Den amerikanischen Schriftsteller Joshua Cohen kennt man im deutschen Sprachraum als Ghostwriter von Edward Snowdens Permanent Record: Meine Geschichte (übersetzt von Kay Greiners) und als Autor des Romans Buch der Zahlen (übersetzt von Robin Detje), in dem er auslotet, wie sich Literatur im digitalen Zeitalter verändert. Schon seine Erzählungen Vier neue Nachrichten (übersetzt von mir) untersuchten die Auswirkungen sozialer Medien auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.
Neben diesen literarischen Texten entstanden Reportagen über gesellschaftliche und politische Themen, unter anderem eine furiose Spontanreaktion auf das Wahlergebnis, die er noch in der Wahlnacht schrieb, die schon am 11. November 2016 in der FAZ erschien, die bis zu den Gründervätern ausholte, um zu erklären, welch ein Schlag der amerikanischen Demokratie gerade versetzt worden war, und die mit den Worten endete: „Heute, am 9. November 2016, jährt sich die ‚Kristallnacht‘, jenes Ereignis, das meine Großmutter dazu gebracht hat, Deutschland zu verlassen und nach Amerika zu gehen.“
Diese Verklammerung von Kataklysmen in Geschichte und Gegenwart schlägt den Bogen zu Cohens ersten großen Romanen, denn vor den literarischen Beschäftigungen mit dem Computerzeitalter veröffentlichte er im Jahr 2007 Cadenza for the Schneidermann Violin Concerto und im Jahr 2010 Witz. Beide Romane beschäftigen sich mit dem Judentum und dem Holocaust im 20. Jahrhundert.
Witz erzählt in bösartig satirischer Form, wie ab Weihnachten 1999 nach und nach alle Juden der Welt auf rätselhafte Weise ums Leben kommen. Die jüdischen Erstgeborenen, die am längsten überleben, werden ausgerechnet auf Ellis Island unter Quarantäne gestellt, der Insel des amerikanischen Traums, über die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts Millionen jüdischer Immigranten in die USA kamen. Der einzige Überlebende der nicht näher erklärten Seuche ist der Agnostiker Benjamin Israelien, der zum unfreiwilligen Messias eines Neojudentums aufgebaut wird. Er zieht in New York ein wie Jesus in Jerusalem und gibt auf den Konzertbühnen von Las Vegas den Messias, bis er die Mechanismen des Showbusiness nicht mehr aushält und vor seinen Anhängern und Managern flieht. Das Neojudentum breitet sich derweil über die ganze Welt aus und bringt Konvertierungsverweigerer in polnischen Lagern mit Namen wie Wasimmerwitz um.
Literarisch auffällig ist an Witz, dass der Holocaust nicht nur als Stoff erzählt, sondern auch formal nachvollzogen wird. Der Zivilisationsbruch findet seine Entsprechung in der Brüchigkeit der Sprache, die an der herkömmlichen Aufgabe des Erzählens scheitert, die darzustellende Welt plastisch vor Augen zu führen. Die Leserin ist nicht mehr imstande, vor einer unlesbar gewordenen Welt „den Vorhang der Buchstaben aufzuziehen“, wie Aleida Assmann in einem Aufsatz zur wilden Semiose schrieb.
Joshua Cohen gelingt ein irritierender Spagat: Einerseits ist er ein Trümmergrammatiker, der Karl Kraus’ „altem Haus der Sprache“ mit der Abrissbirne zu Leibe rückt. Andererseits lauscht er dem Versagen der Vernunft angesichts des Genozids paradoxerweise einen Wohlklang der Worte ab. Die eigentümlich schillernde, phantastisch verdichtete und zu rhetorischen Exzessen gesteigerte Schönheit seiner Prosa erfüllt eine Prophezeiung, die Hans Blumenberg 1966 für die Weiterentwicklung avantgardistischer Literatur nach der Moderne abgab. Er erwartete eine Literatursprache, „deren Metaphern sich gegenseitig stören und aufheben, in der die angesetzten Bilder nicht aufgehen, die keine beruhigende Interpretation ihrer Syntax zulässt, in der die Herkunftsorte mythischer Anspielungen ständig und ohne Hilfen wechseln“.
