Lesen Sie die Bücher, die Sie übersetzen, erst einmal als Leser oder fangen Sie direkt an zu übersetzen?
Stephan Kleiner: Das ist abhängig vom Buch bzw. dem Angebot, mit dem der Verlag auf mich zukommt. Bei Debuts oder Autoren, mit denen ich noch nicht vertraut bin, schmecke ich hinein, lese quer, um einzuschätzen, ob es mit dem Text und mir was werden könnte. Gründe, einen Auftrag abzulehnen, gibt es ja auch neben der mutmaßlich zu veranschlagenden Zeit einige: Vielleicht fühle ich mich der Aufgabe schlicht nicht gewachsen, vielleicht sagt mir der Inhalt nicht zu, vielleicht ist die Sprache völlig verquast. (Mitunter kommt auch alles zusammen.) Aber die Verkostung hilft auch bei der Entscheidung, welches Honorar ich angesichts der zu erwartenden Herausforderungen wohl aufrufen muss, damit die Selbstausbeutung im gesellschaftlich anerkannten Rahmen bleibt. Bei Autoren, die ich bereits adoptiert habe, entfällt der Prozess normalerweise, da geht es per Kopfsprung direkt ins Vergnügen.
Ein wenig Leben – Hanya Yanagiharas zweiter Roman, dessen deutsche Übersetzung 2017 erschien – war weltweit ein großer Erfolg und wird noch immer von vielen Leser:innen neu entdeckt. Hat der Erfolg Sie überrascht?
Ja und nein. Ich hatte vorher lange mit Karsten Kredel, seinerzeit noch Leiter von Hanser Berlin, darüber gesprochen, der mich sehr gut darauf einstimmte, womit wir es zu tun hatten. Während der Arbeit wurde mir dann immer stärker bewusst, was für ein epochaler Text das war – aber auch, dass er polarisieren würde. Als im Netz nach der Lektüre entrückte Tränen-Selfies gepostet wurden, hat mich das dann aber doch überrascht, auch wenn ich selbst bei der Arbeit durchaus mal feuchte Augen hatte.
Woran haben Sie erkannt, dass es sich um einen epochalen Text handelt?
Was Karsten mir geschildert hatte, war eine Erzählung von beinahe biblischen Ausmaßen – ein unerhörter Leidensweg, in dessen Verlauf Gut und Böse und alles dazwischen auf geradezu märchenhafte Weise überzeichnet war, ein Experiment mit dem Ziel, herauszufinden, wie weit sich die Schraube der Verheerung drehen ließe und ob es für ein offenbar heillos verlorenes Leben doch noch so etwas wie Errettung geben könne. Der Text wurde diesem Versprechen gerecht, und die Unablässigkeit, mit der die Autorin diese Abwärtsspirale vorantreibt, das Kompromisslose, Exzessive daran, all das lässt den Roman nach wie vor singulär in der Literaturlandschaft dastehen – die in meinen Augen durchaus mehr davon vertragen könnte.
Sie haben alle Romane von Yanagihara übersetzt. Hat man als Übersetzer irgendwann das Gefühl, die Autorin und ihren Stil zu kennen bzw. durchdrungen zu haben?
Hanya schrieb mir kürzlich, ich hätte als Einziger alle drei Romane von ihr in eine andere Sprache übertragen (was mir nicht bewusst gewesen war) und müsse daher gewisse Muster wohl schon von Weitem erkennen. Ich bin mir da nicht so sicher. Zunächst einmal habe ich sie alle drei als sehr individuell empfunden, wobei es natürlich gewisse Stränge gibt, die sich durch das ganze Werk ziehen. Besonders bei der Arbeit an ihrem Erstling Das Volk der Bäume, der ja nach Ein wenig Leben auf Deutsch erschien, habe ich im früheren Roman quasi paradoxale Echos des späteren entdeckt, was mir einen eigentümlichen Kitzel verschafft hat. Ihr Stil kam mir von Anfang an entgegen, denn sie geizt zwar nicht mit Hypotaxen und Parenthesen, was sich beim Übersetzen oft anfühlt wie ein Runde „Ich packe meinen Koffer …“: Man hat ständig Angst, bei der Übertragung irgendetwas Wichtiges zu vergessen. Andererseits aber zeichnet er sich durch eine große Klarheit aus. Das Schlimmste beim Übersetzen ist ja, den Inhalt des Originals nicht zweifelsfrei deuten zu können, und das passiert mir bei ihr selten.
Stehen Sie immer in Kontakt mit den Autor:innen, die Sie übersetzen, oder übersetzen Sie eher für sich?
