Am 17. März werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
„Wann kommst du wieder?“ Mit dieser Frage beginnt Itō Hiromis Roman Dornauszieher: Der fabelhafte Jizō von Sugamo. Gestellt wird sie von der Mutter der Erzählerin, die ebenfalls den Namen Itō Hiromi trägt. „Diesen Monat noch nicht, Mutter“ lautet die Antwort. Itō sei zu beschäftigt und könne erst im August vorbeikommen. „Viel zu tun zu haben ist immer gut“, erwidert die Mutter.
Hinter diesem scheinbar harmlosen Austausch steckt mehr Konfliktpotenzial, als man anfangs erwarten würde. Itō lebt nämlich nicht etwa in einer japanischen Nachbarstadt, sondern in Kalifornien, von wo aus sie ihre Eltern, die weit im Süden der japanischen Hauptinsel, in Kumamoto wohnen, regelmäßig besuchen soll. Ihre Mutter ist pflegebedürftig, ihr Vater einsam und gelangweilt. In Japan kümmert sich traditionell der älteste Sohn der Familie um die Eltern im Ruhestand (mit Sohn ist dabei in der Regel die Ehefrau des Sohnes gemeint). Itō ist aber Einzelkind und daher verpflichtet, diese Rolle zu erfüllen. Gleichzeitig verlangt ihr dreißig Jahre älterer Ehemann, ein jüdisch-britischer Künstler, dass sie mehr Zeit für ihn aufbringt. In ihrer bröckelnden Ehe sind Wortgefechte an der Tagesordnung, manchmal kulturellen oder religiösen Ursprungs, meist aber persönlicher Natur. Damit nicht genug: Oft hat sie bei ihren Japanbesuchen ihre Tochter Aiko im Schlepptau, die sich in Amerika bereits mehr zu Hause fühlt als in Japan. Dann sind da noch zwei ältere Töchter, von denen eine an Essstörungen leidet. Itō versucht es allen recht zu machen, alle Rollen zu erfüllen, dennoch hören die kleinen und großen Unglücke nicht auf, ihren Alltag zu plagen.
泣きっつらに蜂というのは、昔の人がこの日のわたしのために作り置きしたことばかと、思えた日でございました。
»Die Wespe, die in ein tränennasses Gesicht sticht« oder »Ein Unglück kommt selten allein« sind Redensarten, die Menschen aus früheren Zeiten für mich heute erfunden haben, so wollte es mir scheinen.
Abgesehen von der Hobbygärtnerei ist ihr Leben die Antithese zu allem, was man heutzutage als Self-Care bezeichnet. Das klingt nun alles furchtbar bedrückend und wäre es sicher auch, wenn Itō Hiromis Schilderungen nicht so gekonnt humorvoll und stilistisch bezaubernd wären. Denn was sich auf den ersten Blick stellenweise wie ein Twitter-Thread (ein guter Twitter-Thread) liest, ist gespickt mit (pop-)kulturellen und literarischen Zitaten. So beschreibt die Erzählerin die Bewegung ihrer altersbedingt herabhängenden Brüste mit der rätselhaften Lautmalerei „yuyan yuyoon“ aus dem Gedicht Zirkus (jp. Sākasu) des dadaistischen Lyrikers Nakahara Chuya zurückgeht und das ursprünglich das „Schweben und Schwanken“ auf der Schaukel beschreibt.
Andere Anspielungen sind für das deutschsprachige Lesepublikum leichter zu erkennen: Wenn zum Beispiel ein Pfirsich, den Itō im Streit auf ihren Mann wirft, in dessen Haut „begraben“ bleibt und die „Pfirsichwunde“ zu schmerzen beginnt, muss man unwillkürlich an Kafkas Die Verwandlung denken. Und tatsächlich findet sich am Ende des Kapitels ein Verweis auf Kafkas Erzählung in japanischer Übersetzung wieder. Diese Quellenauflistungen, die „geliehenen Stimmen“, dienen nicht nur dem Schutz vor Plagiatsvorwürfen, sondern sind vielmehr Hinweise, anhand derer Leser*innen sich auf literarische Schatzsuche begeben können (man stößt dabei auch auf solche illustren Quellen wie Madisons World Dog Encyclopedia).
