Gro­ße klei­ne Spra­che Ukrainisch

Momentan in aller Munde und doch eine weitgehend unbekannte Größe: die Ukraine mit ihrer höchst lebendigen und eigenwilligen Kultur- und Literaturszene. Von

Die rote Kavallerie (1932) des ukrainisch-polnisch-russischen Malers Kasimir Malewitsch (1878-1935). Quelle: WikiArt

Es gibt etwa 7000 Spra­chen auf der Welt, doch nur ein win­zi­ger Bruch­teil davon wird ins Deut­sche über­setzt. Wir inter­view­en Men­schen, die Meis­ter­wer­ke aus unter­re­prä­sen­tier­ten und unge­wöhn­li­chen Spra­chen über­set­zen und uns so Zugang zu wenig erkun­de­ten Wel­ten ver­schaf­fen. Alle Bei­trä­ge der Rubrik fin­det ihr hier.


Wie haben Sie Ukrai­nisch gelernt?

Von 2000 bis 2005 habe ich in Kyjiw gelebt und an der dor­ti­gen Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Über­set­zen gelehrt. Zunächst arbei­te­te ich in mei­nen Lehr­ver­an­stal­tun­gen aus­schließ­lich mit dem Spra­chen­paar Rus­sisch-Deutsch. Im zwei­ten Jahr mei­nes Auf­ent­halts begann ich – ange­regt durch einen vom Goe­the-Insti­tut orga­ni­sier­ten Work­shop zur Dra­men-Über­set­zung – mit einer Pri­vat­leh­re­rin Ukrai­nisch zu ler­nen. Zu die­ser Zeit wur­de in Kyjiw noch über­wie­gend Rus­sisch gespro­chen, sodass ich, obwohl ich in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt leb­te, para­do­xer­wei­se wenig Sprach­pra­xis hat­te. In der Dis­si­den­ten- und Lite­ra­tur­sze­ne, in die mich der Celan- und Her­ta-Mül­ler-Über­set­zer Mark Bel­o­ru­sez ein­führ­te, wur­de eine unideo­lo­gi­sche Zwei­spra­chig­keit gepflegt, die in ange­neh­mer Wei­se an die Mehr­spra­chig­keit der Regi­on im frü­hen 20. Jahr­hun­dert erinnerte.

Wie sieht die ukrai­ni­sche Lite­ra­tur­sze­ne aus?

Wie vie­le post­so­wje­ti­sche Län­der hat­te auch die Ukrai­ne in den 1990er Jah­ren mit den Fol­gen des Sys­tem­wech­sels zu kämp­fen, der nicht nur zu einer schwe­ren Wirt­schafts­kri­se führ­te, son­dern auch die Eta­blie­rung neu­er Insti­tu­tio­nen erfor­der­lich mach­te. Da die Lite­ra­tur – wie vie­le ande­re Berei­che der Kul­tur – viel­fach nicht ohne finan­zi­el­le Unter­stüt­zung aus­kommt, die der Staat in den ers­ten fünf­zehn Jah­ren der Unab­hän­gig­keit so gut wie gar nicht geleis­tet hat, ent­wi­ckel­te sich die Lite­ra­tur­sze­ne nach 1991 zunächst nur schlep­pend. Es gab nur eini­ge weni­ge Ver­la­ge, eini­ge weni­ge Akteur*innen und außer­halb von Kyjiw und Lwiw (Lem­berg) kaum nen­nens­wer­te lite­ra­ri­sche Ver­an­stal­tun­gen. Mit dem nach 2000 ein­set­zen­den Auf­schwung in der Wirt­schaft und in der Zivil­ge­sell­schaft und der Schaf­fung neu­er Insti­tu­tio­nen nach der Euro­mai­dan-Revo­lu­ti­on 2013/14, wie zum Bei­spiel dem Ukrai­ni­schen Buch­in­sti­tut, änder­te sich die Lage all­mäh­lich.1

