Am 17. März werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten mit Übersetzungsbezug vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Don’t judge a book by its cover. Aber wenn das Cover schön gestaltet ist, verdient es ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit. Und wenn man dann noch nach dem Lesen des ersten Eintrags „Aus dem Logbuch für Etymologischen Gossip“ bemerkt, dass die Grafik des Covers die genaue optische Nachbildung dieser Zeilen ist, schärft es die Sinne, ruft den Geist wach und bereitet auf eine gleichermaßen tiefgründige wie verspielte Lektüre vor:
Form hilft dem Denken, sich zu erinnern. Es stellt sich heraus, dass das Wort „stringent“ an eine Schnur erinnert, auf der sich das Denken in einzelnen Kugeln aufreiht. Alle anderen Etymologien lügen. Der Abstand zwischen den Kugeln kann sehr groß sein, damit das Denken Zeit hat, sich zu vergessen. Jede Kugel, die auch ein Kasten sein kann, ein Kästchen, ein Kätzchen, wiedererinnert sich anders als die vorhergehende. Nur so bleibt das Denken dringend. Die vielen Sprachen verhelfen der Form zu ihrem Schnursein, ihrem Schnurren.
Vielleicht ist es dann auch kein Zufall, dass analog zu den fünf Kugeln des Covers die Essays und Reden im vorliegenden Band Etymologischer Gossip in fünf Sektionen gegliedert sind. So hat die Übersetzerin Uljana Wolf, die in ihrer Heimatstadt Berlin und in Krakau Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaften studiert hat, ihre insgesamt 24 Texte nicht chronologisch (2007 bis 2020), sondern thematisch gruppiert und führt uns über diese fünf Felder durch ihre Art zu arbeiten, zu hören, zu sehen, zu denken, zu leben. Die zitierten ersten Zeilen sind Zusammenfassung und Ausblick in einem, das Cover ist ein Ausschnitt der Landkarte ihres geistigen Raumes. In diesem geistigen Raum offenbart sich ein Denken, das eben wie eine Schnur ist, so stringent und flexibel, so verlässlich-richtungsweisend und unsicher-biegsam zugleich. Ihre in den Essays und Reden erkennbare Haltung, die aus der Art zu arbeiten, also zu übersetzen und zu dichten, spricht und sich wiederum aus dieser Arbeit speist, ist geprägt von Offenheit und einer Abkehr von Grenzen, Schranken, Rigidität.
Da Uljana Wolf nicht nur Übersetzerin, sondern auch sehr erfolgreiche Lyrikerin ist (Peter-Huchel-Preis 2006 für kochanie ich habe brot gekauft), setzt sie sich in ihren Texten immer wieder mit poetischen Techniken und Eigenheiten der Lyrik auseinander. So versammelt sie in ihrem Vortrag „Wovon wir reden, wenn wir von mehrsprachiger Lyrik reden“ Beobachtungen, die zeigen, dass ein mehrsprachiges Gedicht nicht zwangsläufig ein translinguales Gedicht ist und umgekehrt. Und dass der Mehrsprachigkeit durchaus ein einsprachiges Denken zugrunde liegen bzw. ein einsprachiges Gedicht durch mehrsprachiges Denken charakterisiert sein könnte. Diese Beobachtungen sind der Ausgangspunkt für eine Analyse der Berliner Realität, in der sich nicht nur verschiedenste Sprachen, sondern auch Sprachkompetenzen treffen – „von fließender Mehrsprachigkeit über Holpern der Lernsprachen zu Kiez-Kreol oder fröhlich brokener Literatursprache“. Ihre weiteren Ausführungen münden in einem „Nachdenken über translinguale Lyrik“, das eine Art Essenz darstellt, in der sich die Grundannahmen zu Sprache allgemein als Grundlage für das Dichten und das Nachdichten, also Übersetzen wiederfinden. Hier widerspricht Uljana Wolf der Überzeugung, dass man sich für die Zugehörigkeit zu einer Muttersprache entscheiden muss. Eine Überzeugung, die Schleiermacher in seiner berühmten Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens von 1813, vertritt und die sie zur Disposition stellt:
Die poetische Verstörung der Muttersprache oder Einzelsprache und der damit verknüpften Identitätsdiskurse kann auch von vordergründig einsprachigen Autor*innen ausgehen. Sie ist ein ästhetisches, kein biographisches Moment. Sie hält fest, was nicht festzuhalten ist: Dass die eigene Sprache nicht beherrscht werden kann, ein Ort der Unzugehörigkeit und Ungehörigkeit bleibt.