Die durchgängige Präsenz literarischer Werke und Themen macht deutlich, was man in all dem Trubel, dem die Erzählerin ausgesetzt ist, fast vergisst – nämlich, dass sie mit dem Verfassen von Gedichten ihren Lebensunterhalt verdient (auch darin gleicht sie der Autorin). Die Fiktionalität des Romans wird in Kritiken immer wieder hervorgehoben, wobei nicht unerwähnt bleibt, wie tief Autofiktion in der modernen japanischen Literatur verwurzelt ist. Worin aber die Unterschiede zum Leben der echten Itō begründet liegen, wird nicht erklärt. Denn die unschmeichelhafte Darstellung der Figur des Ehemanns liest sich zwar unterhaltsam, verleitet aber dazu, sich dessen reales Gegenstück vorzustellen.
Das ständige Sich-im-Transit-Befinden ist fast schwindelerregend, und das spiegelt sich nicht nur inhaltlich in dem ständigen Wechsel von Orten und Personen wider, sondern auch auf der sprachlichen Ebene, wo Manga und Theaterstücke, Englisch und Japanisch, Profanes und Poetisches in einem harmonischen Chaos miteinander verbunden sind.
Die Jurybegründung
Mit großem Feinsinn für Alltagston und Transzendenz übersetzt Irmela Hijiya-Kirschnereit die unverfrorenen Schilderungen und Dialoge aus Hiromi Itōs Roman in ein elegant mehrdimensionales Deutsch, das Profanes und Heiliges gleichermaßen zu preisen versteht.
Die Übersetzung
Zuerst einmal muss man anmerken, dass es sich hier nicht um die Übersetzung eines einzigen literarischen Werks handelt. Die hie und da versteckten Zitatfetzen aus Gedichten von japanischen Literaturgrößen wie Nakahara Chuya oder Miyazawa Kenji, von denen die meisten in deutscher Sprache nicht vorhanden sind, mussten identifiziert und ebenfalls übersetzt werden. Manche dieser Zitate sind durch ihre Gedichtform leicht erkennbar, anderer werden durch einen cleveren Eingriff der Übersetzerin anhand von Kursivsetzung kenntlich gemacht. Dadurch können auch Leser*innen, die nicht mit der japanischen Literaturgeschichte vertraut sind, erkennen, dass die Sprachebene gewechselt wird.
Doch es sind nicht nur die Zitate, sondern auch die Sprache selbst, die geschriebene und die gesprochene, sowie Englisch und Japanisch, die sich in Itō Hiromis Roman immer wieder vermischen. Als Itō zum Beispiel ihren wesentlich älteren Ehemann als senil bezeichnet, führt sie das zu einer längeren Reflexion über japanische Phonologie:
夫は受話器の向こうで爆発しました。
へい、HEE‐roh‐MEE、なにをいう、
HEE‐roh‐MEE、おれにむかって何ということをいうか、
HEE‐roh‐MEE、何ということばを。
すべてのことばの間に、HEE‐roh‐MEEが合いの手のようにはさみこまれ、ストレスのかかったHEEとMEEが激しく耳を打ちました。
これは、わたしの名前です。十数年前夫に対し、懇切丁寧に、わたしの名前は、通常西洋人が発音するような、後ろから二番目のシラブルにストレスが置かれるhee‐ROH‐meeではない、平坦なhee‐roh‐meeであると教えました。
Mein Mann explodierte am anderen Ende der Leitung.
Heh, HEE-roh-MEE, was redest du denn!
HEE-roh-MEE, was fällt dir ein, mir so was zu sagen!
HEE-roh-MEE, was fällt dir ein!
Zwischen alle Wörter war wie ein Taktschlag HEE-roh-MEE eingepresst, die betonten Silben HEE und MEE schlugen mir heftig ans Ohr. Das ist mein Name. Vor mehr als zehn Jahren hatte ich meinem Mann sehr gründlich erklärt, dass mein Name nicht, wie die Westler ihn üblicherweise aussprechen, hee-ROH-mee, auf der zweiten Silbe von hinten betont, sondern dass er, ohne jede Betonung, hee-roh-mee, ausgesprochen wird.