Es tau­chen neue Akteur*innen auf, die mit ihren Initia­ti­ven an neue Orte zie­hen, nach Char­kiw, Riw­ne, Odes­sa, Tscher­niw­zi (Czer­no­witz) und dort das lite­ra­ri­sche Leben berei­chern. So bie­tet man neben Schreib­werk­stät­ten auch Lite­ra­tur­som­mer­schu­len an, es gibt Lese­rei­sen und gro­ße Fes­ti­vals, zum Bei­spiel das Lite­ra­tur­fes­ti­val in Odes­sa oder das Poe­sie­fes­ti­val Meri­di­an Czer­no­witz. Zu den neue­ren Fes­ti­vals gehört auch Trans­la­to­ri­um, ein Fes­ti­val für lite­ra­ri­sches Über­set­zen, das jun­ge, enga­gier­te Übersetzer*innen 2017 gegrün­det haben und das jähr­lich im Herbst in Chmel­nyz­kyj statt­fin­det. Ziel ist es, den Aus­tausch über das lite­ra­ri­sche Über­set­zen anzu­re­gen und ins­be­son­de­re auch Stu­die­ren­den einen aktu­el­len Zugang zur Kunst des Über­set­zens zu ver­schaf­fen. Die Organisator*innen ver­ste­hen also Trans­la­to­ri­um auch als einen alter­na­ti­ven Bildungsort. 

Bedingt durch die Euro­mai­dan-Revo­lu­ti­on, die anschlie­ßen­de Anne­xi­on der Krim durch Russ­land und den Krieg im Don­bass bestimm­ten seit 2014 The­men wie Iden­ti­tät, Zuge­hö­rig­keit und das neue natio­na­le Selbst­bild die lite­ra­ri­schen Debat­ten und Tex­te. Zu den wich­ti­gen Stim­men gehö­ren hier Juri Andrucho­wytsch, Andrej Kur­kow, Ser­hij Zha­dan und Oxa­na Zabusch­ko, unter den jün­ge­ren vor allem Tan­ja Mal­jart­schuk, Sofi­ja Andrucho­wytsch, Oxa­na Luzy­schy­na und Has­ka Schy­jan. Jen­seits davon exis­tiert eine brei­te Palet­te von Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur, die von Rei­se­be­rich­ten und Tech­no­thril­lern (Maxym Kid­ruk) über iro­ni­sche Kri­mi­nal­ro­ma­ne (Jewhe­ni­ja Kono­nen­ko) bis hin zu futu­ris­ti­schen Anti­uto­pien (Oleh Schyn­ka­ren­ko) reicht.

Die ukrai­ni­sche Gegen­warts­li­te­ra­tur hat eine brei­te Lyrik­sze­ne – Lyrik wird viel und gern geschrie­ben und gele­sen und genau­so gern rezi­tiert und per­formt. Zu den wich­tigs­ten poe­ti­schen Stim­men der Gegen­wart gehö­ren unter ande­rem Ser­hij Zha­dan, der neben sei­nen Roma­nen und Essays auch Gedich­te ver­fasst, Haly­na Kruk, Ost­ap Sly­vyn­sky, Lju­bow Yakymt­schuk, deren Gedicht­band Die Apri­ko­sen des Don­bass den Leser*innen die (post)industrielle Welt des Don­bass nahe­bringt, und Mari­an­na Kija­nows­ka, die mit dem Band Stim­men eine viel beach­te­te Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Mas­sa­ker an der jüdi­schen Bevöl­ke­rung in Babyn Jar im Jahr 1941 vor­ge­legt hat. 

Die Lite­ra­tur­sze­ne in der Ukrai­ne ist eng mit ande­ren Berei­chen des künst­le­ri­schen Schaf­fens ver­bun­den. Die ukrai­ni­schen Autor*innen sind expe­ri­men­tier­freu­dig und auf­ge­schlos­sen für neue Prä­sen­ta­ti­ons­for­ma­te. Vie­le von ihnen schrei­ben nicht nur, son­dern sind auch in Bands aktiv oder tre­ten in cross-over-For­ma­ten auf, wie zum Bei­spiel Ser­hij Zha­dan mit sei­nem Pro­jekt Roz­di­lo­vi, das Lyrik, gra­fic recor­ding, Musik und Über­set­zung in einer Per­for­mance vereint.

Wie in allen ande­ren euro­päi­schen Län­dern spie­len die lite­ra­ri­schen Ver­an­stal­tun­gen als Orte des Prä­sen­tie­rens, des Zusam­men­kom­mens und des Aus­tau­sches auch in der Ukrai­ne eine wich­ti­ge Rol­le. Auf­grund der gerin­gen finan­zi­el­len Res­sour­cen gibt es aller­dings kei­ne Lite­ra­tur­häu­ser oder ähn­li­che Ein­rich­tun­gen, in denen Lite­ra­tur dem Publi­kum mit einem fes­ten, kon­ti­nu­ier­li­chen Pro­gramm prä­sen­tiert wird. Zumeist wer­den Lesun­gen und ande­re Events ehren­amt­lich orga­ni­siert, was sich auf die Qua­li­tät der Wer­bung und Ver­mark­tung nega­tiv aus­wirkt. Auch las­sen sich des­we­gen weder Ver­an­stal­tungs­rei­hen auf­bau­en und noch ein dau­er­haf­tes Publi­kum gewin­nen. Zu den wich­tigs­ten Akteur*innen und Veranstalter*innen gehö­ren die zwei lan­des­weit größ­ten Buch­mes­sen in Kyjiw und Lwiw. 