Das ist ganz unterschiedlich, aber im Normalfall versuche ich sie nicht mit Fragen zu behelligen, was meist auch gelingt. Generell besteht die Aufgabe des Übersetzers ja darin, sich in jeder Beziehung unsichtbar zu machen, und die Herrschaften haben meist auch so genug zu tun. Natürlich gibt es solche, die ihrerseits ein großes Interesse an den Übersetzungen offenbaren, denen steht man dann natürlich Rede und Antwort, und das sehr gern.
Sie haben lange Zeit auch als Lektor bei DuMont gearbeitet. Hilft diese Erfahrung beim Übersetzen oder muss man die Stimme des Lektors ausschalten?
Ich glaube und hoffe, dass sich beide Tätigkeiten gegenseitig befruchten. Ganz pragmatisch betrachtet, hilft es, glaube ich, beim Umgang mit dem Gegenüber im Verlag, wenn man sich in seine Position hineinfühlen kann, wenn man auch den Druck und die ganz eigenen Sachzwänge kennt, die damit verbunden sind. Es ist weiß Gott kein einfacher Job. Was die Textarbeit angeht, glaube ich, dass es mir vielleicht beim Polieren zugutekommt, also bei den Durchgängen, die auf den ersten Entwurf folgen. Da gibt es oft noch rot markierte Stellen, für die mir dann plötzlich die offensichtliche Lösung in den Sinn kommt, weil ich nun sozusagen die Lektorenbrille aufhabe. Zuletzt hoffe ich, dass es mich bei der konkreten Textarbeit vielleicht etwas weniger eitel macht. Die stets aufs neue überraschende völlige Blindheit den eigenen Idiosynkrasien gegenüber macht den fremden Blick letztlich doch unabdingbar, und ich glaube, ich habe ein recht ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass eine Übersetzung immer in einer Zusammenarbeit entsteht, zu der beide Seiten beitragen, und zwar hoffentlich ihr Bestes. Vielleicht ist das aber auch alles Quatsch, und es geht anderen Übersetzern ganz genauso.
Die Übersetzung von Yanagiharas neuem Roman Zum Paradies erschien nun zeitgleich mit dem Original. Wie groß war der Druck, die deutsche Version rechtzeitig fertig zu bekommen?
Er war spürbar. Andererseits bin ich das gewohnt und arbeite eigentlich ganz gern auf so eine quasi rauschhafte Weise, in der man im Grunde von morgens bis abends nichts anderes tut, als zu übersetzen. Ein paar Monate lang geht das immer gut, danach muss man sich notdürftig wieder zusammenflicken, Wunden lecken, kurz überprüfen, ob körperlich und geistig noch alles einigermaßen im Lot ist, einmal an die frische Luft gehen, und dann fängt der Wahnsinn wieder von vorne an. Rinse and repeat.
Hat Ihnen der Roman gefallen? Und muss ein Roman überhaupt gefallen, damit man ihn gut übersetzen kann?
Er muss nicht gefallen, um gut übersetzt zu werden, die Arbeit macht dann nur mehr Spaß. Für eine gute Übersetzung kommt es vor allem darauf an, dass das Original gut geschrieben ist. Je luzider der Ausgangstext, desto besser die Übersetzung, so empfinde ich zumindest. Hanya ist, wie gesagt, eine Autorin, die sich sehr präzise auszudrücken versteht, was die Arbeit erleichtert. Dazu schätze ich die oben erwähnte Kompromisslosigkeit. Ob mir ein Buch „gefallen“ hat, das vermag ich allerdings meist erst mit Abstand zu sagen. Interpretationen und Geschmacksurteile zu den von mir übersetzten Büchern fallen mir oft schwer, weil ich notgedrungen sehr dicht am Text arbeite. Das klingt vielleicht erst einmal widersprüchlich, aber tatsächlich ist mein Blick naturgemäß auf das einzelne Wort gerichtet, wodurch man das große Ganze schon mal aus den Augen verlieren kann. Wie Beppo Straßenkehrer aus Michael Endes großem philosophischen Roman Momo denke ich, gerade bei derart umfangreichen Büchern, nie an die ganze Straße auf einmal, sondern immer nur an den nächsten Schritt, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Beim Arbeiten entsteht so, wenn es gut läuft, eine Art meditative Versenkung in den Text, die dem Ergebnis meiner Ansicht nach förderlich sein kann, aber was interpretatorische Rundumschläge angeht, würde ich persönlich mir eher kein Gehör schenken. Dass Zum Paradies aber nicht nur ein umfangreicher, sondern eben auch ein großer Roman ist, das habe selbst ich gemerkt.
