Gro­ße klei­ne Spra­che Ukrainisch

Momentan in aller Munde und doch eine weitgehend unbekannte Größe: die Ukraine mit ihrer höchst lebendigen und eigenwilligen Kultur- und Literaturszene. Von

Die rote Kavallerie (1932) des ukrainisch-polnisch-russischen Malers Kasimir Malewitsch (1878-1935). Quelle: WikiArt

Es gibt etwa 7000 Spra­chen auf der Welt, doch nur ein win­zi­ger Bruch­teil davon wird ins Deut­sche über­setzt. Wir inter­view­en Men­schen, die Meis­ter­wer­ke aus unter­re­prä­sen­tier­ten und unge­wöhn­li­chen Spra­chen über­set­zen und uns so Zugang zu wenig erkun­de­ten Wel­ten ver­schaf­fen. Alle Bei­trä­ge der Rubrik fin­det ihr hier.


Wie haben Sie Ukrai­nisch gelernt?

Von 2000 bis 2005 habe ich in Kyjiw gelebt und an der dor­ti­gen Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Über­set­zen gelehrt. Zunächst arbei­te­te ich in mei­nen Lehr­ver­an­stal­tun­gen aus­schließ­lich mit dem Spra­chen­paar Rus­sisch-Deutsch. Im zwei­ten Jahr mei­nes Auf­ent­halts begann ich – ange­regt durch einen vom Goe­the-Insti­tut orga­ni­sier­ten Work­shop zur Dra­men-Über­set­zung – mit einer Pri­vat­leh­re­rin Ukrai­nisch zu ler­nen. Zu die­ser Zeit wur­de in Kyjiw noch über­wie­gend Rus­sisch gespro­chen, sodass ich, obwohl ich in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt leb­te, para­do­xer­wei­se wenig Sprach­pra­xis hat­te. In der Dis­si­den­ten- und Lite­ra­tur­sze­ne, in die mich der Celan- und Her­ta-Mül­ler-Über­set­zer Mark Bel­o­ru­sez ein­führ­te, wur­de eine unideo­lo­gi­sche Zwei­spra­chig­keit gepflegt, die in ange­neh­mer Wei­se an die Mehr­spra­chig­keit der Regi­on im frü­hen 20. Jahr­hun­dert erinnerte.

Wie sieht die ukrai­ni­sche Lite­ra­tur­sze­ne aus?

Wie vie­le post­so­wje­ti­sche Län­der hat­te auch die Ukrai­ne in den 1990er Jah­ren mit den Fol­gen des Sys­tem­wech­sels zu kämp­fen, der nicht nur zu einer schwe­ren Wirt­schafts­kri­se führ­te, son­dern auch die Eta­blie­rung neu­er Insti­tu­tio­nen erfor­der­lich mach­te. Da die Lite­ra­tur – wie vie­le ande­re Berei­che der Kul­tur – viel­fach nicht ohne finan­zi­el­le Unter­stüt­zung aus­kommt, die der Staat in den ers­ten fünf­zehn Jah­ren der Unab­hän­gig­keit so gut wie gar nicht geleis­tet hat, ent­wi­ckel­te sich die Lite­ra­tur­sze­ne nach 1991 zunächst nur schlep­pend. Es gab nur eini­ge weni­ge Ver­la­ge, eini­ge weni­ge Akteur*innen und außer­halb von Kyjiw und Lwiw (Lem­berg) kaum nen­nens­wer­te lite­ra­ri­sche Ver­an­stal­tun­gen. Mit dem nach 2000 ein­set­zen­den Auf­schwung in der Wirt­schaft und in der Zivil­ge­sell­schaft und der Schaf­fung neu­er Insti­tu­tio­nen nach der Euro­mai­dan-Revo­lu­ti­on 2013/14, wie zum Bei­spiel dem Ukrai­ni­schen Buch­in­sti­tut, änder­te sich die Lage all­mäh­lich.1