Ein wich­ti­ger Mei­len­stein für die insti­tu­tio­nel­le Unter­stüt­zung der ukrai­ni­schen Lite­ra­tur war die Grün­dung des Ukrai­ni­schen Buch­in­sti­tuts im Jahr 2016. Die staat­li­che Ein­rich­tung legt För­der­pro­gram­me für öffent­li­che Ein­rich­tun­gen auf, unter­stützt die öffent­li­chen Biblio­the­ken bei der Erwei­te­rung ihrer Bestän­de, för­dert den Aus­bau digi­ta­ler Biblio­the­ken und schreibt jähr­lich För­de­run­gen für Über­set­zun­gen aus dem Ukrai­ni­schen und ins Ukrai­ni­sche aus. Durch die­se För­de­rung konn­ten in den Jah­ren 2020 und 2021 bereits etli­che Titel ukrai­ni­scher Autor*innen auch auf Deutsch erschei­nen, dar­un­ter Sofia Yablons­kas Der Charme von Marok­ko und Oleh Sen­zows Haft.

Was soll­te man unbe­dingt gele­sen haben?

Das hängt natür­lich wesent­lich von den Lese­inter­es­sen ab. Wer tie­fer ein­tau­chen möch­te in die im deutsch­spra­chi­gen Raum weit­ge­hend unbe­kann­te Geschich­te der Ukrai­ne im 20. Jahr­hun­dert, soll­te Tan­ja Mal­jart­schuks Blau­wal der Erin­ne­rung zur Hand neh­men. Die Autorin ver­bin­det in ihrem Roman eine Hand­lung am Ende des Ers­ten Welt­kriegs, in der die Umstän­de der geschei­ter­ten Staats­grün­dun­gen 1918 auf­ge­ar­bei­tet wer­den, mit der Spu­ren­su­che in der Gegen­wart. Auch Oksa­na Sabusch­kos Muse­um der ver­ges­se­nen Geheim­nis­se und Maria Mati­os Dar­i­na die Süße machen die Leser*innen mit ver­schie­de­nen Aspek­ten der ukrai­ni­schen Geschich­te vertraut.

Wer sich eher der ukrai­ni­schen Post­mo­der­ne nähern möch­te, soll­te sich in Juri Andrucho­wytschs Roma­ne Mosco­via­da, Per­ver­si­on und Zwölf Rin­ge ver­tie­fen. Der genau­es­te und kri­tischs­te Zeu­ge der Gegen­wart ist Ser­hij Zha­dan. Wer sei­ne Roma­ne Depe­che Mode, Hym­ne der demo­kra­ti­schen Jugend und Inter­nat und sei­ne Lyrik­bän­de Die Geschich­te der Kul­tur am Anfang des Jahr­hun­derts und Anten­ne liest, fin­det Zugang zum post­in­dus­tri­el­len Erbe der Ost­ukrai­ne und macht Bekannt­schaft mit fra­gi­len Aussteiger*innen und gewief­ten Überlebenskünstler*innen.

Den bes­ten Blick in die Ver­wer­fun­gen, der die ukrai­ni­sche Gesell­schaft seit dem Beginn des Krie­ges im Don­bass 2014 aus­ge­setzt ist, bie­tet Yev­ge­nia Bel­o­ru­sets mit ihrem Band Glück­li­che Fäl­le, in dem sie fili­gra­ne Por­träts von Frau­en im Krieg ver­sam­melt. Bekannt­schaft mit der facet­ten­rei­chen ukrai­ni­schen Mit­tel­schicht bie­ten Tan­ja Mal­jart­schuks Von Hasen und ande­ren Euro­pä­ern und Olek­sij Tschu­pas Mär­chen aus mei­nem Luft­schutz­kel­ler. Wer lesend die lost places von Tscher­no­byl erkun­den will, wird mit Mar­ki­jan Kamyschs Die Zone oder Tscher­no­byls Söh­ne fün­dig.

