
Es gibt etwa 7000 Sprachen auf der Welt, doch nur ein winziger Bruchteil davon wird ins Deutsche übersetzt. Wir interviewen Menschen, die Meisterwerke aus unterrepräsentierten und ungewöhnlichen Sprachen übersetzen und uns so Zugang zu wenig erkundeten Welten verschaffen. Alle Beiträge der Rubrik findet ihr hier.
Wie haben Sie Ukrainisch gelernt?
Von 2000 bis 2005 habe ich in Kyjiw gelebt und an der dortigen Technischen Universität Übersetzen gelehrt. Zunächst arbeitete ich in meinen Lehrveranstaltungen ausschließlich mit dem Sprachenpaar Russisch-Deutsch. Im zweiten Jahr meines Aufenthalts begann ich – angeregt durch einen vom Goethe-Institut organisierten Workshop zur Dramen-Übersetzung – mit einer Privatlehrerin Ukrainisch zu lernen. Zu dieser Zeit wurde in Kyjiw noch überwiegend Russisch gesprochen, sodass ich, obwohl ich in der ukrainischen Hauptstadt lebte, paradoxerweise wenig Sprachpraxis hatte. In der Dissidenten- und Literaturszene, in die mich der Celan- und Herta-Müller-Übersetzer Mark Belorusez einführte, wurde eine unideologische Zweisprachigkeit gepflegt, die in angenehmer Weise an die Mehrsprachigkeit der Region im frühen 20. Jahrhundert erinnerte.
Wie sieht die ukrainische Literaturszene aus?
Wie viele postsowjetische Länder hatte auch die Ukraine in den 1990er Jahren mit den Folgen des Systemwechsels zu kämpfen, der nicht nur zu einer schweren Wirtschaftskrise führte, sondern auch die Etablierung neuer Institutionen erforderlich machte. Da die Literatur – wie viele andere Bereiche der Kultur – vielfach nicht ohne finanzielle Unterstützung auskommt, die der Staat in den ersten fünfzehn Jahren der Unabhängigkeit so gut wie gar nicht geleistet hat, entwickelte sich die Literaturszene nach 1991 zunächst nur schleppend. Es gab nur einige wenige Verlage, einige wenige Akteur*innen und außerhalb von Kyjiw und Lwiw (Lemberg) kaum nennenswerte literarische Veranstaltungen. Mit dem nach 2000 einsetzenden Aufschwung in der Wirtschaft und in der Zivilgesellschaft und der Schaffung neuer Institutionen nach der Euromaidan-Revolution 2013/14, wie zum Beispiel dem Ukrainischen Buchinstitut, änderte sich die Lage allmählich.1
Es tauchen neue Akteur*innen auf, die mit ihren Initiativen an neue Orte ziehen, nach Charkiw, Riwne, Odessa, Tscherniwzi (Czernowitz) und dort das literarische Leben bereichern. So bietet man neben Schreibwerkstätten auch Literatursommerschulen an, es gibt Lesereisen und große Festivals, zum Beispiel das Literaturfestival in Odessa oder das Poesiefestival Meridian Czernowitz. Zu den neueren Festivals gehört auch Translatorium, ein Festival für literarisches Übersetzen, das junge, engagierte Übersetzer*innen 2017 gegründet haben und das jährlich im Herbst in Chmelnyzkyj stattfindet. Ziel ist es, den Austausch über das literarische Übersetzen anzuregen und insbesondere auch Studierenden einen aktuellen Zugang zur Kunst des Übersetzens zu verschaffen. Die Organisator*innen verstehen also Translatorium auch als einen alternativen Bildungsort.
Bedingt durch die Euromaidan-Revolution, die anschließende Annexion der Krim durch Russland und den Krieg im Donbass bestimmten seit 2014 Themen wie Identität, Zugehörigkeit und das neue nationale Selbstbild die literarischen Debatten und Texte. Zu den wichtigen Stimmen gehören hier Juri Andruchowytsch, Andrej Kurkow, Serhij Zhadan und Oxana Zabuschko, unter den jüngeren vor allem Tanja Maljartschuk, Sofija Andruchowytsch, Oxana Luzyschyna und Haska Schyjan. Jenseits davon existiert eine breite Palette von Unterhaltungsliteratur, die von Reiseberichten und Technothrillern (Maxym Kidruk) über ironische Kriminalromane (Jewhenija Kononenko) bis hin zu futuristischen Antiutopien (Oleh Schynkarenko) reicht.