Die Themen Altern und Tod sind ein zentrales Thema des Romans. Als Itōs Mutter im Krankenhaus künstlich am Leben gehalten wird, zeigt sich das Profane des Todes im lakonischen Erzählton der Erzählerin und den Beispielen, die von der wohl berühmtesten japanischen Sage zu Bestseller-Manga reichen:
わたしは読み過ぎておりました。往生する往生伝や心中する浄瑠璃を。平家物語やバガボンドやDEATH NOTEを。そこでは人がたやすく死にました。つぎつぎに死にました。どんな死も、ありました。ところが現実の病室で、現実の母は、たやすく死んだりしないのです。といいますか、死ねないのです。
Ich habe zu viel gelesen. Sterbeberichte und Doppelselbstmorde im Puppentheater. Die Sage vom Geschlecht der Taira, das Manga Vagabond oder Death notes. Darin sind Menschen leicht gestorben. Sie starben am laufenden Band. Es gab alle möglichen Tode. Aber im wirklichen Krankenzimmer starb meine echte Mutter nicht so leicht. Das heißt, sie durfte nicht sterben.
Popkulturaffinen Leser*innen wird aufgefallen sein, dass es sich hier um den Manga Death Note (nicht: Death notes) handelt. Im Roman tauchen Manga genauso regelmäßig auf wie klassische Epen, im obigen Zitat sogar im selben Atemzug. An einer späteren Stelle im Buch bringt Itō ihrer an Stress und Essstörungen leidenden älteren Tochter Yokiko die ersten vier Bände von Urasawa Naokis Manga „Der Junge des 20. Jahrhunderts“ (eigentlich, auch im Deutschen, 20th Century Boys) mit. Ito ist sich sicher, dass ihre Tochter, die in den USA studiert, sich darüber freuen würde. Im Deutschen heißt es hier:
数時間で読み切れて、何べんも読み込めて、次はどうなるとあとをひいて、五巻が読めるまで生きていようと思えるような漫画であります。なんで読まずにいらりょうか。
Es war ein Manga, das man in ein paar Stunden bewältigen und immer wieder neu lesen konnte, die vier Bände machen neugierig darauf, wie es weiterging, sodass man bis zum fünften Band unbedingt weiterlesen wollte. Wer würde freiwillig auf so ein Manga verzichten?
Im Japanischen geht die Wertschätzung dieses Titels noch etwas tiefgreifender. Wörtlich heißt es, dass man so lange weiterleben möchte, bis man den nächsten, den fünften Band zu lesen bekomme. Ihre Tochter lehnt ab und der Mutter ist klar: „Da stimmt was absolut nicht, das muss behandelt werden.“ Jeder, der 20th Century Boys einmal gelesen hat, wird die Reaktion der Mutter nachvollziehen können.
Es ist jedoch bemerkenswert, wenn dieselbe Übersetzerin, die es nicht für notwendig erachtet, die Titel von zwei der weltweit bekanntesten und längst in deutschsprachiger Übersetzung vorliegenden Manga nachzuschlagen – man stelle sich vor in einer Übersetzung aus dem Englischen Es war einmal im Westen oder Spiel der Throne zu lesen – gleichzeitig einen überbordenden japanologischen Eifer bei anderen Themenfeldern zur Schau stellt. Denn wenn Irmela Hijiya-Kirschnereit in ihrem Toledo-Artikel zur Übersetzung des Romans von einer „Kulturgeschichte, High und Low“ spricht, dann ist damit vor allem das „High“ gemeint.
Deswegen sah sich die Übersetzerin, wie sie in dem vorhin erwähnten Artikel ausführt, an einigen Stellen „genötigt … längere Anmerkungen zu formulieren“. Lang meint hier zum Beispiel in Kapitel 3 einen 11-zeiligen Einschub, gekennzeichnet durch eckige Klammern, in dem die Japanologin Hijiya-Kirschnereit Itō Hiromis Text unterbricht, um dem Laienpublikum den japanischen Schöpfungsmythos zu erklären. Im selben Kapitel wird sogar ein ganzes Gedicht eingeschoben, dessen letzte zwei Verse wiederum in einer Endnote erklärt werden müssen. An anderer Stelle liest sich das wie folgt:
Da wir schon in der Gegend sind, lasst uns den Akama-Schrein besuchen und die Strudel im Meer anschauen [wo die berühmte Schlacht von Dannoura stattfand*] …
Der Asterisk führt uns von Seite 111 zu einer ausführlichen Fußnote auf Seite 306, die auf die zentrale Rolle des Ortes im Kriegerepos Die Sage vom Geschlecht der Taira (Heike Monogatari) verweist – in Japan Schulwissen. Ohne dieses Wissen könne man die „eigenartige Stimmung“ des in Kapitel 6 beschriebenen Autotrips unmöglich nachvollziehen, so die Japanologin. Sie gesteht ein, dass die Entscheidung „womöglich etwas aufdringlich und pädagogisch sei“. All das wird mit dem Wunsch gerechtfertigt, den Text nicht durch „gefälliges Einflechten von Zusatzinformationen“ zu „verbiegen“. An anderer Stelle tut sie aber genau das, wie in dem zu Anfang dieses Beitrags zitierten Beispiel:
»Die Wespe, die in ein tränennasses Gesicht sticht« oder »Ein Unglück kommt selten allein« sind Redensarten, die Menschen aus früheren Zeiten für mich heute erfunden haben, so wollte es mir scheinen.