Was ist noch nicht übersetzt?

Eigent­lich müss­te man die Fra­ge anders­her­um stel­len: Was ist schon über­setzt? Denn zum Schick­sal so genann­ter klei­ner Lite­ra­tu­ren gehört es, dass sie von Leser*innen mit ande­ren Mut­ter­spra­chen weni­ger oft im Ori­gi­nal rezi­piert und auch weni­ger über­setzt wer­den. Im Fall des Ukrai­ni­schen, das quan­ti­ta­tiv gese­hen mit über 40 Mil­lio­nen Spre­chern eigent­lich gar kei­ne klei­ne Spra­che ist, kommt zur man­geln­den Wahr­neh­mung noch die ideo­lo­gisch beding­te mas­si­ve Zurück­drän­gung der Spra­che wäh­rend der Sowjet­zeit in die Berei­che des All­tags und der Folk­lo­re. Die sowje­ti­sche Spra­chen­po­li­tik ziel­te dar­auf ab, die Spra­chen nicht­rus­si­scher Natio­na­li­tä­ten zu mar­gi­na­li­sie­ren, indem man die Ver­wen­dung der Spra­che in öffent­li­chen Berei­chen des Lebens, etwa in Schu­len, Ver­wal­tun­gen, in Poli­tik und Wis­sen­schaft ver­bot oder zumin­dest stark ein­schränk­te und sie öffent­lich nur in folk­lo­ris­ti­schen Kon­tex­ten zuließ, um Viel­falt zu demons­trie­ren. Somit war die Spra­che zwar vor­han­den, aber die Sprecher*innen konn­ten sich in wesent­li­chen Gesell­schafts­be­rei­chen ihrer nicht bedie­nen. Die­se Zurück­drän­gung hat­te unter ande­rem auch zur Fol­ge, dass die Spra­che an aus­län­di­schen Uni­ver­si­tä­ten so gut wie nicht gelehrt und wenig dazu geforscht wur­de, wor­an sich bis heu­te nicht grund­le­gend etwas geän­dert hat. Auf­grund der man­geln­den Wahr­neh­mung der ukrai­ni­schen Lite­ra­tur bis weit in die 1990er Jah­re hin­ein wur­den, abge­se­hen von eini­gen weni­gen Aus­ga­ben in der DDR, kei­ne nen­nens­wer­ten Über­set­zun­gen vorgelegt.

Das akti­ve Über­set­zen aus dem Ukrai­ni­schen mit Büchern, die auf dem deutsch­spra­chi­gen Buch­markt wahr­ge­nom­men wer­den, beginnt eigent­lich erst nach der Oran­gen Revo­lu­ti­on 2004. In der Zeit des Kal­ten Krie­ges über­setz­te maß­geb­lich die Ukrai­ne­rin Anna Halia Hor­batsch Lite­ra­tur aus dem Ukrai­ni­schen ins Deut­sche und gab sie im Selbst­ver­lag her­aus. Die­se Wer­ke wur­den in der Öffent­lich­keit aber nicht wahrgenommen.

So kön­nen die deutsch­spra­chi­gen Leser*innen weder die Tex­te der ukrai­ni­schen Futu­ris­ten der 1920er Jah­re – Mychail Semen­ko, Maik Johan­sen, Heo Schku­ru­pij und ande­re – noch die dis­si­den­ti­sche Lite­ra­tur der 1960er Jah­re (Schist­dis­jat­ny­ky) lesen, auch die publi­zis­ti­schen Tex­te zum Reak­tor­un­glück von Tscher­no­byl, die Ende der 1980er, Beginn der 1990er Jah­re auf Ukrai­nisch ent­stan­den, kön­nen bis­lang noch nicht auf Deutsch gele­sen werden.

Was sind die größ­ten Schwie­rig­kei­ten beim Über­set­zen aus dem Ukrai­ni­schen? Wie gehen Sie damit um?

