„Die Erin­ne­rung an den Holo­caust ist durch­ge­hend von Über­set­zun­gen geprägt“

Der Historiker Georg Felix Harsch hat sich intensiv mit der Frühphase der deutschen Erinnerungskultur beschäftigt, die ohne Übersetzungen kaum mehr als eine Verdrängungskultur gewesen wäre. Interview:

Nicht nur die wissenschaftliche, auch die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen bei den Nürnberger Prozessen wäre ohne Übersetzungen nicht möglich gewesen. Die Verhandlungen waren auch ein Meilenstein in der Geschichte des Simultandolmetschens. Hier im Bild Capt. Macintosh und Margot Bortlin. © US National Archives, College Park, MD, courtesy of Francesca Gaiba

Laut einer Stu­die der Uni­ver­si­tät Bie­le­feld hal­ten über 50% der Deut­schen die Geschichts­auf­ar­bei­tung in ihrem Land für „vor­bild­lich“. Dabei muss­te die Auf­ar­bei­tung der NS-Ver­bre­chen hier­zu­lan­de erst gegen gro­ße Wider­stän­de durch­ge­setzt wer­den und wäre ohne Ein­flüs­se aus dem Aus­land wohl ganz anders ver­lau­fen. Der Über­set­zer und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Georg Felix Harsch hat in sei­ner Dis­ser­ta­ti­ons­schrift, die 2021 unter dem Titel „Über­set­zung als Erin­ne­rung“ erschie­nen ist, die frü­hen Anfän­ge die­ser „impor­tier­ten“ Erin­ne­rung erforscht. Sei­ne Ana­ly­se drei­er über­setz­ter Sach­bü­cher aus dem Eng­li­schen beschrei­tet nicht nur metho­disch neu­es Gelän­de, sie stellt auch die angeb­lich so „vor­bild­li­che“ deut­sche Erin­ne­rungs­kul­tur in den inter­na­tio­na­len Kon­text, in den sie gehört.


Der 27. Janu­ar ist in Deutsch­land heu­te ein natio­na­ler Gedenk­tag für die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus, samt Zere­mo­nie im Bun­des­tag. Zu der Zeit, mit der Sie sich beschäf­tigt haben, war das jedoch ganz anders. Wie wur­de unmit­tel­bar nach Kriegs­en­de mit der ver­stö­ren­den NS-Ver­gan­gen­heit Deutsch­lands umgegangen?

Zwi­schen 1945 und 1949 gab es unter dem Druck der Alli­ier­ten noch kon­kre­te Ent­na­zi­fi­zie­rungs­be­mü­hun­gen. Doch schon nach den bei­den Staats­grün­dun­gen 1949 wur­den die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Eli­ten, die Täte­rin­nen und Täter, in die Gesell­schaft re-inte­griert. In West­deutsch­land wur­de fast die gesam­te Beam­ten­schaft wie­der ein­ge­stellt. Ein Gegen­ge­wicht dazu bil­de­te bei­spiels­wei­se das Grund­ge­setz mit sei­ner kon­kre­ten anti­na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Aus­rich­tung. Ent­spre­chend gab es auch zu die­ser Zeit Akteu­rin­nen und Akteu­re, übli­cher­wei­se mit Ver­fol­gungs­hin­ter­grund, die sich gegen die­se Reinte­gra­ti­on und die mas­sen­haf­te Ver­drän­gung enga­gier­ten. Aber der Dis­kurs öff­ne­te sich im Wes­ten fast per­vers­er­wei­se erst nach dem gro­ßen Straf­frei­heits­ge­setz von 1954, weil die kon­kre­ten Täter nun viel weni­ger Straf­ver­fol­gung zu befürch­ten hat­ten und das Spre­chen über die NS-Ver­bre­chen des­halb weni­ger inten­siv abwehrten. 

Und in der DDR?