In Witz wechseln nicht nur die Herkunftsorte von Anspielungen, sondern auch die Orte der Handlung und die Chronologie der Ereignisse halten sich nicht mehr an die aristotelischen Einheiten. Ein Vergleich mit der bildenden Kunst veranschaulicht das: Francis Bacon malte das „Portrait of George Dyer Riding a Bicycle“ im Jahr 1966 so, wie Joshua Cohen schreibt. Ein Fahrrad hat nicht vier Reifen. Aber Bacon konnte sie malen. Ein Mensch kann nicht gleichzeitig auf Ellis Island und in Polen sein. Aber Cohen kann das schreiben. Er kann Sätze schreiben, die ohne Substantive oder Verben auskommen. Er kann Wortgrenzen verlegen und damit neue Bedeutungen erzeugen. In dem Satz „Junk juts up from pilings midstreet, mounds of sooty clump, dark humps of tar macled with ice in glittery brilliance“ tauchen „Teerbuckel“ auf (humps of tar), aber tarmacled (ohne Leerzeichen) bedeutet „asphaltiert“, und in der Übersetzung habe ich mich, um das nachzuahmen, bei Arno Schmidts orthographischen Verfremdungstechniken bedient: “Mitten auf den Straßen häuft sich der Müll, Hügel aus rußigen Batzen, blass phalten sich Teerrassen von kristallinem Eisglanz auf.”
In den wuchernden, überschießenden Bedeutungsproduktionen wilder Semiosen werden „die Grundpfeiler der etablierten Zeichenordnung zum Einsturz“ gebracht (Assmann). In Witz werden Wörter und Sätze, Figuren, Bilder und Szenen mit enzyklopädischen Anspielungen angereichert (und tendenziell überfrachtet), was mich als Übersetzer dazu anhält, immer neue Wissensgebiete zu erkunden. Ich habe in den letzten Jahren Probebohrungen in jüdischer und jiddischer Literatur unternommen (von Scholem Alejchem bis zu Imre Kertész und von Isaac Bashevis Singer bis zu Thomas Meyer), in politischer Philosophie (Hannah Arendt und Hans Blumenberg), Religionsgeschichte (Gershom Scholem), Realgeschichte (Enzyklopädie des Holocaust) und Jiddisch-Wörterbüchern. Nötig wurden ausserdem alltagskulturelle Orientierungen bis hin zu jüdischen Kochbüchern und koscheren Supermarktprodukten.
Ein Beispiel zur Illustration, wie unscheinbare Details plötzlich biblische und literaturgeschichtliche Ebenen offenbaren können: Bens Mutter Hanna geht duschen. Bei der Schilderung ihres Badezimmers wird über fünfzehn Zeilen aufgelistet, welche Shampoos, Seifen, Lotionen und Weichspüler auf den Duschablagen stehen, darunter auch „Stakte, Balsam und Galbanum“. Diese Stoffe braucht man laut 2. Mose 30.34–36 für die Herstellung von Weihrauch, ohne jede Vorankündigung wird der Leser aus der Alltagsszene in New Jersey also ins vorchristliche Kanaan versetzt. (Weihrauch und Myrrhe brachten laut Matthäus 2.11 auch die Sterndeuter in den Stall von Bethlehem mit; vielleicht haben die Heiligen Drei Könige also auch schon bei Ben vorbeigeschaut, und die praktisch veranlagte Hanna hat ihre Mitbringsel gleich ins Bad gelegt.)