In der Vorstellungsrede „Vom Grundrecht gondelnder Wolken“ für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied sie seit 2017 ist, stellt Uljana Wolf ihre Erfindung vor:
Meine Damen und Herren, ich habe mal eine Form erfunden, die ich Guessay nannte, eine Art Unterbietung des Essays in seinem Versuch, ein Versuch zu sein. Den ersten schrieb ich 2007 in New York als Begleittext für die gemeinsam mit Steffen Popp übersetzten Gedichte von Christian Hawkey. Wer das englische Verb „to guess“ nachschlägt, darf, geleitet vom mittelenglischen „gessen“, irgendwo zwischen „schätzen“ und „zielen“ Platz nehmen und wird unterrichtet, das Präteritum „guessed“ nicht mit seinem Homonym „guest“, der Gast, zu verwechseln. Gerade in dieser Verwechslung aber scheinen sich meine Texte seit Jahren einzurichten wie im Gondel‑G des Guessays, einer Seilbahn, die sie Formen, Sprachen und Ländern als Gast zuträgt, was ungefähr hieße, nie ganz gehalten und zugleich im Anderen überall empathisch und potenziell mitenthalten zu sein. Als wäre die Möglichkeit, jenes und zugleich ein Anderes zu sein, ein Grundrecht, das ich nicht nur im Übersetzen – im Dichten mit Zielsprache –, sondern auch im Dichten – im Übersetzen ohne gesicherte Zielsprache – zu praktizieren versuche.
Das Guessay „schätzt“ bescheiden und drückt dabei eine Unsicherheit aus, die von Behutsamkeit zeugt, nicht von Unvermögen. Auch hier zeigt sich Wolfs Arbeitsweise und generelle Haltung, die ohne den Duktus erhabener Gewissheit auskommt.
Direkt im Anschluss an die im Band veröffentlichte Vorstellungsrede findet die Leserschaft das erste Guessay „Landschaft, Luftburg, Gedicht. Ein Guessay zum Übersetzen von Christian Hawkey“, in dem Uljana Wolf den Vorgang des Übersetzens an einem Bild deutlich macht, dem Hüpfen in einer Hüpfburg:
Man ließ sich fallen, prallte ab, man wurde in eine unerwartete Position zurückgeworfen. Mit jedem Sprung veränderte sich der Raum, mit jedem neuen Aufprall veränderte sich das Raumempfinden des Springers. Die Landschaft knuffte unvorhersehbar zurück. Das „Bounce House“ war im Grunde ein Gedicht.
Anhand des Hüpfburg-Bildes verdeutlicht Wolf ihren Arbeitsprozess. Hierbei spricht sie vom „dreifachen Fallenlassen“ und meint damit im ersten Schritt die „Hingabe ans Gedicht“. Das sich fallen lassen und Hüpfen in der Hüpfburg mit all den dazugehörigen Bewegungsabläufen. Hierbei sollte das Aussehen, im Sinne einer perfekten Leistung oder Schönheit, in den Hintergrund treten. Im Anschluss sei dann mit „Klasse und Gelassenheit“ zu akzeptieren, dass nicht alles wieder auf „seinem angestammten Platz landen wird“:
…, dass man beim Wirbeln in der Luftburg einer sehr merkwürdigen Sprache begegnet. Es ist dies aber nicht die fremd geglaubte (in der man ja, wenn es gut geht, auch schon ein bisschen gewohnt, geliebt, gelogen, sich also eingesprungen hat), sondern die eigene, von der man sehr aufregende Dinge erfährt. Zum Beispiel, dass sie elastisch in einer Luftburg namens „German House“ wohnt, die sich rasch und eigenmächtig mit ihrer Landschaft im Zimmer auffaltet und dort ein neues Gedicht hervorbringt.
Ein essayistischer Ausflug in die Ornithologie macht uns mit dem Emlen-Trichter vertraut. Es handelt sich hierbei um eine Erfindung aus den 1960er Jahren zur Bestimmung der Zugrichtung von in einem Trichter gefangenen Zugvögeln während der Zugunruhe. Dieser Trichter ist mit Tipp-Ex-Papier ausgelegt, so dass die die Vögel beim Versuch, aus dem Käfig zu entkommen, Kratzspuren auf dem Papier hinterlassen. Diese Kratzspuren geben Auskunft über die Orientierungsrichtung und Aktivitätszunahme in den Tagen vor Beginn ihres Vogelzugs. Wie mit dem Bild der Hüpfburg veranschaulicht Uljana Wolf auch hier mit dem Emlen-Trichter ganz plastisch und poetisch zugleich die Dynamiken des Übersetzens:
Hat nicht jeder Text eine Zugunruhe, so scheinbar fest installiert auf seiner Seite? Und wer die Zeichen und den weißen Raum darum entziffert, öffnet Käfige? Jegliche Weltflugrichtung. Wiederholungen, an der Seite, Wand, auch gegen den Strich, gegen die Vorzugsrichtung. Wo hast du dich zum ersten Mal verlesen, vertippt? Mit der Schreibmaschine denselben Weg noch einmal, in der Fehlerfährte, das Pulver des Korrekturbogens muss genau auf der Linie des falschen Buchstabens liegen, fliegen. Die Fährte zieht eine andere Spur.
Und so begibt sich Uljana Wolf immer wieder in die Luftburg, begleitet von „falschen Freunden“ der Zugunruhe des Gedichts nachgebend, und träumt:
… davon, das Ideal einer sauberen, reinen usw. Übersetzung hinter mir zu lassen und stattdessen dort, wo gar nichts mehr und alles geht, mit einer „Unreinheit“ zu spielen, die in meinen Gedichten schon länger um sich greift. Dirty Bird Translation. Translantisches. Eine Unreinheit, die nicht so sehr auf Nichtkönnen beruht (denn können muss man, um die besseren Fehler zu machen), sondern auf Nichttrennenkönnen. Die Lust, das fremde Material in der Zielsprache poetisch wirksam werden zu lassen, wie ein sanftes Gift/gift.
Diese Freimütigkeit ist es vielleicht, die Uljana Wolf dazu animiert, auch in weniger üblichen Sprachrichtungen und ‑konstellationen zu übersetzen. So wird mehrheitlich aus der erlernten Fremdsprache in die eigene Muttersprache übertragen. Zusammen mit Christian Hawkey hat sie jedoch Ilse Aichingers Schlechte Wörter ins Englische übersetzt, gleichwohl die englische Sprache nicht ihre Muttersprache ist. Das Konzept der Muttersprache wird hier von ihr ganz praktisch hinterfragt, wenn nicht gar widerlegt. Die Bedeutung des Störfalls, der Fremdheit und Unzugehörigkeit rückt bei ihrer Arbeit ins Zentrum der Betrachtung, in der „der Fehler als poetischer Zünder“ eine ganz neue Wertigkeit erhält.