In der DDR gab es einer­seits die­se gro­ße Inte­gra­ti­on nicht. Da hielt die Pha­se der Ent­na­zi­fi­zie­rung län­ger an. Ande­rer­seits beton­te man dort unter den Vor­zei­chen des ver­ein­fach­ten kom­mu­nis­ti­schen Geschichts­bil­des vor allem die Ver­bre­chen am kom­mu­nis­ti­schen und sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wider­stand. Der Mas­sen­mord wur­de ein­fach als Ergeb­nis einer faschis­ti­schen, mör­de­ri­schen Form des Ultra-Kapi­ta­lis­mus dar­ge­stellt, sodass die kon­kre­te jüdi­sche Iden­ti­tät der Holo­caust-Opfer unter den Tisch fiel. Der Ver­drän­gungs­dis­kurs war also anders als in der BRD, führ­te aber zu einem ähn­li­chen Ergeb­nis. Auf bei­den Sei­ten der Gren­ze war man mit der Abwehr eines kon­stru­ier­ten Kol­lek­tiv­schuld­vor­wurfs beschäftigt. 

Hat die­se Ver­drän­gung die wis­sen­schaft­li­che Auf­ar­bei­tung der Ver­bre­chen behindert?

Auf jeden Fall. In den 50er Jah­ren ist kei­ne ein­zi­ge ori­gi­nal­sprach­li­che Mono­gra­fie zu den NS-Ver­bre­chen auf Deutsch erschie­nen. Offen­sicht­lich gab es Dis­kurs­ge­set­ze und Tabus, die eine wis­sen­schaft­li­che Beschäf­ti­gung mit dem The­ma verhinderten.

Wor­an lag das konkret?

Man muss sich klar­ma­chen, dass zu die­ser Zeit im Kul­tur­be­trieb, in den Feuil­le­tons und an den uni­ver­si­tä­ren Lehr­stüh­len für Geschich­te wie auch im 1949 gegrün­de­ten Insti­tut für Zeit­ge­schich­te über­wie­gend Leu­te saßen, die in den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Insti­tu­tio­nen aus­ge­bil­det wor­den waren. Die haben völ­lig ande­re Fra­gen gestellt als es ehe­ma­li­ge Opfer natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Ver­fol­gung getan hät­ten. Es gab zwar im Kura­to­ri­um des IfZ wäh­rend der gesam­ten 50er Jah­re den Plan, eine gro­ße Mono­gra­phie über die NS-Ver­bre­chen zu schrei­ben. Das ist aber immer wie­der hint­an­ge­stellt wor­den, wahr­schein­lich weil man sich unbe­wusst nicht mit die­sen The­men beschäf­ti­gen wollte. 

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Por­trät von Gerald Reit­lin­ger (Chris­to­pher Wood, 1926) 

In Eng­land sah das offen­bar anders aus.

Rich­tig. Ich habe mich in mei­ner Dis­ser­ta­ti­on mit drei wich­ti­gen Mono­gra­fien über den Natio­nal­so­zia­lis­mus und sei­ne Ver­bre­chen beschäf­tigt, die dort in den ers­ten zehn Jah­ren nach Kriegs­en­de erschie­nen sind. Die gehen sehr unter­schied­lich an das The­ma her­an. Alan Bul­locks Hit­ler-Bio­gra­fie mit dem Unter­ti­tel A Stu­dy in Tyran­ny ist eine ganz klas­si­sche Herr­scher­bio­gra­fie – die ers­te in Deutsch­land ver­öf­fent­lich­te Hit­ler-Bio­gra­fie, die nicht von einem Natio­nal­so­zia­lis­ten geschrie­ben wur­de. The Final Solu­ti­on von Gerald Reit­lin­ger, einem Pri­vat­ge­lehr­ten und Kunst­his­to­ri­ker, war 1953 die ers­te Mono­gra­fie über den Holo­caust und die NS-Ver­bre­chen welt­weit. Auch in Yad Vas­hem war man damals noch nicht so weit. Und das 1954 in Groß­bri­tan­ni­en erschie­ne­ne The Scour­ge of the Swas­tika von Lord Rus­sell of Liver­pool, einem ehe­ma­li­gen Mili­tär­staats­an­walt, ist ein popu­lä­res, bis­wei­len popu­lis­ti­sches Sach­buch, in dem er sei­ne Erfah­run­gen und Quel­len­kennt­nis­se aus den KZ-Pro­zes­sen verarbeitete. 

Waren die­se Quel­len in Deutsch­land nicht verfügbar?

