Ste­fan Mos­ter: der Erfinderische

An Volter Kilpis „Im Saal von Alastalo“ sind schon einige Übersetzer:innen gescheitert. Stefan Moster hat sich an den finnischen Klassiker gewagt – und ist nun für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Von

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022: Stefan Moster für „Im Saal von Alastalo“. Foto: Mathias Brothor

Am 17. März wer­den die Prei­se der Leip­zi­ger Buch­mes­se ver­ge­ben, unter ande­rem in der Kate­go­rie Über­set­zung. Auf TraLaLit stel­len wir die Nomi­nier­ten vor. Alle Bei­trä­ge der Rei­he sind hier zu finden.

Das Buch

Auch wenn Vol­ter Kil­pis Alas­ta­lon salis­sa mit über 1100 Sei­ten mit Fug und Recht als Wäl­zer gel­ten darf, die Hand­lung ist schnell erzählt: An einem Herbst­tag im Jahr 1864 kom­men 28 Land­be­sit­zer auf Alas­ta­lo, dem Gut des Her­mann Mats­son, zusam­men, und zeich­nen Antei­le an einer Drei­mast­bark, einem Hoch­see­fracht­schiff. Da ist zum einen Mats­son, auch Alas­ta­lo genannt, der längst nicht der Reichs­te unter ihnen ist, son­dern in ers­ter Linie ein Orga­ni­sa­ti­ons­ta­lent; der wohl­ha­ben­de Lang­hol­ma, dem die Ent­schei­dungs­be­fug­nis über das Pro­jekt obliegt; Pukki­la, der Unter­le­ge­ne, der stän­dig gegen die Mäch­ti­gen in der Grup­pe rebel­lie­ren muss (und sei es auch nur in Gedan­ken), und Här­kä­nie­mi, der Geschich­ten­er­zäh­ler, der die bes­ten „His­tör­chen“ zu bie­ten hat. 

Über­haupt wird bei Kil­pi viel erzählt, aber noch viel mehr gedacht. Man spricht nur sel­ten mit­ein­an­der, lie­ber ergeht man sich in lan­gen inne­ren Mono­lo­gen. Ereig­nis­se, ob sie sich nun in der Gegen­wart oder in der Ver­gan­gen­heit abspie­len, wer­den zugleich von innen und von außen bewer­tet. So erhält das Publi­kum einen Rund­um­blick auf das Sujet, näm­lich die Drei­mast­bark, die dem fin­ni­schen Schä­ren­ort Wohl­stand brin­gen soll, aber auch ein sehr teu­res Unter­fan­gen ist, das sorg­fäl­tig geplant wer­den will. Zu so einem Pro­jekt hat natür­lich jeder eine Mei­nung: der eine, weil es ihm ein Her­zens­an­lie­gen ist, die Gemein­schaft wirt­schaft­lich zu stär­ken, der ande­re, weil er sich als tüch­ti­ger Geschäfts­mann pro­fi­lie­ren möch­te – und dann gibt es auch noch die, die sich das gan­ze Spek­ta­kel belus­tigt von der Sei­ten­li­nie aus anschau­en. Zwi­schen den Män­nern bestehen stren­ge, aber stets unaus­ge­spro­che­ne Hier­ar­chien. So ist zum Bei­spiel gere­gelt, wer sich auf das edle Sofa in der Stu­be set­zen darf und wer die Ehre hat, sich eine Pfei­fe aus Alas­ta­los fein­sor­tier­tem Regal zu nehmen.

Nach sei­ner Erst­ver­öf­fent­li­chung 1933 war Kil­pis Roman lan­ge ver­ges­sen und höchs­tens Spezialist:innen ein Begriff. Das änder­te sich 1992, als die Zei­tung Hel­sin­gin San­go­mat das Buch zum bes­ten fin­ni­schen Roman über­haupt kür­te – eine Über­ra­schung, da die­ser Platz eigent­lich für Alek­s­is Kivi, Finn­lands Natio­nal­dich­ter, und sei­ne Sie­ben Brü­der vor­ge­se­hen war. Kil­pi kann­te nie­mand, aller­dings fing man nun an, sich für Alas­ta­lon salis­sa zu inter­es­sie­ren, das den Ruf hat­te, lang, schwer und unge­nieß­bar zu sein. Wie soll man sich einem Buch nähern, das in der Tra­di­ti­on von Proust und Joy­ce steht? Man lese es jeden Monat ganz, dann träu­me man inten­siv, riet ein fin­ni­scher Musi­ker. (Ob im Scherz, ist lei­der nicht bekannt.) Und wenn man irgend­wann fer­tig ist, kann man nach Finn­land fah­ren und sich ein T‑Shirt kau­fen, auf dem „Ich habe Alas­ta­lon salis­sa gele­sen“ steht.