Durch den engen Sprach­kon­takt zwi­schen dem Rus­si­schen und Ukrai­ni­schen wei­sen ukrai­ni­sche Tex­te zwei Phä­no­me­ne auf, die das Über­set­zen sehr erschwe­ren. Zum einen ist es die Ver­wen­dung von Surs­hyk, einer Misch­spra­che, in der rus­si­sche und ukrai­ni­sche Ele­men­te glei­cher­ma­ßen vor­kom­men. Zum ande­ren gibt es Tex­te, in denen an bestimm­ten Stel­len, vor allem zur Figu­ren­cha­rak­te­ri­sie­rung, ins Rus­si­sche gewech­selt wird. Wie die­se Schwie­rig­kei­ten in der Über­set­zung gelöst wer­den, hängt im Wesent­li­chen von der Funk­ti­on der Pas­sa­gen ab. Wenn die Misch­spra­che dar­auf hin­deu­tet, dass eine Per­son ein nied­ri­ge­res Bil­dungs­ni­veau hat, lässt sich die Mar­kie­rung mit ein­fa­chen Satz­kon­struk­tio­nen und nicht norm­sprach­li­chen Aus­drü­cken, z. B. unkor­rek­ten Kol­lo­ka­tio­nen o. ä. wie­der­ge­ben. Der Wech­sel ins Rus­si­sche mar­kiert häu­fig die poli­ti­sche Hal­tung einer Figur oder kenn­zeich­net den Sprach­ge­brauch, der in bestimm­ten Ein­rich­tun­gen, z. B. im Gefäng­nis, typisch ist. In die­sem Fall ist es wich­tig, dass es gelingt, die Figur ent­spre­chend der Inten­ti­on des Autors zu modellieren.

Da wir im deutsch­spra­chi­gen Raum kei­ne ähn­li­che Zwei­spra­chig­keit haben, las­sen sich die Schat­tie­run­gen und Nuan­cen oft nur bedingt wie­der­ge­ben, die Iro­nie, die man im Ukrai­ni­schen allein durch den Sprach­wech­sel mit­liest, geht oft ver­lo­ren. So ergibt sich der Witz des Kapi­tels „Die Mut­ter­fi­gur der ukrai­ni­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur“ in Olek­sij Tschu­pas Roman Mär­chen aus mei­nem Luft­schutz­kel­ler aus der Tat­sa­che, dass die Prot­ago­nis­tin sehr stolz auf ihre Abstam­mung aus einer ukrai­ni­schen Kosa­ken­fa­mi­lie ist und vor ihrer Pen­sio­nie­rung ukrai­ni­sche Spra­che und Lite­ra­tur unter­rich­tet hat, die Spra­che aber feh­ler­haft spricht. Trotz ver­schie­de­ner sti­lis­ti­scher Anpas­sun­gen lässt sich im Deut­schen nicht der glei­che Effekt erzie­len wie im Original.

Was kann Ukrai­nisch, was Deutsch nicht kann?

Wie alle sla­wi­schen Spra­chen kann das Ukrai­ni­sche Ablei­tun­gen bil­den, die den ver­schie­dens­ten expres­si­ven Gehalt trans­por­tie­ren, zum Bei­spiel mit der Ver­klei­ne­rungs­form:: жіночка (Ver­klei­ne­rungs­form von жінка) ist nicht ein­fach eine klei­ne Frau, son­dern kann eine adret­te, muti­ge, lus­ti­ge, lächer­li­che, gelieb­te, zufäl­lig vor­bei­ge­kom­me­ne, abge­ris­se­ne oder auf­ge­ta­kel­te Frau sein. All die­se Bedeu­tun­gen kann das Infix –оч transportieren. 

Außer­dem ist das Ukrai­ni­sche weni­ger kodi­fi­ziert als das Deut­sche, was bedeu­tet, dass die Spra­che über sehr vie­le Syn­ony­me ver­fügt, regio­na­le Vari­an­ten, die aller­dings nicht als Dia­lek­te, son­dern als gleich­be­rech­tigt neben­ein­an­der ste­hen­de Aus­drucks­mög­lich­kei­ten emp­fun­den wer­den. Die Wör­ter sind sich häu­fig ähn­lich. Durch die­se Viel­falt ent­steht ein gro­ßer Aus­drucks- und vor allem in der Lyrik ein gro­ßer Klang­reich­tum. So gibt es zum Bei­spiel für den Aus­druck „weit ent­fernt“ nicht weni­ger als acht Syn­ony­me: віддалік, віддаля, віддалеки, поодаль, віддалі, поодалік, віддаль, подаль, одаль. Sie alle ver­fü­gen über den gemein­sa­men Stamm даль–  ent­fernt, jedoch wer­den sie unter­schied­lich prä­fi­giert und suf­fi­giert und haben auch eine unter­schied­li­che Beto­nung. So las­sen sich Wör­ter mit einer syn­ony­mi­schen Bedeu­tung, aber unter­schied­li­chen rhyth­mi­schen und klang­li­chen Eigen­schaf­ten gebrauchen.


