden und unter Anderem Live-Musik, Meditation sowie thematische Breakout Sessions geboten. Auf diese Weise kam es zu spannenden Begegnungen im digitalen Raum: Junge Independent-Verleger*innen aus Argentinien konnten mit Literaturschaffenden aus Südostasien sprechen, und ich war mittendrin. Das war eine bereichernde Erfahrung.
Und was hat digital nicht so gut funktioniert, wie man es sich erhofft hatte?
Es war schwierig, Veranstaltungen mit einem Preisschild zu versehen und darüber Einnahmen zu generieren. Normalerweise bezahlt man als Besucher dafür, eine*n große*n Autor*in wie beispielsweise Salman Rushdie live zu erleben. Im digitalen Raum funktioniert das weniger gut, weil es ein Überangebot an digitalen Veranstaltungen gibt und Nutzer*innen von Plattformen wie YouTube es nicht gewohnt sind, für Inhalte zu zahlen. Zudem zeichnet sich eine gewisse Tendenz ab – je spezifischer und nischiger das Format ist, desto erfolgreicher. Austauschbare Formate funktionieren überhaupt nicht.
Aus der Flugbranche hört man, dass es Jahre dauern wird, bis sich die Branche wieder auf Vorkrisenniveau befindet. Wann rechnet die Buchmesse damit, wieder so groß zu sein wie vor der Corona-Pandemie?
Ich denke, dass wir schnell wieder zurück sein werden. Die deutschsprachige Literatur war Ende November Gastland auf der Buchmesse in Thessaloniki, davor war ich in Guadalajara auf der größten Buchmesse im spanischsprachigen Raum in Mexiko. Beide Messen waren sehr gut besucht, in Guadalajara hatte die Buchmesse sogar über hunderttausend Besucher*innen. Natürlich gab es dort Einschränkungen und Sicherheitsauflagen. Solche Gesundheitsauflagen wird es auch bei uns weiterhin geben, aber durch die zweijährige digitale Erfahrung haben die meisten Menschen gemerkt, wie wichtig es ist, sich persönlich zu treffen. Die Sehnsucht der Leser*innen nach der Interaktion mit Autorinnen und Autoren ist groß. Wir werden daher in Zukunft noch publikumsorientierter werden, um mehr Begegnungen zwischen Autor*innen und Publikum zu ermöglichen.
Die Kontroverse um neurechte Verlage hat die diesjährige Buchmesse überschattet. Konnten Sie die Bedenken der Autorin Jasmina Kuhnke nachvollziehen?
Ich kann durchaus nachvollziehen, dass sich die Autorin persönlich bedroht gefühlt hat, und ich bedaure sehr, dass Frau Kuhnke sich gegen einen Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse entschieden hat. Auf der Frankfurter Buchmesse kommt ein ausgereiftes Sicherheitskonzept zum Tragen. Für Persönlichkeiten, die einem erhöhten Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind, erarbeiten wir individuelle Maßnahmen und setzen diese entsprechend um. Auch mit dem Management von Frau Kuhnke wurden bereits im Vorfeld der Buchmesse Absprachen zum Thema Sicherheit getroffen. Aber das subjektive Sicherheitsempfinden ist davon nicht zu beeinflussen. Wir haben als größte internationale Buchmesse eine Monopolstellung, und können Marktteilnehmern den Zugang zu dieser Veranstaltung nicht ohne triftigen Grund verweigern. Als Plattform befinden wir uns in einer besonderen Situation und müssen auch Aussteller zulassen, deren Publikationen und Werte wir entschieden ablehnen.
Man muss dabei bedenken, dass die Frankfurter Buchmesse schon seit Jahren als Bühne für unterschiedlichste politische Debatten dient, und wir versuchen die Welt so komplex abzubilden, wie sie auch in Büchern widergespiegelt wird. Die Frankfurter Buchmesse wird von vielen Autor*innen als sicherer Hafen angesehen und genießt in der Hinsicht eine absolute Sonderstellung. Aus diesem Grund wächst unsere Internationalität jedes Jahr aufs Neue. Ich komme gerade aus Mexiko zurück, wo so viele Journalist*innen und Autor*innen im letzten Jahr bedroht oder sogar ermordet wurden wie in kaum einem anderen Land der Welt. Das war zwar auch Thema auf der dortigen Buchmesse, aber man ist sehr vorsichtig, was man sagt. Auf der Frankfurter Buchmesse ist das anders.