Die Jury­be­grün­dung

Ste­fan Mos­ter über­setzt Im Saal von Alas­ta­lo von Vol­ter Kil­pi mit sprü­hen­dem Witz und beein­dru­cken­dem Erfin­dungs­reich­tum. Der Klas­si­ker der fin­ni­schen Moder­ne wird durch sei­ne enor­me sprach­li­che Prä­zi­si­ons­ar­beit zu einer höchst gegen­wär­ti­gen und ver­gnüg­li­chen Lektüre.

Die Über­set­zung

Die Ran­ge­lei­en der Land­be­sit­zer unter­ein­an­der sind das eine The­ma des Romans, das ande­re ist die Spra­che. Denn so unge­wohnt der Text bei sei­nem erst­ma­li­gen Erschei­nen, 1933, in den Ohren sei­ner Leser:innen geklun­gen haben mag, so modern ist er in Ste­fan Mos­ters Über­set­zung geblie­ben. Kil­pi woll­te die fin­ni­sche Spra­che revo­lu­tio­nie­ren. Er bedien­te sich am Dia­lekt sei­nes Hei­mat­orts Kustavi, warf schwe­di­sche Lehn­wör­ter ein, brach die Gram­ma­tik gezielt und schuf doch ein zusam­men­ge­setz­tes Kunst­werk – alles in einer bild­präch­ti­gen Spra­che, die die Innen­welt der Prot­ago­nis­ten und ihre Sicht auf ihre Umge­bung in aus­la­den­de Meta­phern klei­det. Mos­ter schafft es, die Figu­ren in einem stim­men­viel­fäl­ti­gen, vom Rhyth­mus des Mee­res getra­ge­nen Text auch im Deut­schen zum Reden zu bringen.

Kil­pis Spra­che hat sei­ne bis­he­ri­gen Über­set­zer vor ekla­tan­te Pro­ble­me gestellt. Der Dich­ter Elmer Dik­to­ni­us, der sich noch zu Leb­zei­ten des Autors an eine schwe­di­sche Fas­sung wag­te, muss­te das Hand­tuch schmei­ßen. Sei­nem Kol­le­gen Tho­mas War­bur­ton gelang 1997 dann doch eine Über­set­zung: Er ver­öf­fent­lich­te I salen på Alas­ta­lo im Stock­hol­mer Atlan­tis-Ver­lag. Auf Eng­lisch ist bis­lang nur das ers­te Kapi­tel ver­füg­bar, über­setzt hat es Dou­glas Robin­son. Auch auf Deutsch lag bis 2021 nur das drei­zehn­te Kapi­tel vor, das Gabrie­le Schrey-Vasa­ra 2014 im Arco-Ver­lag publizierte.

Der ewi­ge Streit zwi­schen Buch­sta­ben­treue und krea­ti­ver Anver­wand­lung macht auch vor Kil­pis Roman nicht Halt. Wäh­rend War­bur­ton aus älte­rer schwe­di­scher Lite­ra­tur eine Art hoch­sprach­li­chen Dia­lekt schuf, der den Eigen­hei­ten des Aus­gangs­tex­tes zumin­dest ein wenig nahe­kam, und damit sowohl einen phi­lo­lo­gi­schen als auch einen trans­for­ma­to­ri­schen Ansatz ver­folg­te, ent­wirft Dou­glas Robin­son eine stark rhyth­mi­sier­te, an Shake­speares Eng­lisch ange­lehn­te Lite­ra­tur­spra­che. Das ist zwar vor allem für jene inter­es­sant, die so eine ver­frem­den­de Über­set­zung vor­zie­hen, stößt aber längst nicht immer auf Gegen­lie­be. Ein fin­ni­scher Red­dit-Nut­zer merkt beim Ver­gleich von Ori­gi­nal und Robin­sons Über­set­zung an, dass die­ser vie­le obsku­re Wör­ter benutzt, wo Kil­pi doch eigent­lich recht klar ist (und steu­ert gleich einen eige­nen Über­set­zungs­vor­schlag bei.)