Clau­dia Dathe

Clau­dia Dathe (*1971) stu­dier­te Über­set­zungs­wis­sen­schaft (Rus­sisch, Pol­nisch) und Betriebs­wirt­schafts­leh­re in Leip­zig, Pja­ti­gorsk und Kra­kau. Nach län­ge­ren Aus­lands­tä­tig­kei­ten in Kasach­stan und der Ukrai­ne arbei­te­te sie von 2009 bis 2020 als Koor­di­na­to­rin für Pro­jek­te zum lite­ra­ri­schen Über­set­zen und zum euro­päi­schen Kul­tur­aus­tausch am Sla­vi­schen Semi­nar der Uni­ver­si­tät Tübin­gen. Seit Mai 2021 koor­di­niert sie das For­schungs­ver­bund­pro­jekt „Euro­pean Times“ an der Kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Fakul­tät der Euro­pa­uni­ver­si­tät Via­dri­na. Sie über­setzt Lite­ra­tur aus dem Rus­si­schen und Ukrai­ni­schen. Im Jahr 2020 wur­de sie zusam­men mit Yev­ge­nia Bel­o­ru­sez für das Buch „Glück­li­che Fäl­le“ mit dem Inter­na­tio­na­len Lite­ra­tur­preis und 2021 für die Über­set­zung von Ser­hij Zhadans Gedicht­band „Anten­ne“ mit dem Dra­homán-Preis aus­ge­zeich­net. (Foto: privat)


Wir suchen für die Rubrik „Gro­ße klei­ne Spra­che“ Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, die Lust haben, ihre „klei­ne“ Spra­che mit unse­rem Fra­ge­bo­gen vor­zu­stel­len. Wenn du dich ange­spro­chen fühlst, mel­de dich ger­ne unter redaktion@tralalit.de.


Buchcover des Romans Tiepolo Blau von James Cahill. Auf dem Cover ist eine Büste auf blauem Grund zu sehen, die an der Nasenwurzel abgeschnitten ist.

Das Blau des Himmels

In James Cahills Roman­de­büt „Tie­po­lo Blau“ wird ein zurück­ge­zo­gen leben­der Pro­fes­sor von einem moder­nen Kunstwerk… 
Cover von Pol Guaschs Roman Napalm im Herzen. Illustration eines jungen Menschen mit dunklen Haaren in grellen Rottönen.

Nach der Katastrophe

In „Napalm im Her­zen“ erzählt der kata­la­ni­sche Autor Pol Guasch eine que­e­re Lie­bes­ge­schich­te in einem… 
Cover von Samantha Harveys Roman Umlaufbahnen. Im Hintergrund ist ein Foto der Erdatmosphäre.

In eige­nen Sphären

In ihrem Roman „Umlauf­bah­nen“ hin­ter­fragt Saman­tha Har­vey die mensch­li­che Exis­tenz im Uni­ver­sum – und erhielt… 
  1. Bei der Beant­wor­tung die­ser Fra­ge stüt­ze ich mich maß­geb­lich auf den Auf­satz von Olha Hont­schar, Nelia Vak­hovs­ka und Clau­dia Dathe Ukrai­ne in: Scham­ma Schaha­dat, Štěpán Zby­tovs­ký (Hg.). Über­set­zungs­land­schaf­ten. The­men und Akteu­re der Lite­ra­tur­über­set­zung in Ost- und Mit­tel­eu­ro­pa. Bie­le­feld, tran­skript, 2016, S. 229–246.

2 Comments

Add Yours
  1. 1
    Blogophilie Februar 2022 | Miss Booleana

    […] Gro­ße klei­ne Spra­che Ukrai­nisch Das Maga­zin für über­setz­te Lite­ra­tur, TraLaLit, geht zusam­men mit Clau­dia Dathe auf die Beson­der­hei­ten der ukrai­ni­schen Spra­che ein, nenntn Autor*innen, die schon über­setzt wur­den und noch nicht und ich konn­te mit dem Wis­sen erfolg­reich vor mei­nem Mut­ter­sprach­ler angeben. […]

  2. 2
    Isabella Baranowski

    Ein sehr schö­ner Arti­kel, eine klei­ne Hom­mage an unpre­ten­tiou­sen, unideo­lo­gi­sier­ten Umgang mit Sprachen❤️

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert