Am 16. Februar ist Andreas Donat, der Übersetzer dieses Romans, zu Gast bei unserer Leserunde TraLaLiest. Anmeldungen über leserunde@tralalit.de
Durchschnaufen. Das ist das Erste, was ich nach der Lektüre von Gine Cornelia Pedersens Debütroman Null tun will. So viel steht fest, ich habe eine Ich-Erzählerin auf ihrem Weg in den Wahnsinn begleitet. Ein ganz neuer literarischer Topos ist das nicht. Aber nicht das Thema ist entscheidend, sondern der Stil. Verfasst hat Gine Cornelia Pedersen ihre Geschichte nämlich in einer Art Versform, kurze und kürzeste Sätze lösen einander ab, Punkte gibt es keine und Kommata kaum. Die Handlung reicht von der späten Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter: Als kleines Mädchen schon hegt die Ich-Erzählerin den Traum, später Schauspielerin zu werden. Sie sucht bei anderen Aufmerksamkeit und findet sie auch, fühlt sich aber trotzdem unerfüllt. Dann wird sie psychisch krank, landet mehrfach in der Psychiatrie und bekommt doch nicht die Hilfe, die sie braucht. Auch ihr Vorsprechen bei der Schauspielschule endet katastrophal. So setzt sich das Unheil immer weiter fort, bis zum großen Knall.
2013 erhielt die Autorin den Tarjei-Vesaas-Debütpreis. Auch die Kritik zeigte sich begeistert. Susanne Christensen etwa schrieb in der Zeitung Klassekampen, Null sei „ein Bombenkrater von einem Roman“. Während die Geschichte ohne Punkt von einem Satz zum nächsten rase, verhalte sich das Wort „ich“ wie ein „alternativer Punkt oder ein Mantra“. Nun schwappte damals noch die Knausgård-Welle durch Norwegen. Das Wort „Wirklichkeitsliteratur“ („virkelighetslitteratur“) war in aller Munde: literarische Texte, die direkt aus dem Leben ihrer Autor:innen zu erzählen schienen. Doch es wäre zu verführerisch, auch Null als Wirklichkeitsliteratur zu lesen. Zwar steht hier das Ich zentral, auch gibt es deutliche Bezüge zur Autorin (sie hat ebenfalls eine Schauspielschule besucht), die Erzählinstanz aber tritt nicht als Individuum, sondern als Archetypus eines Charakters auf, der in vielen norwegischen Romanen der jüngeren Gegenwart eine Rolle spielt.
Solche Bücher handeln oftmals von Mädchen und jungen Frauen, die in ihrem Umfeld kein Gehör für ihr Leid finden und lassen oft auch sozialkritische Analysen zu, so ist z. B. Psychiatriekritik ein häufig anzutreffendes Thema. Ein Beispiel für so einen Roman ist Maria Kjos Fonns Kinderwhore, der nicht nur von der PTBS einer Erzählerin handelt, sondern auch von den Reaktionen der Ärzt:innen auf ihr daraus resultierendes Verhalten. Bei Gine Cornelia Pedersen hingegen sind bloß noch Versatzstücke eines Individualismus vorhanden, ihre Protagonistin hat keine Hintergrundgeschichte mehr. Ihr Handeln ist psychologisch kaum erklärbar. Die Ereignisse, so verstörend sie manchmal auch sein mögen, stehen oft einfach für sich. Das liegt auch an der Schreibweise, denn Gine Cornelia Pedersen hat, wie sie in einem Werkstattgespräch erläutert, die Arbeit an Null in wenigen Wochen beendet. Écriture automatique wäre hierfür wohl ein passender Begriff. Mit dem Surrealismus, aus dem dieses literarische Verfahren stammt, hat Pedersens Roman jedoch nichts zu tun. Aber eine solche Methode hat auch Nachteile. Auch wenn der Luftschacht Verlag Null nicht als Jugendbuch vermarktet, liefert eine Kritik der Autorin Ida Jackson wichtige Ansatzpunkte für eine Lektüre auch der Übersetzung:
Wieso ist das kein Jugendbuch?
Es fühlt sich an wie ein kaum bearbeitetes YA-Buch.
Es geht um Jugendliche, aber
Für ein „richtiges“ YA-Buch ist es nicht genug lektoriert.
Es ist
Halbfertig,
Halbdurchdacht,
Halbgar.
Ida Jacksons Beobachtungen sind nicht nur eine sehr treffende Zusammenfassung von Null, sondern liefern auch Ansätze für eine Übersetzungskritik. Wie umgehen mit einem Text, der seinem Publikum eine Identifikation mit der Erzählinstanz kaum gestattet, da die Charaktere mit hastigen Strichen gezeichnet sind, der Plot irrwitzig schnell dahinrauscht und noch dazu grob, ja fast schon unabgeschlossen bleibt? In einem Interview schildert die englische Übersetzerin Rosie Hedger ihren Umgang mit Null: Eine große Schwierigkeit sei die Kürze des Originaltextes, denn während man im Norwegischen nur wenige Worte brauche, könne die englische Fassung im ungünstigsten Fall langatmig wirken. Es mag banal erscheinen, aber oft haben die Wörter, die Gine Cornelia Pedersen verwendet, nur zwei oder drei Silben. Das ist bei einem hyperventilierenden Text wie diesem auch durchaus nachzuvollziehen, stellt aber eine Übersetzung vor ein unausweichliches Dilemma. Denn der Text, der da am Ende herauskommt, wird immer länger sein als seine Vorlage. Damit die Übersetzung von Pedersens Roman funktioniert, sollte sie daher sowohl auf stilistischer als auch auf lexikalischer Ebene eine auf größtmögliche Kürze bedachte Bedeutungsäquivalenz anstreben.