Doch, das wäre nicht das Pro­blem gewe­sen. Die Pro­to­kol­le der Nürn­ber­ger Pro­zes­se und der von den Alli­ier­ten durch­ge­führ­ten KZ-Pro­zes­se lagen auch in Deutsch­land vor. Auf die­se Pro­to­kol­le stüt­zen sich auch die drei Bücher, mit denen ich mich beschäf­tigt habe. 

Wur­den denn die bri­ti­schen For­schungs­er­geb­nis­se in Deutsch­land zur Kennt­nis genommen?

In Deutsch­land war man aus­län­di­schen His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­kern gegen­über sehr skep­tisch. Die vor­herr­schen­de Hal­tung war: „Wir Deut­schen ver­ste­hen die Nazis nun mal am bes­ten – wenn jemand dar­über eine Mono­gra­fie schrei­ben kann, dann wir.“ Gleich­zei­tig hat man es aber immer wie­der ver­schleppt und ver­hin­dert – ein fata­ler Dou­ble Bind der Verdrängung. 

Wie kam es dann über­haupt dazu, dass die drei Bücher ins Deut­sche über­setzt wurden?

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Lord Rus­sell of Liver­pool, Autor des Buches „The Scour­ge of the Swastika“ 

Das pas­sier­te, weil es auch in Deutsch­land einen Bedarf an ver­schrift­lich­tem Wis­sen zu den NS-Ver­bre­chen gab. Am fas­zi­nie­rends­ten ist in der Hin­sicht die Geschich­te von Lord Rus­sells The Scour­ge of the Swas­tika, und die hat mit dem kon­kre­ten Hin­ter­grund sei­ner Ent­ste­hung zu tun. Vie­le Bri­ten nah­men die Deut­schen so kurz nach Kriegs­en­de näm­lich nach wie vor als Fein­de wahr – was ver­ständ­lich ist, schließ­lich hat­ten sie ja teil­wei­se trau­ma­ti­sche Kriegs­er­fah­run­gen hin­ter sich! Die offi­zi­el­le Poli­tik in Groß­bri­tan­ni­en steu­er­te aber schon auf die Ein­bin­dung der BRD in den West­block gegen die Sowjet­uni­on zu. Dadurch wur­de Lord Rus­sells Buch, das den Natio­nal­so­zia­lis­mus als ins­ge­samt ver­bre­che­ri­sches Regime cha­rak­te­ri­siert, in regie­rungs­kri­ti­schen, deutsch­land­feind­li­chen Krei­sen Groß­bri­tan­ni­ens dank­bar auf­ge­nom­men. Genau die­ser Aspekt aber war wie­der­um in der DDR anschluss­fä­hig. Der Ver­lag Volk und Welt erkann­te, dass sich das anti­deut­sche Res­sen­ti­ment, das dar­in teil­wei­se trans­por­tiert wur­de, ein­fach auf die Bun­des­re­pu­blik ummün­zen und so als Instru­ment der DDR-Pro­pa­gan­da nut­zen ließ. Des­halb ließ er das Werk von der His­to­ri­ke­rin Ros­wi­tha Czol­lek ins Deut­sche über­set­zen. Der Autor selbst war zwar kon­ser­va­ti­ver Aris­to­krat durch und durch, hat­te aber offen­sicht­lich über­haupt kei­ne Berüh­rungs­ängs­te. Er ließ sich sogar in die DDR ein­la­den und posier­te mit Wal­ter Ulb­richt. So pro­du­zier­ten die unter­schied­li­chen Inter­es­sen Rus­sells, der DDR und der Leu­te beim Ver­lag Volk und Welt eine wich­ti­ge, drin­gend benö­tig­te Res­sour­ce zu den NS-Verbrechen.

Und in Westdeutschland?

Auch da gab es Leu­te, die es als Teil ihrer poli­tisch-publi­zis­ti­schen Auf­ga­be ver­stan­den, die NS-Ver­bre­chen aufs Tapet zu brin­gen. Die meis­ten von ihnen befan­den sich in mar­gi­na­li­sier­ten Posi­tio­nen. Die­je­ni­gen aber, die gewis­se Mög­lich­kei­ten hat­ten, fan­den im Aus­land Anschluss an einen Dis­kurs, der es ermög­lich­te, die­se Taten wirk­lich als Ver­bre­chen zu the­ma­ti­sie­ren. So zum Bei­spiel der Lei­ter der dama­li­gen Bun­des­zen­tra­le für Hei­mat­dienst, Paul Fran­ken, oder der Lei­ter des FU-eige­nen aka­de­mi­schen Ver­lags Otto Hess, auf deren Initia­ti­ve die Über­set­zung von Reit­lin­gers Final Solu­ti­on zurückgeht.