Würden Sie die Frankfurter Buchmesse als politisch bezeichnen?
Die Buchmesse, das Buch ist per se politisch, das geht gar nicht anders. Unser Thema ist in erster Linie der Schutz des Publizierens, „the freedom to publish“. Zudem muss es für Kulturschaffende möglich sein, sich öffentlich frei zu äußern.
Die Frankfurter Buchmesse beleuchtet viele verschiedene Formen literarischer Arbeit. Welche Rolle spielen Übersetzungen?
Wir werden in den nächsten Jahren Übersetzungen in den Mittelpunkt stellen. Die Frankfurter Buchmesse – wie auch die Buchbranche im Allgemeinen – lebt von Übersetzungen. Themen wie die politische Korrektheit von Übersetzungen sind Debatten, die uns betreffen und umtreiben. Auch vor dem Hintergrund, dass sich einige Länder politisch immer mehr isolieren, gewinnen Übersetzungen immer mehr an Bedeutung. Außerdem haben wir schon lange einen Schwerpunkt auf der Übersetzungsförderung.
Auf der Buchmesse finden sich die unterschiedlichsten Akteure der Literaturbranche. Gehen die Übersetzer*innen da nicht unter?
Übersetzer*innen waren für uns schon immer sehr wichtig. Das Gastland ist eines der größten Übersetzerförderprogramme der Welt. Die Förderung des Rechtehandels und die Förderung von Übersetzungen ist der wichtigste Bestandteil des Gastland-Programms. Die Gastländer setzen speziell für den Ehrengast-Auftritt zugeschnittene Förderprogramme auf. So wurde von Kanada die Übersetzung von 145 Werken kanadischer Autoren ins Deutsche gefördert, zudem nutzen auch viele Verlage – unabhängig von der Förderung – die große Aufmerksamkeit, die ein Gastland-Auftritt generiert und bringen Titel von Gastland-Autor*innen heraus. Im Falle Kanadas haben insgesamt 165 Verlage 400 Neuerscheinungen auf den deutschsprachigen Buchmarkt gebracht. Oftmals orientieren sich die Verlage an den Empfehlungen der Übersetzer*innen. Das allein zeigt, welchen Stellenwert Übersetzer*innen in der Branche haben und dass dieses Thema ein zentraler Bestandteil der Frankfurter Buchmesse ist und sein muss.
Die Sichtbarkeit der Übersetzer*innen ist ein wichtiges Thema für die Branche. Das Übersetzerzentrum, das den Fokus auf die Übersetzenden rückte, wurde vor einigen Jahren mit dem „Internationalen Zentrum“ zusammengelegt. Seitdem wird hin und wieder kritisiert, dass es zu wenig Veranstaltungen gibt, bei denen Übersetzer*innen eine Bühne bekommen
Wir sind dabei, uns umzuorientieren, auch im digitalen Raum, und wollen die Übersetzer stärker miteinander vernetzen, zum Beispiel durch die Unterstützung von Übersetzerresidenzen. Wir sind auch Mitinitiator und großer Unterstützer von ENLIT, einem europäischen Übersetzungsnetzwerk. Zudem bin ich gerade dabei, Allianzen mit Vertreter*innen aus der Schweiz und Österreich zu schmieden, damit wir uns gemeinsam der Übersetzungsförderung annehmen. Wir unterstützen auch das Programm Geisteswissenschaften international, das die Übersetzung von geistes- und sozialwissenschaftlichen Werken in die Wissenschaftssprache Englisch fördert. Es gibt also ganz verschiedene Ansätze, und wir werden Wege finden, diese umzusetzen.