Mos­ter nimmt im ewi­gen Wider­streit die Posi­ti­on des Phi­lo­lo­gen ein. Das schließt eine krea­ti­ve Bear­bei­tung natür­lich nicht aus, denn das Fin­ni­sche, eine agglu­ti­nie­ren­de Spra­che, hat mit einer indo­eu­ro­päi­schen Spra­che wie dem Deut­schen wenig zu tun. Gram­ma­ti­sche Funk­tio­nen, etwa Per­son und Zeit, wer­den durch Affi­xe kennt­lich gemacht. Der Roman­ti­tel Alas­ta­lon salis­sa zum Bei­spiel lässt sich fol­gen­der­ma­ßen zer­le­gen: Das –n von „Alas­ta­lo“ deu­tet ein Besitz­ver­hält­nis an, das –issa in „salis­sa“ ist ein Lokal­ka­sus. Mos­ter über­setzt den Titel mit „Im Saal von Alas­ta­lo“ und gibt dadurch sowohl das Besitz­ver­hält­nis als auch die Orts­an­ga­be wieder. 

Die­ses „Bau­kas­ten­prin­zip“ nutzt Kil­pi im vol­len Umfang aus, bringt aber auch dia­lek­ta­le Wör­ter oder schwer über­setz­ba­res mari­ti­mes Fach­vo­ka­bu­lar mit ein, wie Mos­ter im Inter­view mit TraLaLit erklärt. Aus­drü­cke, die in ande­ren Spra­chen kei­ne Ent­spre­chung haben, stel­len Übersetzer:innen immer vor Her­aus­for­de­run­gen und las­sen sich oft auch nur ansatz­wei­se wie­der­ge­ben. Das Haupt­au­gen­merk bei Kil­pis Roman muss also auf sei­ner künst­le­ri­schen Gestal­tung lie­gen. „Der gan­ze Text ist durch­rhyth­mi­siert“, schreibt Ste­fan Mos­ter in sei­nem Nach­wort, „hat gewis­ser­ma­ßen ein Metrum“. Doch nicht nur das, auch Ver­glei­che und Meta­phern spie­len eine über­ge­ord­ne­te Rol­le. Kil­pi, führt Mos­ter wei­ter aus, springt oft von einem The­men­ge­biet ins nächs­te, und neigt zu Über­trei­bun­gen, was Alas­ta­lo zu einem urko­mi­schen, ja pikar­esken Roman macht. Wie das kon­kret aus­sieht, möch­te ich an einer Stel­le aus­füh­ren – und dafür einen Absatz in sei­ner Gän­ze zitieren.