Es tau­chen neue Akteur*innen auf, die mit ihren Initia­ti­ven an neue Orte zie­hen, nach Char­kiw, Riw­ne, Odes­sa, Tscher­niw­zi (Czer­no­witz) und dort das lite­ra­ri­sche Leben berei­chern. So bie­tet man neben Schreib­werk­stät­ten auch Lite­ra­tur­som­mer­schu­len an, es gibt Lese­rei­sen und gro­ße Fes­ti­vals, zum Bei­spiel das Lite­ra­tur­fes­ti­val in Odes­sa oder das Poe­sie­fes­ti­val Meri­di­an Czer­no­witz. Zu den neue­ren Fes­ti­vals gehört auch Trans­la­to­ri­um, ein Fes­ti­val für lite­ra­ri­sches Über­set­zen, das jun­ge, enga­gier­te Übersetzer*innen 2017 gegrün­det haben und das jähr­lich im Herbst in Chmel­nyz­kyj statt­fin­det. Ziel ist es, den Aus­tausch über das lite­ra­ri­sche Über­set­zen anzu­re­gen und ins­be­son­de­re auch Stu­die­ren­den einen aktu­el­len Zugang zur Kunst des Über­set­zens zu ver­schaf­fen. Die Organisator*innen ver­ste­hen also Trans­la­to­ri­um auch als einen alter­na­ti­ven Bildungsort. 

Bedingt durch die Euro­mai­dan-Revo­lu­ti­on, die anschlie­ßen­de Anne­xi­on der Krim durch Russ­land und den Krieg im Don­bass bestimm­ten seit 2014 The­men wie Iden­ti­tät, Zuge­hö­rig­keit und das neue natio­na­le Selbst­bild die lite­ra­ri­schen Debat­ten und Tex­te. Zu den wich­ti­gen Stim­men gehö­ren hier Juri Andrucho­wytsch, Andrej Kur­kow, Ser­hij Zha­dan und Oxa­na Zabusch­ko, unter den jün­ge­ren vor allem Tan­ja Mal­jart­schuk, Sofi­ja Andrucho­wytsch, Oxa­na Luzy­schy­na und Has­ka Schy­jan. Jen­seits davon exis­tiert eine brei­te Palet­te von Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur, die von Rei­se­be­rich­ten und Tech­no­thril­lern (Maxym Kid­ruk) über iro­ni­sche Kri­mi­nal­ro­ma­ne (Jewhe­ni­ja Kono­nen­ko) bis hin zu futu­ris­ti­schen Anti­uto­pien (Oleh Schyn­ka­ren­ko) reicht.

Die ukrai­ni­sche Gegen­warts­li­te­ra­tur hat eine brei­te Lyrik­sze­ne – Lyrik wird viel und gern geschrie­ben und gele­sen und genau­so gern rezi­tiert und per­formt. Zu den wich­tigs­ten poe­ti­schen Stim­men der Gegen­wart gehö­ren unter ande­rem Ser­hij Zha­dan, der neben sei­nen Roma­nen und Essays auch Gedich­te ver­fasst, Haly­na Kruk, Ost­ap Sly­vyn­sky, Lju­bow Yakymt­schuk, deren Gedicht­band Die Apri­ko­sen des Don­bass den Leser*innen die (post)industrielle Welt des Don­bass nahe­bringt, und Mari­an­na Kija­nows­ka, die mit dem Band Stim­men eine viel beach­te­te Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Mas­sa­ker an der jüdi­schen Bevöl­ke­rung in Babyn Jar im Jahr 1941 vor­ge­legt hat. 

Die Lite­ra­tur­sze­ne in der Ukrai­ne ist eng mit ande­ren Berei­chen des künst­le­ri­schen Schaf­fens ver­bun­den. Die ukrai­ni­schen Autor*innen sind expe­ri­men­tier­freu­dig und auf­ge­schlos­sen für neue Prä­sen­ta­ti­ons­for­ma­te. Vie­le von ihnen schrei­ben nicht nur, son­dern sind auch in Bands aktiv oder tre­ten in cross-over-For­ma­ten auf, wie zum Bei­spiel Ser­hij Zha­dan mit sei­nem Pro­jekt Roz­di­lo­vi, das Lyrik, gra­fic recor­ding, Musik und Über­set­zung in einer Per­for­mance vereint.