Die ukrainische Gegenwartsliteratur hat eine breite Lyrikszene – Lyrik wird viel und gern geschrieben und gelesen und genauso gern rezitiert und performt. Zu den wichtigsten poetischen Stimmen der Gegenwart gehören unter anderem Serhij Zhadan, der neben seinen Romanen und Essays auch Gedichte verfasst, Halyna Kruk, Ostap Slyvynsky, Ljubow Yakymtschuk, deren Gedichtband Die Aprikosen des Donbass den Leser*innen die (post)industrielle Welt des Donbass nahebringt, und Marianna Kijanowska, die mit dem Band Stimmen eine viel beachtete Auseinandersetzung mit dem Massaker an der jüdischen Bevölkerung in Babyn Jar im Jahr 1941 vorgelegt hat.
Die Literaturszene in der Ukraine ist eng mit anderen Bereichen des künstlerischen Schaffens verbunden. Die ukrainischen Autor*innen sind experimentierfreudig und aufgeschlossen für neue Präsentationsformate. Viele von ihnen schreiben nicht nur, sondern sind auch in Bands aktiv oder treten in cross-over-Formaten auf, wie zum Beispiel Serhij Zhadan mit seinem Projekt Rozdilovi, das Lyrik, grafic recording, Musik und Übersetzung in einer Performance vereint.
Wie in allen anderen europäischen Ländern spielen die literarischen Veranstaltungen als Orte des Präsentierens, des Zusammenkommens und des Austausches auch in der Ukraine eine wichtige Rolle. Aufgrund der geringen finanziellen Ressourcen gibt es allerdings keine Literaturhäuser oder ähnliche Einrichtungen, in denen Literatur dem Publikum mit einem festen, kontinuierlichen Programm präsentiert wird. Zumeist werden Lesungen und andere Events ehrenamtlich organisiert, was sich auf die Qualität der Werbung und Vermarktung negativ auswirkt. Auch lassen sich deswegen weder Veranstaltungsreihen aufbauen und noch ein dauerhaftes Publikum gewinnen. Zu den wichtigsten Akteur*innen und Veranstalter*innen gehören die zwei landesweit größten Buchmessen in Kyjiw und Lwiw.
Ein wichtiger Meilenstein für die institutionelle Unterstützung der ukrainischen Literatur war die Gründung des Ukrainischen Buchinstituts im Jahr 2016. Die staatliche Einrichtung legt Förderprogramme für öffentliche Einrichtungen auf, unterstützt die öffentlichen Bibliotheken bei der Erweiterung ihrer Bestände, fördert den Ausbau digitaler Bibliotheken und schreibt jährlich Förderungen für Übersetzungen aus dem Ukrainischen und ins Ukrainische aus. Durch diese Förderung konnten in den Jahren 2020 und 2021 bereits etliche Titel ukrainischer Autor*innen auch auf Deutsch erscheinen, darunter Sofia Yablonskas Der Charme von Marokko und Oleh Senzows Haft.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Das hängt natürlich wesentlich von den Leseinteressen ab. Wer tiefer eintauchen möchte in die im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannte Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert, sollte Tanja Maljartschuks Blauwal der Erinnerung zur Hand nehmen. Die Autorin verbindet in ihrem Roman eine Handlung am Ende des Ersten Weltkriegs, in der die Umstände der gescheiterten Staatsgründungen 1918 aufgearbeitet werden, mit der Spurensuche in der Gegenwart. Auch Oksana Sabuschkos Museum der vergessenen Geheimnisse und Maria Matios Darina die Süße machen die Leser*innen mit verschiedenen Aspekten der ukrainischen Geschichte vertraut.