„No, noo, und noch mal no“, beeil­te sich Här­kä­nie­mi auf der Stel­le, die jun­ge Rob­be zu erleich­tern und den straf­fen Plau­der­fa­den zu lockern und Einig­keit zu schnü­ren: Er moch­te durch­aus ein kräf­ti­ger Bur­sche sein und auf Deck fest auf den Bei­nen ste­hen, wenn die Kat­ze des Mee­res auf der nas­sen Sei­te der Reling haa­rig zisch­te und Kat­zen­spu­cke an Bord spie, und er genier­te sich auch nicht, wenn ihm mal Grö­be­res aus dem Bart kam, weil der Wind in den Mas­ten sich zum Luchs auf­schwang und man sich an Deck den Mund blu­tig und die See­le sün­dig flu­chen muss­te, bevor den Jungs auf den Rahen die Idee in den Schä­del kam, dass der Mensch des­halb einen Fin­ger­re­chen an der Hand hat, damit er damit anpackt, wenn es nötig ist, und ein Mann des­halb Schmalz in den Schul­tern und Zähig­keit in den Arm­seh­nen, damit er zieht, und sei es wie ver­rückt, falls der Teu­fel sei­ner­seits eben­so wie ver­rückt mit sei­nen Kral­len an den Tuch­rän­dern hängt; womög­lich war Här­kä­nie­mi an Deck ein Mann mit stand­fes­ten Fer­sen und mit Wor­ten aus dem Mund wie geteer­te Taue, wenn er als Mann die Zäh­ne zei­gen muss­te, weil das Meer es eben­falls tat, aber güti­ger Gott, was für eine Natur, wenn er an Land war, wie war er weich und wie platt sein Bart, wenn auf dem Par­kett auch nur der Rock­saum eines Frau­en­zim­mers erschien: Fluch­te der Mund da etwa noch, dass selbst einem Mann das Blut gefror, wenn er es hör­te, und spür­te man im Fell des Wid­ders noch den Eber und in Kapi­tän Här­kä­nie­mi noch jenen Mann, bei dem das Augen­paar schlim­mer fla­cker­te als bei einem Schafs­dieb vor dem Tisch in der Gerichts­stu­be, wenn es doch wäh­rend der Kaf­fee­nah­me den gan­zen Mann for­der­te, die Mund­brav­heit zu wah­ren und die sons­ti­ge Daseins­fröm­mig­keit so glatt und gestri­chen zu hal­ten, wie sie glatt­fel­lig gewahrt wer­den muss­te, wenn man das Gemüt vol­ler Man­na hat und das Fens­ter­au­ge einen so aller­liebs­ten und dem Her­zen gefäl­li­gen leben­di­gen Men­schen­fun­ken erblickt und man es als Got­tes Lohn emp­fin­den muss, wenn ein gro­bes Men­schen­au­ge der­glei­chen unge­straft betrach­ten darf? Man stel­le sich nur vor, in den Sälen des Him­mels wären die Boden­plan­ken aus blan­kem, glat­tem Glas und das har­te Los wür­de den Mann mit Haut und Haar und allen sei­nen Sün­den dort vom Schiffs­deck aus hin­ein­wer­fen, um mit sei­nen hol­län­di­schen Holz­pan­ti­nen über jene Spie­gel zu spa­zie­ren, dann wüss­te man, wie man sich bewegt, wenn man sich vor­sich­tig auf dem Par­kett zu bewe­gen hat; und gera­te mit dei­nem fes­ten männ­li­chen See­manns­mund in ein Gespräch mit einem Mäd­chen­kind, ange­sichts des­sen du wahr­haf­tig nicht im Bil­de bist, ob der Blick des Men­schen aus einem Stoff ist, den man über eine so zar­te Ober­flä­che füh­ren darf, wie es die Haut auf dem Gesicht des Täub­chens ist, und ob die Stim­me des Men­schen in der Keh­le eine so sanf­te Got­tes­ga­be ist, dass es sich schickt, sie ohne Scheu in Hör­wei­te eines Ohren­paars zu benut­zen, vor des­sen emp­find­li­chen Muscheln nur die Flö­te eines Engels sich zu den feins­ten Klän­gen und sil­ber­nen Läu­fen ihres Fläu­selns erdreis­ten dürf­te, dann weißt du, wie ein Mensch sich dafür schämt, dass er von der Haut wie vom Gemüts­ge­wand her nicht fei­ner gewebt ist, und wie auch der Demü­ti­ge manch­mal in sei­nem Fleisch gegen die Wer­ke Got­tes auf­be­gehrt und inner­lich den Umstand ver­wünscht, dass aus­ge­rech­net da, als er gemacht wur­de, ein rau­es Gesicht und sons­ti­ges grob Männ­li­ches ent­stand, wo doch mit dem glei­chen Schöp­fungs­be­mü­hen und Arbeits­schweiß mit etwas Glück selbst bei ihm ein Gesicht hät­te gelin­gen kön­nen, auf dem durch­aus auch das Auge des Mäd­chen­kin­des, ohne Scha­den davon­zu­tra­gen und zu sei­nem vol­len Ver­gnü­gen, für einen Augen­blick hät­te ver­wei­len kön­nen; und ansons­ten eine Gemüt­lich­keit des Her­zens, dass selbst das Wun­der­fräu­lein tief in sei­nem Her­zen den Mann als Men­schen erken­nen wür­de, des­sen Obhut auch die Schüch­ter­ne sich anver­trau­en kann, so wie ein Vogel sich sanft flat­ternd mit sei­nem Schau­kel­bauch den leich­ten Lüf­ten anvertraut.