„Ein Unglück kommt selten allein“ ist dabei eine Ergänzung, die nicht im japanischen Text zu finden ist. Wenn hier zugunsten des Leseverständnisses in den Textfluss eingegriffen und Redundanz riskiert wird, wieso darf dann die vorhin erwähnte Seeschlacht von Dannoura nicht in den Text eingeflochten werden, wenn man diese für so unerlässlich hält?
In ihrem Nachwort geht Irmela Hijiya-Kirschnereit auf all das ein, was im Zuge der Übersetzung verloren gegangen ist. Viel bemerkenswerter ist doch – wie bei jeder guten Übersetzung – was erhalten geblieben ist. Sind die Einschübe und Endnoten, die Rettungsversuche notwendig? Oder führen sie im Gegenteil dazu, dass der Lesefluss mehr gestört wird, als durch jede „Verbiegung“? Muss man für ein selbstbestimmtes Leseerlebnis wirklich wissen, dass Nanda – siehe Endnote – ein Stiefbruder Buddhas ist?
Nun soll nicht der Eindruck entstehen, dass diese Übersetzung mehr Fußnote als Prosa ist. Auch der Verweis auf die zahlreichen literarischen Anspielungen, die sicher auch nicht wenigen japanologisch gebildeten Leser*innen entgehen werden, soll keinesfalls einschüchtern. Itō Hiromis Erzählstimme ist fesselnd und kraftvoll und ich bin überzeugt, dass sie es auch ohne den Grundkurs in japanischer Geschichte gewesen wäre. Verzeiht man diesen Unwillen der Japanologin, „gefällig“ zu sein, so liest sich die Übersetzung fabelhaft.
Itō Hiromis Dornauszieher ist ein Roman, in dem man sich wortwörtlich verlieren kann, in dem schwindelerregenden Wechsel von Sprachstilen, Zitaten, Perspektiven, Personen und Ländern. Ich habe den Roman verschlungen, wie kaum einen anderes Werk in der japanischen Gegenwartsliteratur. Ab und zu musste ich bei meiner Lektüre stoppen, immer wenn zum Beispiel das Wort Tamagotchi, das Spielzeug von Itos Tochter Aiko, erwähnt wird. Denn es führte mir erneut vor Augen, dass Itō Hiromis Stimme, die in Japan auch als „schamanisch“ bezeichnet wird und die so unmittelbar zu mir zu sprechen schien, dies nicht aus dem Hier und Jetzt tat, sondern aus der Übersetzung eines nun schon 15 Jahre alten Romans. Dieses Erlebnis auch im Deutschen zu ermöglichen ist der Leistung der Übersetzerin zu verdanken.
Lieblingssatz
Früher sagte mir mein Vater, als er mich auf dem Schoß hielt, auch Mädchen können alles, ich habe es geglaubt und ging in die Welt hinaus; vieles gab es, das ich nicht konnte, aber ich fand auch vieles, was ich konnte, und ich fand auch vieles, was nur Mädchen zustande bringen, aber jetzt plötzlich sagt er, als ob er einen Sinneswandel um 180 Grad vollzogen hätte: Hier hab ich keine Tochter oder Schwiegertochter, ist es Ironie, Senilität oder ein Scherz, auf jeden Fall trifft mich das wie ein tiefer Stich in meinen Körper: Es wäre schön mit einer Tochter (also nicht heiraten) oder Schwiegertochter (die aus einer anderen Familie eingeheiratet hat).