Wer sich eher der ukrainischen Postmoderne nähern möchte, sollte sich in Juri Andruchowytschs Romane Moscoviada, Perversion und Zwölf Ringe vertiefen. Der genaueste und kritischste Zeuge der Gegenwart ist Serhij Zhadan. Wer seine Romane Depeche Mode, Hymne der demokratischen Jugend und Internat und seine Lyrikbände Die Geschichte der Kultur am Anfang des Jahrhunderts und Antenne liest, findet Zugang zum postindustriellen Erbe der Ostukraine und macht Bekanntschaft mit fragilen Aussteiger*innen und gewieften Überlebenskünstler*innen.
Den besten Blick in die Verwerfungen, der die ukrainische Gesellschaft seit dem Beginn des Krieges im Donbass 2014 ausgesetzt ist, bietet Yevgenia Belorusets mit ihrem Band Glückliche Fälle, in dem sie filigrane Porträts von Frauen im Krieg versammelt. Bekanntschaft mit der facettenreichen ukrainischen Mittelschicht bieten Tanja Maljartschuks Von Hasen und anderen Europäern und Oleksij Tschupas Märchen aus meinem Luftschutzkeller. Wer lesend die lost places von Tschernobyl erkunden will, wird mit Markijan Kamyschs Die Zone oder Tschernobyls Söhne fündig.
Was ist noch nicht übersetzt?
Eigentlich müsste man die Frage andersherum stellen: Was ist schon übersetzt? Denn zum Schicksal so genannter kleiner Literaturen gehört es, dass sie von Leser*innen mit anderen Muttersprachen weniger oft im Original rezipiert und auch weniger übersetzt werden. Im Fall des Ukrainischen, das quantitativ gesehen mit über 40 Millionen Sprechern eigentlich gar keine kleine Sprache ist, kommt zur mangelnden Wahrnehmung noch die ideologisch bedingte massive Zurückdrängung der Sprache während der Sowjetzeit in die Bereiche des Alltags und der Folklore. Die sowjetische Sprachenpolitik zielte darauf ab, die Sprachen nichtrussischer Nationalitäten zu marginalisieren, indem man die Verwendung der Sprache in öffentlichen Bereichen des Lebens, etwa in Schulen, Verwaltungen, in Politik und Wissenschaft verbot oder zumindest stark einschränkte und sie öffentlich nur in folkloristischen Kontexten zuließ, um Vielfalt zu demonstrieren. Somit war die Sprache zwar vorhanden, aber die Sprecher*innen konnten sich in wesentlichen Gesellschaftsbereichen ihrer nicht bedienen. Diese Zurückdrängung hatte unter anderem auch zur Folge, dass die Sprache an ausländischen Universitäten so gut wie nicht gelehrt und wenig dazu geforscht wurde, woran sich bis heute nicht grundlegend etwas geändert hat. Aufgrund der mangelnden Wahrnehmung der ukrainischen Literatur bis weit in die 1990er Jahre hinein wurden, abgesehen von einigen wenigen Ausgaben in der DDR, keine nennenswerten Übersetzungen vorgelegt.
Das aktive Übersetzen aus dem Ukrainischen mit Büchern, die auf dem deutschsprachigen Buchmarkt wahrgenommen werden, beginnt eigentlich erst nach der Orangen Revolution 2004. In der Zeit des Kalten Krieges übersetzte maßgeblich die Ukrainerin Anna Halia Horbatsch Literatur aus dem Ukrainischen ins Deutsche und gab sie im Selbstverlag heraus. Diese Werke wurden in der Öffentlichkeit aber nicht wahrgenommen.
So können die deutschsprachigen Leser*innen weder die Texte der ukrainischen Futuristen der 1920er Jahre – Mychail Semenko, Maik Johansen, Heo Schkurupij und andere – noch die dissidentische Literatur der 1960er Jahre (Schistdisjatnyky) lesen, auch die publizistischen Texte zum Reaktorunglück von Tschernobyl, die Ende der 1980er, Beginn der 1990er Jahre auf Ukrainisch entstanden, können bislang noch nicht auf Deutsch gelesen werden.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Ukrainischen? Wie gehen Sie damit um?