Hier weiß man nach der Lek­tü­re zunächst nicht, wo einem der Kopf steht, aber wenn man die Pas­sa­ge ein zwei­tes Mal liest, bemerkt man, wie sorg­sam sie gear­bei­tet ist. Da ist die Rede von einer einem Mann und einem Mäd­chen – und dem oft­mals fei­nen Unter­schied zwi­schen dem Gro­ben und dem Fei­nen, dem Tie­ri­schen und dem Mensch­li­chen. Eine Natur-Kul­tur-Dicho­to­mie also, die Kil­pi mit Bei­spie­len aus dem All­tags­le­ben erör­tert. Er über­nimmt Fach­vo­ka­bu­lar aus der Tex­til­ver­ar­bei­tung und stellt es in einen fast schon archai­schen Ver­weis­zu­sam­men­hang. Da ist die Rede davon, „den straf­fen Plau­der­fa­den zu lockern“ und sich „Grö­be­res aus dem Bart“ zu zie­hen; man zerrt „Wor­te aus dem Mund wie geteer­te Taue“; die „Daseins­fröm­mig­keit“ ist „glatt und gestri­chen“; der Mäd­chen­blick ist aus einem spe­zi­el­len „Stoff“; und Här­kä­nie­mi, der Mann, der hier spricht, klagt, dass er „von der Haut wie vom Gemüts­ge­wand her nicht fei­ner gewebt ist“. 

Anders for­mu­liert, hier steht ein Mann vor einer jun­gen Frau und stellt fest, ihrer unwür­dig zu sein, denn er ist zu rau, zu unkul­ti­viert. Als Siviä, die Toch­ter des Guts­be­sit­zers Alas­ta­lo, vor ihn tritt, ver­steht Här­kä­nie­mi, dass er sich in einer Gemein­schaft bewegt, in der das Männ­li­che das Wil­de und das Weib­li­che das Kul­ti­vier­te ist, und zieht Meta­phern und Ver­glei­che aus der Tex­til­ver­ar­bei­tung her­an, um sich sei­ne Erkennt­nis vor Augen zu ver­bild­li­chen. Wenn die Figu­ren in Alas­ta­lo wis­sen wol­len, was die Welt bedeu­tet, dann ori­en­tie­ren sie sich oft an dem, was sie schon ken­nen, und über­tra­gen es auf das, was sie da vor sich sehen. Sol­che zise­lier­ten Bild­wel­ten haben eine Dop­pel­funk­ti­on: Einer­seits bie­ten sie einen Erklä­rungs­an­satz, ande­rer­seits stel­len sie kul­tu­rel­le Prä­gun­gen, im vor­lie­gen­den Bei­spiel etwa die patri­ar­chal struk­tu­rier­te Schä­ren­ge­mein­schaft, als sol­che heraus. 

Kil­pis Spra­che bringt, wie Mos­ter in sei­nem Nach­wort aus­führt, also „das Leben zum Aus­druck“, und zwar nicht nur durch Meta­phern, son­dern auch durch Klang. Rei­hun­gen mit „und“ ver­knüp­fen die ver­schie­de­nen Bild­be­rei­che mit­ein­an­der, Asso­nan­zen („zisch­te“, „Spu­cke“, „spie“) ver­mit­teln einen Ein­druck von der kab­be­li­gen See, Neo­lo­gis­men wie „fläu­seln“ neh­men zum einen das Tex­til-The­ma wie­der auf, sind aber auch anre­gend pro­duk­tiv, denn was ist mit die­sem Neu­wort gemeint? Ist es eine säu­seln­de Stim­me (etwa die des Mäd­chens, dem Här­kä­nie­mi gegen­über­steht), oder etwas sanft Geschwun­ge­nes, zum Bei­spiel die Ohr­mu­scheln, in die sei­ne Wor­te drin­gen? Das ist nicht ein­deu­tig – und soll auch nicht klar sein. Denn Kil­pi, schreibt Mos­ter, hat­te eine ande­re Sprach­auf­fas­sung als sei­ne Lan­des­ge­nos­sen, da er durch sei­ne „Lese­er­fah­run­gen über einen wei­ten lite­ra­ri­schen Hori­zont ver­füg­te“; Joy­ces Ulys­ses war ihm ein Begriff und Tho­mas Mann sein Vor­bild. Spra­che durf­te „schlicht­weg indi­vi­du­el­ler Aus­druck eines Schrift­stel­lers sein“, ein „‘irra­tio­na­les Ele­ment‘“ haben, wie in sol­chen Neo­lo­gis­men, die sich nicht rest­los ent­schlüs­seln lassen.