Wel­che Rol­le spiel­ten dabei die Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer? 

Es war für alle Betei­lig­ten ein gro­ßer Kraft­akt, die­sen Dis­kur­sim­port gegen wahn­sin­ni­ge Wider­stän­de zu voll­zie­hen. Das gilt nicht nur für die kon­kre­ten Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, son­dern auch für ihre erwei­ter­ten Netz­wer­ke, die aus die­sen extrem mino­ri­tä­ren anti­na­zis­ti­schen Milieus kamen. Tat­säch­lich haben ja auch zwei der vier Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, mit denen ich mich beschäf­tigt habe, einen Ver­fol­gungs­hin­ter­grund. Wolf­gang Brü­gel, der Über­set­zer von The Final Solu­ti­on, war hoher Beam­ter in der Tsche­cho­slo­wa­kei gewe­sen, ehe er 1939 vor den Nazis floh. Als sude­ten­deut­scher sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Exi­lant in Lon­don hat­te er auch eine sehr kom­ple­xe Sprach­so­zia­li­sa­ti­on. Im Exil konn­te er nicht mehr in der Wei­se Ein­fluss auf den gesell­schaft­li­chen Dis­kurs neh­men, wie er es von frü­her gewohnt war. Aber als The Final Solu­ti­on in Eng­land erschien, hat er sofort gese­hen: Das muss auf Deutsch rauskommen. 

Ging es dabei um die Fak­ten, die das Buch ent­hielt, oder um die grund­sätz­li­che Perspektive?

Es geht immer um bei­des. Mit die­sen drei Büchern wur­de ein Text­be­stand geschaf­fen, der die­se Fak­ten über­haupt in Mono­gra­fien nach­les­bar mach­te. Das war der ers­te Schritt. Rus­sells Buch bei­spiels­wei­se gibt einen Gesamt­über­blick über die gesam­ten NS-Ver­bre­chen – dar­un­ter auch sol­che, die im deut­schen Dis­kurs noch Jahr­zehn­te spä­ter ver­drängt wur­den, wie bei­spiels­wei­se der Mas­sen­mord an etwa drei Mil­lio­nen sowje­ti­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen durch die Wehr­macht. Das war damals alles schon sag­bar und ver­füg­bar als erzähl­te Fak­ten. Aber natür­lich ist das Ent­schei­den­de die Per­spek­ti­ve, die bestimmt, wo man das dis­kur­siv plat­zie­ren kann. 

Im Zwei­fel, ob es dann über­haupt gele­sen wird.

Zunächst mal, ob es ver­öf­fent­lich­bar ist. Das Fas­zi­nie­ren­de an den drei Büchern, mit denen ich mich beschäf­tigt habe, war für mich auch, dass sie – anders als bei­spiels­wei­se Han­nah Are­ndts Buch über Adolf Eich­mann oder die Fern­seh­se­rie Holo­caust – nie Aus­lö­ser von gro­ßen Debat­ten oder gar Umbrü­chen waren. Im Gegen­teil: zwei davon hat­ten, wenn über­haupt, nur eine sehr lang­sa­me, müh­sa­me Wir­kungs­ge­schich­te. Aber dadurch wird natür­lich ihre Ent­ste­hungs­ge­schich­te noch­mal umso inter­es­san­ter. In den 50er Jah­ren gab es auch noch nicht die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung von Lite­ra­tur- bzw. Sach­buch­über­set­zung, die wir heu­te haben. 

Sie haben selbst auch Sach­bü­cher über NS-The­men über­setzt. Hat Ihnen das beim Zugriff auf die­se The­men geholfen?