Als studierter Pianist und als Übersetzer aus den skandinavischen Sprachen dürfte sich Andreas Donat mit Rhythmus auskennen. Er hält sich genau an die Vorlage und findet oft auch auf der Detailebene gute Entsprechungen für die Sprechweise der Ich-Erzählerin, die dazu neigt, ihre Meinung drastisch auszudrücken: „Ich sage, dass sie sich ihre Psychose sonstwohin schieben können“ („Jeg ber dem holde kjeft om den psykosen“), sagt sie etwa zu den Ärzt:innen im Krankenhaus. „Holde kjeft“ heißt ja eigentlich „Klappe halten“, hier aber zu wörterbuchbeflissen zu übersetzen, würde heißen, den Text mit Präpositionen zu verkleben: „Ich bitte sie, dass sie über die Psychose die Klappe halten sollen“. Als die Erzählerin sich mal wieder in eine Situation hineinmanövriert hat, aus der sie nicht wieder herauskommt, merkt sie lakonisch an: „Jeg har bæsja på skjebnen min“. Donat übersetzt: „Ich habe mein Schicksal verschissen“. Zwar scheißt sie im Norwegischen mittenmang „auf“ („på“) ihr Schicksal, Donat aber setzt zurecht lieber auf den idiomatischen Gehalt der Aussage statt auf Wörtlichkeit. Eine Frau, die deutlich älter ist als die Protagonistin, wird dann auch schon mal zur „alten Schachtel“ („gammel kjerring“) degradiert, eine Beschimpfung, die gut ins sprachliche Register der Erzählerin passt. Wenn sie ihre Umgebung beobachtet, neigt sie nämlich gerne zu Abwertungen, ein rotes Auto ist „gammelig“ („råtten“) und Kinder sind „kleine Scheißer“ („drittunger“).
Auch bei Realia, die nicht unbedingt direkte Entsprechungen haben, beweist Donat oft das nötige Fingergeschick. Ein Freund der Erzählerin wird von einem „råner“ zusammengeschlagen. Zu dieser Vokabel, die er übrigens unübersetzt lässt, schreibt Donat in einer Fußnote, sie bezeichne „eine in Norwegen verbreitete Subkultur von Jugendlichen, die das ziellose Herumfahren zu ihren Freizeitinteressen zählen“. Übersetzungen ins Deutsche gäbe es durchaus, z. B. „Auto-Poser“ oder etwas Ähnliches, allerdings ist die „råner“-Gemeinde deutlich weniger auf Bling-Bling angelegt als das, was die hiesige Polizei in Pressemeldungen hin und wieder als „Poser-Szene“ bezeichnet. Donat bewahrt also ein unübersetztes Wort, was ästhetisch vielleicht nicht schön, aber inhaltlich durchaus nachvollziehbar ist.
An anderen Stellen, und zwar nicht nur dann, wenn es um die möglichst knappe Wiedergabe eines sowieso schon sehr knappen Textes, sondern auch um die Figurensprache und die Zeichensetzung geht, werfen Donats Entscheidungen Fragen auf. Da reicht es schon, wenn in einer so oder so schon dichten Passage ein paar umständliche Formulierungen stecken. Zwar fällt seine deutsche Fassung u. a. aus syntaktischen Gründen länger aus als die norwegische, aber sie müsste nicht ausgreifender sein als unbedingt nötig. Als sie in der Klinik ist, schreibt die Erzählerin etwa:
Når jeg sover er jeg død
Jeg har ingen minner
Ingen drømmer
Alt er sort og tungt som murstein
Piller
Grønne og hvite
Store
Jeg tar fire i slengen
Brekker meg
Spiser mer til frokost
Mer til lunsj
Mer til middag
Kan se i veggen i opptil fem timer uten å kjede meg
Gidder ikke strikke lenger
Gidder ikke prate, nye pasienter kommer og går
Pusser ikke tenner
Tisser på meg om natten
Får klage på tåfis av en pleier
Jeg spør om jeg kommer til å snøvle lenge
De sier at det er individuelt
Wenn ich schlafe, bin ich tot
Ich habe keine Erinnerungen
Keine Träume
Alles ist schwarz und schwer wie Stein
Tabletten
Grüne und weiße
Große
Ich nehme vier auf einmal
Kotze
Esse mehr zum Frühstück
Mehr zum Mittagessen
Mehr zum Abendessen
Kann bis zu fünf Stunden lang auf die Wand schauen, ohne
mich zu langweilen
Habe keine Lust mehr zu stricken
Habe keine Lust zu reden, neue Patienten kommen und
gehen
Putze mir nicht die Zähne
Pisse mich nachts an
Ein Pfleger beschwert sich über meine Käsefüße
Ich frage, ob es lange dauern wird, bis ich wieder normal