Ste­fan Mos­ter ist zu dan­ken, dass er die­sen so eigen­tüm­li­chen fin­ni­schen Autor ins Deut­sche über­tra­gen hat. Sei­ne Über­set­zung bleibt stets eng am Aus­gangs­text, ist aber immer von einer Lust an der Spra­che, am Spiel mit Wör­tern und Klän­gen getra­gen. Sie ist nicht nur völ­lig zurecht für den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se nomi­niert, son­dern wird gewiss als eine der gro­ßen lite­ra­ri­schen Leis­tun­gen der letz­ten zehn Jah­re auch in Zukunft noch Bestand haben.

Lieb­lings­stel­le

„Im Win­ter ist es Zeit, Stan­gen zu schnit­zen, jeden Win­ter ein Drit­tel neue Stan­gen, dann ist die Reu­se immer heil, und selbst der alte Tapa­ni im Haus erin­nert sich nicht mehr, ob der Groß­va­ter des alten Haus­herrn erzählt hat, die Reu­se sei ganz neu gewe­sen, als er sie von sei­nem Vater geerbt habe, oder nur zu einem Drit­tel, denn auch damals sei­en wei­ße Stan­gen zwi­schen den grau­en gewe­sen, im April tau­en die Wei­den­ru­ten auf, und an den Ufern riecht es feucht, dann dient der Fels als Web­stuhl, die har­zi­ge Rei­he der Reu­sen­stan­gen liegt wie ein Kett­fa­den da, und die ein­ge­weich­ten Rei­ser der Bir­ken­schöss­lin­ge wie ein Schuss­fa­den, das Manns­volk zieht und strafft mit zusam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen, flicht und fädelt, zwirnt und flicht, der Hof­herr wet­tert, die Knech­te sind in Schwung, zwi­schen ihnen wuseln die Kna­ben, es herrscht Eile, aus den Schnee­fel­dern schwin­det der spann­kräf­ti­ge Schim­mer, feucht glänzt die Fels­wan­ge im Son­nen­glit­zern, der schwan­ken­de hohe Wip­fel der Fich­te taucht mit grü­nen Trie­ben und üppi­ger Fri­sche in die Dunst­küh­le des Blaus ein, es herrscht Eile, schon schlägt der Sta­ke­ten­schwanz der Bach­s­tel­ze drän­gend auf die Rän­der der Rinn­sa­le, das Was­ser wim­melt plät­schert über das knor­ri­ge Geäder der gro­ben Kie­fern­wur­zeln, und bald erschallt am Him­mels­zelt der Ler­che klin­gen­des Won­ne­glöck­chen, Eile, es herrscht Eile, schon perlt es eis­frei an der Mün­dung der Meer­enge, das wal­len­de Was­ser glu­ckert schon mit mat­ten Augen in den Eng­stel­len des Sun­des, der Fisch ist in Fahrt, der Glit­schi­ge glei­tet dahin, der bun­te Barsch, der hell­graue Hecht, der alte Aland, auch die Sil­ber­schup­pe der Marä­ne, der gan­ze schwanz­schla­gen­de Besatz befin­det sich mit rudern­den Flos­sen in Scha­ren auf Mee­res­wan­de­rung, fri­sche freie Schwär­me strei­chen durch die freie Fri­sche, aus ewig kal­ten Küh­len, aus salz­ge­sät­tig­ten Tie­fen kom­men sie an in end­lo­sen Rei­hen, in Rei­hen, die sich ver­di­cken und ver­dich­ten, zu Tau­sen­den und Aber­tau­sen­den, stum­me Pro­zes­si­on der Ring­au­gen und Glanz­flan­ken, wenn in den offe­nen Eng­stel­len die Wel­le springt und das Mur­meln der Sun­de ruft: Mild ist im Was­ser der Geschmack, lieb­lich zu schnap­pen für die gie­ri­ge Kie­me, erd­süß das Per­len des flie­ßen­den Betts, weich an den Schup­pen das Spü­len des stre­ben­den Stroms; naht schon mit hoch­zeit­li­chem Plät­schern des Laich­ufers wil­li­ge und woh­li­ge Wärme?“


Vol­ter Kil­pi | Ste­fan Mos­ter

Im Saal von Alastalo

Im fin­ni­schen Ori­gi­nal: Alas­ta­lon salis­sa: Kuv­aus saa­ris­tos­ta

Mare 2021 ⋅ 1136 Sei­ten ⋅ 68 Euro 


Anm. d. Red.: Die­ser Bei­trag wur­de ohne Kennt­nis der Ori­gi­nal­spra­che ver­fasst. Mehr zum The­ma hier.


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