Ich wäre ohne die eige­ne Berufs­er­fah­rung gar nicht zu die­ser Fra­ge­stel­lung gekom­men. In mei­ner Tätig­keit für ver­schie­de­ne KZ-Gedenk­stät­ten und Ver­la­ge war ich natür­lich die gan­ze Zeit mit sol­chen Fra­gen kon­fron­tiert: Wie struk­tu­riert eine Spra­che einen bestimm­ten Wis­sens­ge­gen­stand vor? Und wie struk­tu­riert die­ser sich auto­ma­tisch neu, wenn die Spra­che wechselt? 

Ihr Buch heißt ja dem­entspre­chend auch „Über­set­zung als Erin­ne­rung“. Inwie­fern hän­gen die zwei zusammen?

Ich hat­te schon seit Jah­ren das Gefühl, dass es eine star­ke struk­tu­rel­le Ähn­lich­keit zwi­schen gesell­schaft­li­cher Erin­ne­rung und Über­set­zung gibt. Bei­des sind Pro­zes­se, die einen Wis­sens­ge­gen­stand über eine Gren­ze trans­por­tie­ren und rekon­tex­tua­li­sie­ren. Eine gesell­schaft­li­che Erin­ne­rung bringt einen Wis­sens­be­stand aus der Ver­gan­gen­heit in die Gegen­wart, dabei kon­tex­tua­li­siert und struk­tu­riert sie ihn neu. Eine Sach­buch­über­set­zung trans­por­tiert einen Wis­sens­be­stand über eine sprach­li­che Gren­ze. Die nar­ra­ti­ve Struk­tur ist hier zwar im Ori­gi­nal schon vor­ge­ge­ben. Aber die Über­set­zung bringt sie in einen neu­en Kon­text und sorgt so für eine Restrukturierung. 

Wie sind die Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, mit denen Sie sich beschäf­tigt haben, in ihrer kon­kre­ten Arbeit mit die­ser sprach­li­chen und kul­tu­rel­len Gren­ze umgegangen?

Man bemerkt in der sprach­li­chen Form der über­setz­ten Pro­duk­te immer ganz stark, wo Gren­zen lagen und wo bestimm­te dis­kur­si­ve Mecha­nis­men grif­fen. Zum Bei­spiel hat­ten die bei­den Mono­gra­fien über die NS-Ver­bre­chen, die Bücher von Reit­lin­ger und Rus­sell, in ihren Über­set­zun­gen von Wolf­gang Brü­gel und Ros­wi­tha Czol­lek jeweils einen stär­ke­ren Gegen­warts­be­zug als im Ori­gi­nal. Die Ori­gi­na­le sind Bücher, die über einen abge­schlos­se­nen Gegen­stand berich­ten – Ver­bre­chen, die zu Ende sind. Für die deut­schen Aus­ga­ben wur­den im Ver­lag Zusatz­in­for­ma­ti­on hin­zu­ge­fügt, die auch meis­tens als sol­che gekenn­zeich­net waren. Bei der Beschrei­bung kon­kre­ter Taten bei­spiels­wei­se die Infor­ma­ti­on, in wel­chem Minis­te­ri­um oder an wel­chem Gericht die Täter nach Kriegs­en­de wei­ter tätig waren. Das ver­än­dert natür­lich in bei­den Büchern auch die Per­spek­ti­ve auf die Ereignisse. 

Und im drit­ten Buch, der Hit­ler-Bio­gra­fie von Alan Bullock?

In die­sem Buch, das auch in der deut­schen Über­set­zung von Wil­helm und Mode­s­te Pfer­de­kamp zu einem abso­lu­ten Best­sel­ler avan­cier­te und sich bis in die 70er Jah­re hin­ein gut ver­kauf­te, gibt es zum The­ma „NS-Ver­bre­chen“ nur ein acht Sei­ten lan­ges Mini­ka­pi­tel. Das ist zwar sehr kon­zi­se und gar nicht mal so weit weg vom heu­ti­gen Wis­sens­stand, im Kon­text des Buches ist es aber mar­gi­nal. Und in der Über­set­zung die­ses Kapi­tels gibt es inter­es­san­ter­wei­se mehr sprach­li­che Auf­fäl­lig­kei­ten, mehr unkor­ri­gier­te Über­set­zungs­feh­ler als im Rest des Buches. Mich ver­lei­tet das zu der Annah­me, dass man mög­li­cher­wei­se ver­sucht hat, die­ses Kapi­tel erst mal ein­fach her­aus­zu­neh­men, und es dann – womög­lich im Kon­flikt mit dem eng­li­schen Ver­lag – rela­tiv schnell wie­der ein­fü­gen muss­te. Es fällt näm­lich zudem sti­lis­tisch, in der Wort­wahl und auch tat­säch­lich in der Qua­li­tät der Bear­bei­tung heraus. 