Es besteht demnach Interesse, Übersetzer*innen in den Mittelpunkt zu rücken, aber es scheitert auch hier an den finanziellen Mitteln?
Nein, es passiert bereits sehr viel, und weitere Unterstützung ist unterwegs. Aber wir müssen neue Wege einschlagen, um vieles noch sichtbarer zu machen, zum Beispiel die Übersetzungsförderungsprogramm unserer zukünftigen Gastländer, die in der Regel 2–3 Jahre vor dem eigentlichen Auftritt aufgesetzt werden müssen.
Sie haben ein neues Förderprogramm ins Leben gerufen, an dem 20 deutschsprachige Nachwuchsübersetzer*innen teilnehmen konnten. Welche Ziele verfolgt das Programm? Und wird es nächstes Jahr fortgeführt?
Für das Frankfurt Übersetzer*innen Stipendium haben wir eine sehr positive Zwischenbilanz ziehen können. Wir haben in kürzester Zeit über 100 Bewerbungen dafür erhalten. Die größte Hürde besteht für Berufsanfänger*innen darin, sich zu profilieren und ein Netzwerk mit auftraggebenden Verlagen aufzubauen. Hier kann die Frankfurter Buchmesse eine entscheidende Unterstützung bieten, indem sie die Übersetzer*innen mit denjenigen zusammenbringt, die auf ihre Arbeit angewiesen sind: den zahlreichen deutschen Verlagen, die internationale Autor*innen veröffentlichen (aller literarischen Genres inkl. Kinder- und Jugendbuch, Lyrik, Comic und Graphic Novel, Theatertexte, Sachbuch und Essay) – und zwar aus den unterschiedlichsten Sprachräumen. Daher das Programm.
Und wir wollen das Programm auf jeden Fall fortführen und sind dafür wieder in Gesprächen. Wir konnten in 2021 von der großzügigen Unterstützung aus Mitteln des NEUSTART KULTUR Programms mit Hilfe des Deutschen Übersetzerfonds profitieren. Spannend ist daher auch, wie sich die Neubesetzung der Ministerposten auswirkt. Meiner Meinung nach gab es in den letzten Jahren einen Bewusstseinswechsel hin zu der Erkenntnis, dass Übersetzer*innen eine wichtige Rolle spielen. Deshalb würden wir zum Beispiel gern besagte Übersetzerresidenzen fördern, damit mehr Übersetzer*innen die Chance bekommen, ein paar Monate im Land der Sprache, aus der sie übersetzen, an ihrem Projekt zu arbeiten.
Welche Übersetzungen haben Sie in diesem Jahr beeindruckt?
Ich bin oft lange auf Reisen, daher habe ich immer eine große Tasche voller Bücher dabei. Gefallen hat mir zum Beispiel der Roman New York Ghost von Ling Ma (CulturBooks Verlag), den Zoë Beck übersetzt hat. Dany Laferrière, ein kanadischer Autor, und sein Roman Ich bin ein japanischer Schriftsteller (Wunderhorn Verlag) hat mich in der Übersetzung von Beate Thill ebenfalls überzeugt.
Im nächsten Jahr ist Spanien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Was erwartet uns?
Spanien ist schon jetzt in Hochform. Am spanischen Stand auf der Buchmesse in Mexiko war überall das Logo „Creatividad desbordante – Spain Guest of Honour Frankfurter Buchmesse“ sehr prominent zu sehen. Auch das Übersetzerförderungsprogramm läuft bereits seit über einem Jahr und ist sehr gut finanziell ausgestattet. Man wartet gar nicht erst auf die fünf Tage im Oktober, sondern schickt schon jetzt Autor*innen nach Deutschland, die an Veranstaltungen in Leipzig, Berlin oder an der LitCologne teilnehmen. Das Gastland wird im nächsten Jahr somit sehr präsent sein. Für mich ist internationale Literatur ohnehin der Kern der Buchmesse und ich halte es auch politisch für wichtig, andere Stimmen zu hören. Daher müssen wir Übersetzer*innen sichtbarer machen und die politischen Dimensionen von Übersetzungen stärker in den Fokus rücken.