Diese Offenheit und geistige Flexibilität zeigt sich auch in Übersetzungsprojekten aus Sprachen, die Uljana Wolf nicht beherrscht – wie zum Beispiel das Belarussische – und bei denen sie auf Interlinearübersetzungen anderer zurückgreift. Diesem (Interlinear-)Übersetzen und ihrer Beziehung zum Belarussischen ist ein ganz eigener Text gewidmet, sowohl thematisch als auch stilistisch. In „Nachrichten aus einem Bienenstock. Zum Übersetzen belarussischer Lyrik“ behält Uljana Wolf über drei Seiten weitgehend dieselbe Satzstruktur „Meine Beziehung zum Belarussischen …“ bei und lässt in ihr die Vielschichtigkeit und das alles Durchdringende beim Umgang mit mehreren Sprachen plastisch werden:
Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Schlafwagen mit kaputtem Samowar. Kranlicht in der Nacht, Echos in Fabrikhallen. An der Grenze bekommt meine Beziehung zum Belarussischen ein neues Fahrwerk … Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Mitbringsel. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Spaziergang mit Volha Hapeyeva, bei dem wir Deutsch und Englisch sprechen. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Pralinenladen auf der Prachtstraße im wintrigen Minsk, in den mich Volha Hapeyeva mitnimmt …
Und an anderer Stelle sticht erneut Wolfs Ablehnung von Konformismus und Herrschaft hervor:
Meine Beziehung zum Belarussischen ist das Gegenteil von Apparat. Meine Beziehung zum Belarussischen wehrt sich gegen Bürokratie. Meine Beziehung zum Belarussischen wehrt sich, mit ihrer grenzüberschreitenden Arbeit gegen einen „Generalissimus“, der vorschreiben will, wie Pralinen zu heißen haben, in welcher Sprache man sie isst, wer sie ist, wer schweigen muss.
Uljana Wolfs Konzepte der Unsicherheit als kreativer Motor, Ungewissheit als schöpferische Freiheit, eben „dem Fehler als poetischer Zünder“ zeugen von einer Sicherheit und Gewissheit, die ihre Wurzeln in dem Vertrauen in sich und den Prozess und die Akzeptanz des Unperfekten zu haben scheinen und die es ihr erlauben, auch mal eine ganz und gar komische Figur in der Luftburg zu machen.
Wolf will weg von einer rigiden, dogmatischen, hin zu einer fluiden, offenen Arbeits- und Denkweise, die den binären Holzhammer richtig/falsch beiseitelässt, welcher allzu häufig kreative Lebendigkeit erschlägt. An die Stelle der Angst davor, Fehler zu machen, dürfte dann die Spiel- und Entdeckerlust treten, die sich weder von intellektuellen noch physischen Grenzen einhegen lässt.
So wird Uljana Wolfs Sicht auf die Literatur, die Lyrik, das Übersetzen auch politisch und kann als Plädoyer für eine polyglotte Lebensart gelesen werden, in der Sprache nicht als Instrument der Ausgrenzung und Abwertung benutzt wird, sondern als verbindendes Element, das man sich zu Nutze macht, mit dem man spielt und das man in seiner Verwendung immer wieder neu auslotet.
Im gesamten Band erscheinen Namen, Konzepte und Inhalte aktueller gesellschaftlicher Debatten, denen es nachzuspüren lohnt. Die Essays verästeln sich fortschreitend thematisch und können sehr gut als Ausgangspunkt für weitere Recherchen genutzt werden. Zu den Schlagworten Übersetzen von Lyrik, translinguale Poesie, Erasure-Poetry, Deterritorialisierung oder Identität findet man gleichermaßen informative wie inspirierende Abhandlungen. Zu Künstlerinnen wie Ilse Aichinger (ihr sind drei Essays gewidmet), Else Lasker-Schüler, Dagmara Kraus, Theresa Hak Kyung Cha oder Yoko Tawada führt sie ihre (Arbeits-) Beziehungen und Prägungen aus und schafft es in all ihren Texten, nicht nur ihre eigene beeindruckende Sprachsensibilität zu veranschaulichen, sondern diese auch in ihrer Leserschaft zu wecken, erneut zu schärfen und zu verfeinern. Die Lektüre muss man sich durchaus erarbeiten, wird dann aber mit einem deutlichen Zugewinn an Wissen und vor allem einer spürbaren Aktivierung des eigenen sprachlichen Feingefühls, sogar der eigenen Empathie, entlohnt. So lassen sich diese Texte sicherlich immer wieder lesen und erleben, wann immer man sich von sprachlicher Abstumpfung bedroht fühlt oder einem der Sinn nach geistiger Akrobatik steht.
Die Jurybegründung
Etymologischer Gossip lässt sich als intellektuelle Autobiographie lesen. Uljana Wolf führt mit diesem vor Esprit funkelndem Buch aber vor allem in die Fragen von Ethik und Poetik der Übersetzung ein – und sensibilisiert für deren gesellschaftspolitische Relevanz.