In Sach­tex­ten dient die Spra­che, anders als bei Roma­nen oder Gedich­ten, ver­meint­lich nur der Ver­mitt­lung von Fak­ten oder von Wis­sen. Aber als Über­set­zer ist man ja dann aber doch auf die Spra­che zurück­ge­wor­fen. Hat man dadurch ein fei­ne­res Gespür dafür, wie die sprach­li­che Form ihren Inhalt beeinflusst?

Abso­lut. Geschich­te ist in der Pra­xis ja immer min­des­tens auch His­to­rio­gra­phie, also das Schrei­ben von Geschich­te. Da kommt es natür­lich dar­auf an, wie geschrie­ben wird. In Alan Bul­locks Hit­ler-Bio­gra­fie steht an einer Stel­le, die Behand­lung der Zivil­be­völ­ke­rung in der besetz­ten Sowjet­uni­on durch die deut­sche Wehr­macht sei „par­ti­cu­lar­ly harsh“ gewe­sen. In der deut­schen Über­set­zung des Pfer­de­kamp-Ehe­paars steht dort das Adjek­tiv „schroff“. Das klingt so, als sei­en die deut­schen Sol­da­ten irgend­wie unhöf­lich gewe­sen. In dem eng­li­schen „harsh“ hin­ge­gen haben das Gna­den­lo­se und die Gewalt schon seman­tisch Platz. Dazu muss man wis­sen: Wil­helm Pfer­de­kamp war Mit­glied der NSDAP und der Reichs­schrift­tums­kam­mer gewe­sen. Ein Über­set­zer mit Ver­fol­gungs­hin­ter­grund hät­te wahr­schein­lich eine ande­re For­mu­lie­rung für „harsh“ gewählt. Über­set­zung ist eben nie nur eine Wie­der­ga­be von Fak­ten. Es ist alles immer nar­ra­tiv struk­tu­riert und mas­siv kon­text­ab­hän­gig. Die­se Sprach­pro­ble­me müss­ten sich eigent­lich immer stel­len, wenn man über Geschich­te oder über His­to­rio­gra­phie spricht. 

Tun sie das nicht?

Nein, im Gegen­teil. Mei­ne Per­spek­ti­ve mobi­li­siert vie­le Abwehr­me­cha­nis­men. His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­kern kommt es oft so vor, als wür­den die „har­ten Fak­ten“ der Geschichts­wis­sen­schaft durch einen eher lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Zugang und durch „Über-Inter­pre­ta­ti­on“ – das ist der Kampf­be­griff, der dann oft fällt – irgend­wie ent­wer­tet. Es gibt eine regel­rech­te Aggres­si­on gegen das Nicht-Ori­gi­na­le und sei­ne zusätz­li­chen Kon­tex­te und Bedeu­tungs­ebe­nen. Und in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft wie­der­um habe ich es erlebt, dass vie­le sich fra­gen, war­um man sich mit längst über­hol­ten Sach­bü­chern aus den 50ern beschäf­ti­gen soll­te, die nie in irgend­ei­nen Kanon ein­ge­gan­gen sind. Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät wird immer auch mit einem gewis­sen Arg­wohn beob­ach­tet, um es mal mild auszudrücken. 

Wel­che Wir­kung hat­ten die von Ihnen unter­such­ten Tex­te denn für die frü­he Erin­ne­rungs­kul­tur in Deutschland?