sprechen kann
Sie sagen, das ist individuell
Im norwegischen Text gibt es außer „pasienter“ und „individuelt“ nur ein- bis zweisilbige Wörter. Die Erzählerin ist schwer depressiv, es ist also gut vorstellbar, dass sie nicht die Kraft hat, mehr zu sagen als das Allernötigste, und oft nicht einmal das. Auch bei Andreas Donat haben die meisten Wörter ein bis zwei Silben, trotzdem wirkt seine Fassung aufgeblähter. Warum das? „Ich habe keine Erinnerungen“, die wörtliche Übersetzung von „Jeg har ingen minner“, ließe sich z. B. auch wiedergeben mit „Ich weiß nichts mehr“, in der nächsten Zeile dann „Träume nicht(s)“. Die „Tabletten“ würden zu „Pillen“, „Esse mehr zum Frühstück/Mehr zum Mittagessen/Mehr zum Abendessen“ wäre „Esse/Morgens/Mittags/Abends mehr“, vielleicht sogar „Fresse morgens/Mittags/Abends“ (die Erzählerin nimmt Tabletten, wodurch allerdings ihr Appetit kaum mehr zu zügeln ist). „Gidder ikke … lenger“ wäre auch als „Mag nicht mehr“ denkbar, „Habe keine Lust mehr zu …“ wirkt dagegen zu lang. „Ich frage, ob es lange dauern wird, bis ich wieder normal sprechen kann“ ist zu umstandskrämerisch, zudem noch ungenau. Denn es geht nicht ums normale Sprechen, sondern ums Nuscheln („å snøvle“): „Ich frage, ob ich noch lange nuscheln muss“.
Auch der Duktus der Erzählerin passt nicht immer so ganz zu ihrem Alter und ihrer Persönlichkeit. Als sie das erste Mal in Therapie geht, bemerkt sie, wie ihre Psychologin aus dem Konzept gerät und stellt fest: „Jeg psyker henne ut“. Donat übersetzt diese Passage mit „Ich beschließe, sie aus dem Konzept zu bringen“, und das, obwohl die Erzählerin hier nichts bewusst tut. „Psyke noen ut“ ist, ganz anders als Donats Übersetzung nahelegt, eher umgangssprachlich, und ließe sich am ehesten wiedergeben als „Ich mache sie (ganz) kirre“. An anderen Stellen gerät seine deutsche Fassung zu wörtlich, „smiler uaffektert tilbake“ wird zu „lächle unaffektiert zurück“ („starr“, „ausdruckslos“ oder „emotionslos“ hätte es besser ausgedrückt). Manche Übersetzungen sind nachgerade rätselhaft, an einer Stelle beschreibt die Erzählerin ihre sexuelle Erregung mit „Jeg renner“ („Ich triefe“, „Ich laufe aus“). Donat aber übersetzt mit „Ich bin feucht wie ein Schwamm“, ein Vergleich, der so nicht in der Vorlage steht. Und als die Protagonistin vergewaltigt wird, ruft sie „Macht Spaß/Spaß auf dem Land“ („gøy det/Gøy på landet“). Nun bleibt unklar, wieso sie so etwas Verstörendes sagt, aber es wäre doch sicher möglich, die Anspielung auf Wenche Myhres Schlager, den Pedersen hier zitiert, mit einem ähnlichen deutschen Schlagertitel wiederzugeben, anstatt das Norwegische wieder allzu wörtlich zu übersetzen?
Nicht nur die Überlänge des deutschen Textes und der Duktus der Erzählerin werfen Fragen auf, auch die Zeichensetzung ist nicht ganz ohne. Allerdings ist Donat dieses Problem nur bedingt anzukreiden, denn das Norwegische hat naturgemäß weniger Beistriche als das Deutsche. Während in Pedersens Text kaum Kommata zu finden sind, wimmelt es in Donats nur so davon. Es stellt sich also die Frage, ob es nicht doch einen anderen Weg gegeben hätte, etwa durch syntaktisches Anpassen und Umstellen, dem deutschen Text die Luft zum Atmen zu nehmen, schließlich erwecken die kurzen Zeilen den Eindruck, dass die Geschichte nur so dahinrauscht. Z. B. wäre es widersprüchlich, einem Text, der Atemlosigkeit erzeugen will, unzählige „dass“-Konstruktionen aufzubürden.
Dank Andreas Donat können deutschsprachige Leser:innen Gine Cornelia Pedersens Roman nun also auch lesen. Obwohl hier und da Kritikbedarf an der Übersetzung besteht, ist Null auch im deutschen Sprachkleid weiterhin ein gut zu lesender Text – interessant für alle, die bereit sind, sich auf Themen wie psychische Erkrankungen einzulassen, und für seine stilistischen Besonderheiten aufgeschlossen sind.