Durch den engen Sprachkontakt zwischen dem Russischen und Ukrainischen weisen ukrainische Texte zwei Phänomene auf, die das Übersetzen sehr erschweren. Zum einen ist es die Verwendung von Surshyk, einer Mischsprache, in der russische und ukrainische Elemente gleichermaßen vorkommen. Zum anderen gibt es Texte, in denen an bestimmten Stellen, vor allem zur Figurencharakterisierung, ins Russische gewechselt wird. Wie diese Schwierigkeiten in der Übersetzung gelöst werden, hängt im Wesentlichen von der Funktion der Passagen ab. Wenn die Mischsprache darauf hindeutet, dass eine Person ein niedrigeres Bildungsniveau hat, lässt sich die Markierung mit einfachen Satzkonstruktionen und nicht normsprachlichen Ausdrücken, z. B. unkorrekten Kollokationen o. ä. wiedergeben. Der Wechsel ins Russische markiert häufig die politische Haltung einer Figur oder kennzeichnet den Sprachgebrauch, der in bestimmten Einrichtungen, z. B. im Gefängnis, typisch ist. In diesem Fall ist es wichtig, dass es gelingt, die Figur entsprechend der Intention des Autors zu modellieren.
Da wir im deutschsprachigen Raum keine ähnliche Zweisprachigkeit haben, lassen sich die Schattierungen und Nuancen oft nur bedingt wiedergeben, die Ironie, die man im Ukrainischen allein durch den Sprachwechsel mitliest, geht oft verloren. So ergibt sich der Witz des Kapitels „Die Mutterfigur der ukrainischen Gegenwartsliteratur“ in Oleksij Tschupas Roman Märchen aus meinem Luftschutzkeller aus der Tatsache, dass die Protagonistin sehr stolz auf ihre Abstammung aus einer ukrainischen Kosakenfamilie ist und vor ihrer Pensionierung ukrainische Sprache und Literatur unterrichtet hat, die Sprache aber fehlerhaft spricht. Trotz verschiedener stilistischer Anpassungen lässt sich im Deutschen nicht der gleiche Effekt erzielen wie im Original.
Was kann Ukrainisch, was Deutsch nicht kann?
Wie alle slawischen Sprachen kann das Ukrainische Ableitungen bilden, die den verschiedensten expressiven Gehalt transportieren, zum Beispiel mit der Verkleinerungsform:: жіночка (Verkleinerungsform von жінка) ist nicht einfach eine kleine Frau, sondern kann eine adrette, mutige, lustige, lächerliche, geliebte, zufällig vorbeigekommene, abgerissene oder aufgetakelte Frau sein. All diese Bedeutungen kann das Infix –оч transportieren.
Außerdem ist das Ukrainische weniger kodifiziert als das Deutsche, was bedeutet, dass die Sprache über sehr viele Synonyme verfügt, regionale Varianten, die allerdings nicht als Dialekte, sondern als gleichberechtigt nebeneinander stehende Ausdrucksmöglichkeiten empfunden werden. Die Wörter sind sich häufig ähnlich. Durch diese Vielfalt entsteht ein großer Ausdrucks- und vor allem in der Lyrik ein großer Klangreichtum. So gibt es zum Beispiel für den Ausdruck „weit entfernt“ nicht weniger als acht Synonyme: віддалік, віддаля, віддалеки, поодаль, віддалі, поодалік, віддаль, подаль, одаль. Sie alle verfügen über den gemeinsamen Stamm даль– entfernt, jedoch werden sie unterschiedlich präfigiert und suffigiert und haben auch eine unterschiedliche Betonung. So lassen sich Wörter mit einer synonymischen Bedeutung, aber unterschiedlichen rhythmischen und klanglichen Eigenschaften gebrauchen.

Wir suchen für die Rubrik „Große kleine Sprache“ Übersetzerinnen und Übersetzer, die Lust haben, ihre „kleine“ Sprache mit unserem Fragebogen vorzustellen. Wenn du dich angesprochen fühlst, melde dich gerne unter redaktion@tralalit.de.
„Wir hatten fünfeinhalb Wochen für die Übersetzung“
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In eigenen Sphären
- Bei der Beantwortung dieser Frage stütze ich mich maßgeblich auf den Aufsatz von Olha Hontschar, Nelia Vakhovska und Claudia Dathe Ukraine in: Schamma Schahadat, Štěpán Zbytovský (Hg.). Übersetzungslandschaften. Themen und Akteure der Literaturübersetzung in Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld, transkript, 2016, S. 229–246.