Eine Über­set­zung, zwei Cover: Links die im DDR-Ver­lag Volk und Welt erschie­ne­ne Erst­aus­ga­be, rechts die Lizenz­aus­ga­be des west­deut­schen Roderberg-Verlags

Auch da muss man unter­schei­den. Bei Bul­locks Hit­ler-Bio­gra­fie haben wir es ja wie gesagt mit einem Best­sel­ler zu tun. Das Ent­schei­den­de dabei war, dass es von vor­ne bis hin­ten den Dis­kurs bedien­te, dem­zu­fol­ge alles Hit­lers Schuld war. Das Fazit von jedem län­ge­ren Kapi­tel lau­tet: „Hit­ler war’s!“ Rus­sells Buch Gei­ßel der Mensch­heit, das nach der erfolg­rei­chen Erst­ver­öf­fent­li­chung in der DDR spä­ter per Lizenz­aus­ga­be auch in der Bun­des­re­pu­blik ver­öf­fent­licht wur­de, hat dort eine sehr gro­ße Bedeu­tung für die Ent­wick­lung der west­deut­schen Gedenk­stät­ten­be­we­gung ent­fal­tet. Es war zum Bei­spiel ein wich­ti­ges Grund­la­gen­werk für die Grup­pen, die sich für eine Eta­blie­rung einer Gedenk­stät­te am Ort des ehe­ma­li­gen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Neu­en­gam­me in Ham­burg stark­ge­macht haben. Und Reit­lin­gers End­lö­sung hat zwar zunächst sehr wenig Nach­hall gehabt. Aber es ist trotz­dem ein abso­lu­tes Pio­nier­werk, qua­si ein Depot, in dem man schon früh sehr viel nach­le­sen konn­te, wenn man eben woll­te. All die­se Ver­su­che hat­ten aber nicht mal ansatz­wei­se den dis­kur­si­ven Erfolg, den man ihnen aus der heu­ti­gen Per­spek­ti­ve eigent­lich zuord­nen wol­len würde. 

Wie bli­cken Sie denn, aus­ge­hend von Ihrer For­schung, auf den wei­te­ren Ver­lauf der soge­nann­ten Erin­ne­rungs­kul­tur in Deutschland? 

Die Erin­ne­rung an den Holo­caust ist durch­ge­hend von Über­set­zun­gen geprägt. Des­we­gen muss man ihre Geschich­te mei­ner Mei­nung nach eigent­lich immer auch als Über­set­zungs­ge­schich­te erzäh­len, gera­de auch als eng­lisch-deut­sche. In den spä­ten 70ern begann bei­spiels­wei­se eine Adap­ti­on einer ame­ri­ka­ni­schen Per­spek­ti­ve, die mit einer star­ken Opfer­iden­ti­fi­ka­ti­on ver­bun­den war. Das hat in Deutsch­land wahn­sin­nig vie­le Tabus auf­ge­löst und vie­les sag­bar gemacht, aber natür­lich auch dazu geführt, dass man sich der eige­nen Fami­li­en­ge­schich­te nicht stel­len muss­te, in der die Lini­en mög­li­cher­wei­se direkt zu den Tätern geführt hät­ten. Viel­leicht setzt die­se For­schungs­rich­tung, also die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus als Fami­li­en­ge­schich­te, gera­de des­halb so zag­haft ein, weil sie rela­tiv wenig auf Über­set­zun­gen rekur­rie­ren müss­te. Sol­che Zusam­men­hän­ge wer­den eben erst deut­lich, wenn man Über­set­zun­gen als eigen­stän­di­ge kul­tu­rel­le Pro­duk­te begreift. In der Hin­sicht gibt es noch ohne Ende offe­ne Fragen.


Georg Felix Harsch

Georg Felix Harsch ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter der Quel­len­edi­ti­on The Per­se­cu­ti­on and Mur­der of the Euro­pean Jews by Nazi Ger­ma­ny, 1933–1945 am Leib­niz Insti­tut für Zeit­ge­schich­te Mün­chen-Ber­lin. Vor­her war er lan­ge Jah­re frei­er Über­set­zer, Dol­met­scher, Unter­tit­ler, Film­ku­ra­tor und Gedenk­stät­ten­päd­ago­ge. (Foto: Ste­fan Volk)


Über­set­zung als Erinnerung

Sach­buch-Über­set­zun­gen im deut­schen Dis­kurs um NS-Ver­bre­chen in den 1950er-Jah­ren

transcript 2021 ⋅ 257 Sei­ten ⋅ 40 Euro 


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