Der Roman besteht aus drei in sich geschlossenen Teilen und mehreren Erzählstimmen, die zwar in unterschiedlichen Jahrhunderten leben und unterschiedlichen Geschlechts sind, aber denselben Namen tragen oder dieselbe Rolle einnehmen. Haben Sie diese Stimmen als Individuen wahrgenommen oder sind sie lediglich Teil eines größeren Ganzens?
Ja, einen leichtfüßigen Hallodri wie Edward versucht man schon anders zu übersetzen als einen humorlosen Royalisten wie Edward oder einen undurchschaubaren Ehemann wie Edward.
Verliert man dabei nicht trotzdem irgendwann den Überblick?
Das fand ich weniger schwierig, weil ich die drei Bücher bei der Arbeit als eigenständige Teile erlebt und behandelt habe. Da es sich bei dem jeweiligen Edward, David oder Charles ja stets um eine kohärente, in sich stimmige Figur mit ihren ganz eigenen Charakteristika handelt, konnte ich beim Übersetzen über die Namensgleichheit eigentlich leicht hinwegsehen.
Im letzten Teil wird der Roman zur Dystopie. Mehrere Pandemien haben dafür gesorgt, dass totalitäre Regime an die Macht gekommen sind und viele normale Aktivitäten – Internetnutzung oder Bücherlesen – untersagt sind. Entfaltet der Roman seine Wirkung über die Nähe zu aktuellen Ereignissen?
Im deutschsprachigen Feuilleton ist diese scheinbare Nähe stark herausgestellt worden, was wohl in gewisser Weise zum Tagesgeschäft gehört. Ich selbst habe diesen Teil nie als direkten Kommentar zu aktuellen pandemischen Ereignissen verstanden – wenn überhaupt, dann allenfalls im Sinne einer Warnung vor der zersetzenden Wirkung des Menschen auf die Habitate unterschiedlicher Wildtiere und den Folgen, die sich für kommende Generationen daraus ergeben. Aber als Menetekel des unmittelbar drohenden Überwachungsstaats mag ich ihn nicht lesen, das wäre mir persönlich zu platt. Im Übrigen hat die Autorin auch darauf hingewiesen, dass selbst dieser dystopische Teil vor dem Ausbruch der Corona-Epidemie konzipiert wurde.
Yanagiharas Romane enthalten außerdem sehr bildliche Schilderungen von Missbrauch, Pädophilie und häuslicher Gewalt, die für eine intensive Leseerfahrung sorgen. Kann man solche Szenen einfach runter übersetzen oder wie gehen Sie als Übersetzer damit um?
Augen auf und durch. Man darf die psychische Komponente tatsächlich nicht unterschätzen, schließlich diffundiert der Text wirklich durch einen hindurch, man schreibt das Buch ja, in dem Sinne, dass man sich dem Text zum einen vorbehaltlos ausliefert und zum anderen etwas entstehen lässt, was in der Zielsprache vorher noch nicht existierte. Das hat eine kreative und auch emotionale Komponente, die oft übersehen wird. Manchmal glaube ich, es ist ähnlich wie bei Schauspielern, die sich einen Text aneignen – Empathie und die Fähigkeit, sich in die Protagonisten einzufühlen, sind dabei unverzichtbar, und wenn jemand wie Jude in Ein wenig Leben so nachhaltig durch den Fleischwolf gedreht wird, fordert das seinen Tribut. Aber nach einer heißen Dusche und einem kalten Bier geht es meist wieder.
Findet diese Aneignung beim Übersetzen immer statt oder nur, wenn man irgendeinen persönlichen Zugang zu dem Text findet?
Eigentlich immer, weil sie eine Voraussetzung für die Arbeit ist. Jedem Text wohnt – übrigens ganz unabhängig von der Autorenpersona: Es gibt dann, Gruß an Derrida, tatsächlich nichts außerhalb des Textes – ein bestimmter Geist inne, den ich herauszukitzeln habe. Das alles geschieht textimmanent, durch eine Art subkutane Empathie, die man nicht zwingend unmittelbar spürt, die aber a priori vorhanden ist.
Ihre Figuren befinden sich auf dem Weg „zum Paradies“. Nach 800 Seiten Krankheit, Verlust und der Wendung ins Dystopische fragt man sich, was dieses Paradies eigentlich sein soll. Haben Sie eine Antwort?
Was immer es sein mag, ich habe meine Zweifel daran, dass es überhaupt existiert. Aber irgendwo in Momo steht bestimmt auch, dass nicht nur beim Übersetzen der Weg das Ziel ist.