Wie in allen ande­ren euro­päi­schen Län­dern spie­len die lite­ra­ri­schen Ver­an­stal­tun­gen als Orte des Prä­sen­tie­rens, des Zusam­men­kom­mens und des Aus­tau­sches auch in der Ukrai­ne eine wich­ti­ge Rol­le. Auf­grund der gerin­gen finan­zi­el­len Res­sour­cen gibt es aller­dings kei­ne Lite­ra­tur­häu­ser oder ähn­li­che Ein­rich­tun­gen, in denen Lite­ra­tur dem Publi­kum mit einem fes­ten, kon­ti­nu­ier­li­chen Pro­gramm prä­sen­tiert wird. Zumeist wer­den Lesun­gen und ande­re Events ehren­amt­lich orga­ni­siert, was sich auf die Qua­li­tät der Wer­bung und Ver­mark­tung nega­tiv aus­wirkt. Auch las­sen sich des­we­gen weder Ver­an­stal­tungs­rei­hen auf­bau­en und noch ein dau­er­haf­tes Publi­kum gewin­nen. Zu den wich­tigs­ten Akteur*innen und Veranstalter*innen gehö­ren die zwei lan­des­weit größ­ten Buch­mes­sen in Kyjiw und Lwiw. 

Ein wich­ti­ger Mei­len­stein für die insti­tu­tio­nel­le Unter­stüt­zung der ukrai­ni­schen Lite­ra­tur war die Grün­dung des Ukrai­ni­schen Buch­in­sti­tuts im Jahr 2016. Die staat­li­che Ein­rich­tung legt För­der­pro­gram­me für öffent­li­che Ein­rich­tun­gen auf, unter­stützt die öffent­li­chen Biblio­the­ken bei der Erwei­te­rung ihrer Bestän­de, för­dert den Aus­bau digi­ta­ler Biblio­the­ken und schreibt jähr­lich För­de­run­gen für Über­set­zun­gen aus dem Ukrai­ni­schen und ins Ukrai­ni­sche aus. Durch die­se För­de­rung konn­ten in den Jah­ren 2020 und 2021 bereits etli­che Titel ukrai­ni­scher Autor*innen auch auf Deutsch erschei­nen, dar­un­ter Sofia Yablons­kas Der Charme von Marok­ko und Oleh Sen­zows Haft.

Was soll­te man unbe­dingt gele­sen haben?

Das hängt natür­lich wesent­lich von den Lese­inter­es­sen ab. Wer tie­fer ein­tau­chen möch­te in die im deutsch­spra­chi­gen Raum weit­ge­hend unbe­kann­te Geschich­te der Ukrai­ne im 20. Jahr­hun­dert, soll­te Tan­ja Mal­jart­schuks Blau­wal der Erin­ne­rung zur Hand neh­men. Die Autorin ver­bin­det in ihrem Roman eine Hand­lung am Ende des Ers­ten Welt­kriegs, in der die Umstän­de der geschei­ter­ten Staats­grün­dun­gen 1918 auf­ge­ar­bei­tet wer­den, mit der Spu­ren­su­che in der Gegen­wart. Auch Oksa­na Sabusch­kos Muse­um der ver­ges­se­nen Geheim­nis­se und Maria Mati­os Dar­i­na die Süße machen die Leser*innen mit ver­schie­de­nen Aspek­ten der ukrai­ni­schen Geschich­te vertraut.

Wer sich eher der ukrai­ni­schen Post­mo­der­ne nähern möch­te, soll­te sich in Juri Andrucho­wytschs Roma­ne Mosco­via­da, Per­ver­si­on und Zwölf Rin­ge ver­tie­fen. Der genau­es­te und kri­tischs­te Zeu­ge der Gegen­wart ist Ser­hij Zha­dan. Wer sei­ne Roma­ne Depe­che Mode, Hym­ne der demo­kra­ti­schen Jugend und Inter­nat und sei­ne Lyrik­bän­de Die Geschich­te der Kul­tur am Anfang des Jahr­hun­derts und Anten­ne liest, fin­det Zugang zum post­in­dus­tri­el­len Erbe der Ost­ukrai­ne und macht Bekannt­schaft mit fra­gi­len Aussteiger*innen und gewief­ten Überlebenskünstler*innen.