Die Verweise einer solchen Aufzählung reichen aber weiter. Der mit allen Wassern der Literaturwissenschaft gewaschene Joshua Cohen lädt die Leserin augenzwinkernd in ein Möbelhaus der Intertextualität ein. Seine Duschkabine steht neben Leopold Blooms Buffet in der „Ithaca“-Passage von Joyces Ulysses, Mrs. Glass’ Medizinschrank in Salingers Erzählung „Zooey“ und Tyrone Slothrops Schreibtisch in Pynchons Gravity’s Rainbow. Die Modernisten Joyce und Salinger entwarfen anhand von Haushaltsartikeln noch Panoramen der Bürgerlichkeit, der ironische Postmodernist Pynchon reduzierte alle Ordnungsprinzipien auf das der Grösse (nur Radiergummiabrieb sintert durch alle Schichten bis zur Schreibtischplatte durch), und Cohen weitet den Anspielungsraum programmatisch ins Historisch-Religiöse aus. Mit Blumenberg resümiere ich seufzend: „Wo hier die Grenze der Zumutungen liegt, die dem ästhetisch rezeptiven Bewusstsein gestellt werden können, lässt sich wohl kaum bestimmen.“
Programmatisch ist dieses Erzählverfahren, weil Cohen bewusst jüdische Geistes- und Kulturgeschichte wieder ins allgemeine Bewusstsein einspeist. Das bringt mich zu einer der grössten übersetzerischen Herausforderungen von Witz. Der Roman ist gespickt mit Wörtern und Wendungen aus dem amerikanischen Jiddisch. Übersetze ich diese in das früher im mitteleuropäischen Judentum gesprochene Jiddisch, sehen sie manchmal aus wie deutsche Wörter und Wendungen, haben aber andere Bedeutungen. „Dreck“ bezeichnet keinen simplen Schmutz, sondern Kot. Ein „Kittel“ ist keine Arbeitskleidung, sondern ein talarähnliches Leinengewand, das gläubige Juden an hohen Feiertagen tragen.
Welche Folgen hat diese Nichtidentität des scheinbar Identischen? Was geschieht, wenn ein amerikanischer Autor Wörter verwendet, die Deutsche für Deutsch halten, obwohl sie Jiddisch sind? Wie mache ich etwas, das amerikanischen Leserinnen unbekannt ist, deutschen Lesern aber zu Unrecht vertraut vorkäme, wieder fremd? Manchmal genügen orthographische Abweichungen; der „Kittel“ taucht in deutschen Jiddischwörterbüchern als „Kitel“ auf. Manchmal kann ich auf Synonyme ausweichen und für „Dreck“ „Zoje“ („Kacke“) schreiben.
Manchmal mache ich größere Umwege, auch weil Cohens unbändige Lust am Wortspiel sich nicht auf zwei Sprachen beschränkt und ich dann ebenfalls zwischen Französisch, Englisch und Deutsch im Dreieck springen kann: Eine Gruppe von Konvertierungsverweigerern wird in den sicheren Tod geschickt und mit einem französisch-deutschen Mischmasch verabschiedet, in dem Segen und Fluch verschmelzen: „Bone voyage … Blind Wiedersehn“. Die Floskeln müssen in der Übersetzung als solche erkennbar sein, ich kann sie aber in andere französische Wendungen weiter- bzw. ins Englische zurückübersetzen, um die Mehrsprachigkeit des Originals zu rekonstruieren, und so steht im deutschen Text jetzt „Have a good tripper … Non revoir“.
Diese Beispiele machen hoffentlich klar, warum auch das Übersetzen eines Holocaust-Romans Spass machen kann. Wenn Cohen seine Prosa mit Kalauern, Alliterationen, Persiflagen auf geflügelte Worte, Neologismen usw. usf. bis zur Übersättigung anreichert, geht es um rhetorische Reizüberflutung und Geschwindigkeit, „es soll ein Strom, eine Sturzflut werden“, wie er in einer Mail schrieb. Um diesen Effekt im Deutschen nachzuahmen, schiebe ich die Grenzen dessen, was freies Übersetzen bedeutet, immer weiter hinaus, schöpfe die kreativen Möglichkeiten des Deutschen aus und erfinde beispielsweise Komposita wie „gewissensbissfest“ oder „Psychopatenonkel“, mache aus dem „HErrn der Heerscharen“ ein „Heer der Haarscheren”, und wenn mal ein echtes Homonym gelingt („eine Mesusa [die Schriftrollenkapsel an jüdischen Wohnungstüren] ist ein Wunder, das bei jedem Vorbeigehen begriffen werden muss“), ist das eine kleine Sternstunde des Übersetzens.
Dieser Text erschien in leicht gekürzter Form zuerst am 18. Juli 2020 in der NZZ. Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Autors.