Den bes­ten Blick in die Ver­wer­fun­gen, der die ukrai­ni­sche Gesell­schaft seit dem Beginn des Krie­ges im Don­bass 2014 aus­ge­setzt ist, bie­tet Yev­ge­nia Bel­o­ru­sets mit ihrem Band Glück­li­che Fäl­le, in dem sie fili­gra­ne Por­träts von Frau­en im Krieg ver­sam­melt. Bekannt­schaft mit der facet­ten­rei­chen ukrai­ni­schen Mit­tel­schicht bie­ten Tan­ja Mal­jart­schuks Von Hasen und ande­ren Euro­pä­ern und Olek­sij Tschu­pas Mär­chen aus mei­nem Luft­schutz­kel­ler. Wer lesend die lost places von Tscher­no­byl erkun­den will, wird mit Mar­ki­jan Kamyschs Die Zone oder Tscher­no­byls Söh­ne fün­dig.

Was ist noch nicht übersetzt?

Eigent­lich müss­te man die Fra­ge anders­her­um stel­len: Was ist schon über­setzt? Denn zum Schick­sal so genann­ter klei­ner Lite­ra­tu­ren gehört es, dass sie von Leser*innen mit ande­ren Mut­ter­spra­chen weni­ger oft im Ori­gi­nal rezi­piert und auch weni­ger über­setzt wer­den. Im Fall des Ukrai­ni­schen, das quan­ti­ta­tiv gese­hen mit über 40 Mil­lio­nen Spre­chern eigent­lich gar kei­ne klei­ne Spra­che ist, kommt zur man­geln­den Wahr­neh­mung noch die ideo­lo­gisch beding­te mas­si­ve Zurück­drän­gung der Spra­che wäh­rend der Sowjet­zeit in die Berei­che des All­tags und der Folk­lo­re. Die sowje­ti­sche Spra­chen­po­li­tik ziel­te dar­auf ab, die Spra­chen nicht­rus­si­scher Natio­na­li­tä­ten zu mar­gi­na­li­sie­ren, indem man die Ver­wen­dung der Spra­che in öffent­li­chen Berei­chen des Lebens, etwa in Schu­len, Ver­wal­tun­gen, in Poli­tik und Wis­sen­schaft ver­bot oder zumin­dest stark ein­schränk­te und sie öffent­lich nur in folk­lo­ris­ti­schen Kon­tex­ten zuließ, um Viel­falt zu demons­trie­ren. Somit war die Spra­che zwar vor­han­den, aber die Sprecher*innen konn­ten sich in wesent­li­chen Gesell­schafts­be­rei­chen ihrer nicht bedie­nen. Die­se Zurück­drän­gung hat­te unter ande­rem auch zur Fol­ge, dass die Spra­che an aus­län­di­schen Uni­ver­si­tä­ten so gut wie nicht gelehrt und wenig dazu geforscht wur­de, wor­an sich bis heu­te nicht grund­le­gend etwas geän­dert hat. Auf­grund der man­geln­den Wahr­neh­mung der ukrai­ni­schen Lite­ra­tur bis weit in die 1990er Jah­re hin­ein wur­den, abge­se­hen von eini­gen weni­gen Aus­ga­ben in der DDR, kei­ne nen­nens­wer­ten Über­set­zun­gen vorgelegt.

Das akti­ve Über­set­zen aus dem Ukrai­ni­schen mit Büchern, die auf dem deutsch­spra­chi­gen Buch­markt wahr­ge­nom­men wer­den, beginnt eigent­lich erst nach der Oran­gen Revo­lu­ti­on 2004. In der Zeit des Kal­ten Krie­ges über­setz­te maß­geb­lich die Ukrai­ne­rin Anna Halia Hor­batsch Lite­ra­tur aus dem Ukrai­ni­schen ins Deut­sche und gab sie im Selbst­ver­lag her­aus. Die­se Wer­ke wur­den in der Öffent­lich­keit aber nicht wahrgenommen.

So kön­nen die deutsch­spra­chi­gen Leser*innen weder die Tex­te der ukrai­ni­schen Futu­ris­ten der 1920er Jah­re – Mychail Semen­ko, Maik Johan­sen, Heo Schku­ru­pij und ande­re – noch die dis­si­den­ti­sche Lite­ra­tur der 1960er Jah­re (Schist­dis­jat­ny­ky) lesen, auch die publi­zis­ti­schen Tex­te zum Reak­tor­un­glück von Tscher­no­byl, die Ende der 1980er, Beginn der 1990er Jah­re auf Ukrai­nisch ent­stan­den, kön­nen bis­lang noch nicht auf Deutsch gele­sen werden.

Was sind die größ­ten Schwie­rig­kei­ten beim Über­set­zen aus dem Ukrai­ni­schen? Wie gehen Sie damit um?

Durch den engen Sprach­kon­takt zwi­schen dem Rus­si­schen und Ukrai­ni­schen wei­sen ukrai­ni­sche Tex­te zwei Phä­no­me­ne auf, die das Über­set­zen sehr erschwe­ren. Zum einen ist es die Ver­wen­dung von Surs­hyk, einer Misch­spra­che, in der rus­si­sche und ukrai­ni­sche Ele­men­te glei­cher­ma­ßen vor­kom­men. Zum ande­ren gibt es Tex­te, in denen an bestimm­ten Stel­len, vor allem zur Figu­ren­cha­rak­te­ri­sie­rung, ins Rus­si­sche gewech­selt wird. Wie die­se Schwie­rig­kei­ten in der Über­set­zung gelöst wer­den, hängt im Wesent­li­chen von der Funk­ti­on der Pas­sa­gen ab. Wenn die Misch­spra­che dar­auf hin­deu­tet, dass eine Per­son ein nied­ri­ge­res Bil­dungs­ni­veau hat, lässt sich die Mar­kie­rung mit ein­fa­chen Satz­kon­struk­tio­nen und nicht norm­sprach­li­chen Aus­drü­cken, z. B. unkor­rek­ten Kol­lo­ka­tio­nen o. ä. wie­der­ge­ben. Der Wech­sel ins Rus­si­sche mar­kiert häu­fig die poli­ti­sche Hal­tung einer Figur oder kenn­zeich­net den Sprach­ge­brauch, der in bestimm­ten Ein­rich­tun­gen, z. B. im Gefäng­nis, typisch ist. In die­sem Fall ist es wich­tig, dass es gelingt, die Figur ent­spre­chend der Inten­ti­on des Autors zu modellieren.

Da wir im deutsch­spra­chi­gen Raum kei­ne ähn­li­che Zwei­spra­chig­keit haben, las­sen sich die Schat­tie­run­gen und Nuan­cen oft nur bedingt wie­der­ge­ben, die Iro­nie, die man im Ukrai­ni­schen allein durch den Sprach­wech­sel mit­liest, geht oft ver­lo­ren. So ergibt sich der Witz des Kapi­tels „Die Mut­ter­fi­gur der ukrai­ni­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur“ in Olek­sij Tschu­pas Roman Mär­chen aus mei­nem Luft­schutz­kel­ler aus der Tat­sa­che, dass die Prot­ago­nis­tin sehr stolz auf ihre Abstam­mung aus einer ukrai­ni­schen Kosa­ken­fa­mi­lie ist und vor ihrer Pen­sio­nie­rung ukrai­ni­sche Spra­che und Lite­ra­tur unter­rich­tet hat, die Spra­che aber feh­ler­haft spricht. Trotz ver­schie­de­ner sti­lis­ti­scher Anpas­sun­gen lässt sich im Deut­schen nicht der glei­che Effekt erzie­len wie im Original.

Was kann Ukrai­nisch, was Deutsch nicht kann?

Wie alle sla­wi­schen Spra­chen kann das Ukrai­ni­sche Ablei­tun­gen bil­den, die den ver­schie­dens­ten expres­si­ven Gehalt trans­por­tie­ren, zum Bei­spiel mit der Ver­klei­ne­rungs­form:: жіночка (Ver­klei­ne­rungs­form von жінка) ist nicht ein­fach eine klei­ne Frau, son­dern kann eine adret­te, muti­ge, lus­ti­ge, lächer­li­che, gelieb­te, zufäl­lig vor­bei­ge­kom­me­ne, abge­ris­se­ne oder auf­ge­ta­kel­te Frau sein. All die­se Bedeu­tun­gen kann das Infix –оч transportieren. 

Außer­dem ist das Ukrai­ni­sche weni­ger kodi­fi­ziert als das Deut­sche, was bedeu­tet, dass die Spra­che über sehr vie­le Syn­ony­me ver­fügt, regio­na­le Vari­an­ten, die aller­dings nicht als Dia­lek­te, son­dern als gleich­be­rech­tigt neben­ein­an­der ste­hen­de Aus­drucks­mög­lich­kei­ten emp­fun­den wer­den. Die Wör­ter sind sich häu­fig ähn­lich. Durch die­se Viel­falt ent­steht ein gro­ßer Aus­drucks- und vor allem in der Lyrik ein gro­ßer Klang­reich­tum. So gibt es zum Bei­spiel für den Aus­druck „weit ent­fernt“ nicht weni­ger als acht Syn­ony­me: віддалік, віддаля, віддалеки, поодаль, віддалі, поодалік, віддаль, подаль, одаль. Sie alle ver­fü­gen über den gemein­sa­men Stamm даль–  ent­fernt, jedoch wer­den sie unter­schied­lich prä­fi­giert und suf­fi­giert und haben auch eine unter­schied­li­che Beto­nung. So las­sen sich Wör­ter mit einer syn­ony­mi­schen Bedeu­tung, aber unter­schied­li­chen rhyth­mi­schen und klang­li­chen Eigen­schaf­ten gebrauchen.


Clau­dia Dathe

Clau­dia Dathe (*1971) stu­dier­te Über­set­zungs­wis­sen­schaft (Rus­sisch, Pol­nisch) und Betriebs­wirt­schafts­leh­re in Leip­zig, Pja­ti­gorsk und Kra­kau. Nach län­ge­ren Aus­lands­tä­tig­kei­ten in Kasach­stan und der Ukrai­ne arbei­te­te sie von 2009 bis 2020 als Koor­di­na­to­rin für Pro­jek­te zum lite­ra­ri­schen Über­set­zen und zum euro­päi­schen Kul­tur­aus­tausch am Sla­vi­schen Semi­nar der Uni­ver­si­tät Tübin­gen. Seit Mai 2021 koor­di­niert sie das For­schungs­ver­bund­pro­jekt „Euro­pean Times“ an der Kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Fakul­tät der Euro­pa­uni­ver­si­tät Via­dri­na. Sie über­setzt Lite­ra­tur aus dem Rus­si­schen und Ukrai­ni­schen. Im Jahr 2020 wur­de sie zusam­men mit Yev­ge­nia Bel­o­ru­sez für das Buch „Glück­li­che Fäl­le“ mit dem Inter­na­tio­na­len Lite­ra­tur­preis und 2021 für die Über­set­zung von Ser­hij Zhadans Gedicht­band „Anten­ne“ mit dem Dra­homán-Preis aus­ge­zeich­net. (Foto: privat)


Wir suchen für die Rubrik „Gro­ße klei­ne Spra­che“ Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, die Lust haben, ihre „klei­ne“ Spra­che mit unse­rem Fra­ge­bo­gen vor­zu­stel­len. Wenn du dich ange­spro­chen fühlst, mel­de dich ger­ne unter redaktion@tralalit.de.


Die Peri­phe­rie im Zentrum

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Auf der Suche nach außer­ge­wöhn­li­chem Lese­stoff? Hier wer­det ihr fün­dig: eine lite­ra­ri­sche Ent­de­ckungs­rei­se durch Rumänien… 
  1. Bei der Beant­wor­tung die­ser Fra­ge stüt­ze ich mich maß­geb­lich auf den Auf­satz von Olha Hont­schar, Nelia Vak­hovs­ka und Clau­dia Dathe Ukrai­ne in: Scham­ma Schaha­dat, Štěpán Zby­tovs­ký (Hg.). Über­set­zungs­land­schaf­ten. The­men und Akteu­re der Lite­ra­tur­über­set­zung in Ost- und Mit­tel­eu­ro­pa. Bie­le­feld, tran­skript, 2016, S. 229–246.

2 Comments

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  1. 1
    Blogophilie Februar 2022 | Miss Booleana

    […] Gro­ße klei­ne Spra­che Ukrai­nisch Das Maga­zin für über­setz­te Lite­ra­tur, TraLaLit, geht zusam­men mit Clau­dia Dathe auf die Beson­der­hei­ten der ukrai­ni­schen Spra­che ein, nenntn Autor*innen, die schon über­setzt wur­den und noch nicht und ich konn­te mit dem Wis­sen erfolg­reich vor mei­nem Mut­ter­sprach­ler angeben. […]

  2. 2
    Isabella Baranowski

    Ein sehr schö­ner Arti­kel, eine klei­ne Hom­mage an unpre­ten­tiou­sen, unideo­lo­gi­sier­ten Umgang mit Spra­chen❤️

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