Am 17. März werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzen. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Auf einer Zugfahrt durch die Weiten der kasachischen Steppe trifft der Ich-Erzähler auf Erjan, der Ayran verkauft, die Reisenden mit virtuosem Geigenspiel entzückt und um schnodderige Antworten nicht verlegen ist. Der Wunderknabe sieht aus wie zwölf, ist aber in Wahrheit (die in diesem Text öfter zur Debatte steht) ein erwachsener Mann. Auf der Weiterreise erzählt Erjan seine Lebensgeschichte:
Er wächst abgeschieden in einer winzigen Eisenbahnersiedlung bei seiner Mutter, seinen Großeltern und seinem Onkel Kepek auf. Um den fehlenden Vater rankt sich ein wütendes, von unverständlichen Andeutungen durchbrochenes Schweigen, die Mutter ist seit der Schwangerschaft verstummt. Und doch ist der Junge glücklich in seiner kleinen Welt: Sein Großvater Daulet musiziert mit ihm auf der traditionellen Dombıra, seine Großmutter Ulbarsın verstrickt ihn in kasachische Sagen, während er ihr die gichtknotigen Beine massiert, und die schönste Braut der Gegend hat er sich schon im Sandkastenalter reserviert – die niedliche Aysulu aus dem Nachbarhaus, „der er das Ohr angeknabbert hatte zum Zeichen eines frühen Verlöbnisses“. Der Fernseher, den Aysulus Vater Shaken eines Tages aus der Stadt anschleppt, weitet Erjans bis dato überschaubaren Kosmos ebenso wie sein bulgarischer Geigenlehrer Petko, der ihn in die fremde Welt von Brahms und Mozart entführt.
Ein friedliches Leben – wäre da nicht die ständige Furcht vor den wiederkehrenden, unerklärlichen Explosionen, nach denen man tagelang drinnen bleiben muss, der Urin sich rot färbt und den Tieren die Haare ausfallen. Von 1949 bis 1989 wurden auf dem kasachischen Atomwaffentestgelände Semipalatinsk fast 500 Kernexplosionen ausgelöst, davon über 100 oberirdisch. Insgesamt übertraf die Sprengkraft allein der in besiedelten Gebieten durchgeführten oberirdischen Kerntests die der Atombombe von Hiroshima um das 2500fache.
Erjans bisheriges Leben endet mit einem fatalen Schulausflug zum Toten See. Das Wasser dieses Atomsees auch nur zu berühren ist lebensgefährlich und strengstens verboten. Doch der See wirkt so „märchenhaft schön“, dass Erjan in einem unbeaufsichtigten Moment der überwältigenden Versuchung nicht widerstehen kann und hineinspringt. Seit diesem Tag wächst er keinen Millimeter mehr, und ebenso wie alle anderen Kinder überragt ihn auch seine große Liebe Aysulu schon bald. Gelähmt von Bitterkeit, Ohnmacht, Wut und Hass auf die anderen, die ihr Leben ganz normal weiterführen können, während das seine zu Ende ist, zieht er sich zurück und versucht, seine Trauer in Musik umzuwandeln. Doch nichts kann verhindern, dass alles um ihn herum immer schneller bröckelt, bricht und zerfällt.
Hamid Ismailov schildert in Wunderkind Erjan das Schicksal der Menschen, deren Heimat jahrzehntelang verseucht wurde, auf poetische, derbe und berührende Weise. Seine Erzählung erschien zuerst 2011 in der russischen Zeitschrift Družba narodov und 2022 in deutscher Erstübersetzung von Andreas Tretner in der Friedenauer Presse.
Die Jurybegründung
Hamid Ismailov nimmt uns mit in eine apokalyptische Landschaft. Mit Gespür für semantische und rhythmische Details, für das Auf-und-Ab von menschlichen Derbheiten und Landschaftsbeschreibungen unter dem Eindruck ständiger Atomtests überzeugt Andreas Tretners Übersetzung.
Die Übersetzung
Andreas Tretner, der aus dem Russischen, Bulgarischen und Tschechischen übersetzt und für seine Arbeit viele Preise (u. a. Paul-Celan-Preis und Internationaler Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt) erhalten hat, ist mit seiner Übersetzung von Wunderkind Erjan bereits zum vierten Mal für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert (zuletzt 2020 für seine Übersetzung von Angel Igovs Die Sanftmütigen aus dem Bulgarischen).
Seine Übersetzungskunst stellt er auch hier unter Beweis, besonders wenn die epische Erzählung auf die unverblümte Sprache der Steppenbewohner trifft und so eine eigene Komik hervorbringt. Ein Running Gag ist das Lebensmotto von Onkel Shaken, der im Versuchsreaktor arbeitet und sein Credo „Die Amerikaner holen wir nicht bloß ein, die überrunden wir!“ („Мы не только догоним, но и обгоним американцев!“) zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit anbringt. Völlig ernst gemeint, doch rückblickend angesichts der wirtschaftlichen Rückstände der Sowjetunion kaum mehr als ein bitterer Witz.
Selbst von der unterschwelligen Dauerbedrohung durch den Dritten Weltkrieg lässt man sich den Spaß nicht verderben. Nach einem besonders verheerenden Atomtest spielen die beiden Familien beim Essen ein Spiel, bei dem der Mann mit hinter dem Rücken verbundenen Händen einen Hammelknochen von den Knien der Frau holen muss, indem er sich mit gestreckten Beinen herunterbeugt und diesen mit den Zähnen ergreift. Als Erjan sich vor Aysulus Knien niederbeugt, entfährt ihm zur allgemeinen Erheiterung ein gewaltiger Furz.
«Бомба!» — кричал из-под морщин дед. «Атомная!» — добавлял ученый Шакен-коке и прибавлял: «Как пить дать не только догоним, но и обгоним американцев!» «Сейчас и ракета пойдет!» — не упускал своего шанса сострить и Кепек-нагаши.
„Die reinste Bombe!“, quiekte es aus Großvaters Runzelgesicht. „Atomwaffe!“, präzisierte Shaken-Köke, in diesen Dingen bewandert, und fügte an: „So überholen wir die Amis unter Garantie!“ – „Jetzt klappt das auch mit der Rakete!“, legte Kepek-Naǵashı noch eins drauf.
Ernste Situationen erfordern Galgenhumor, und bei Tretner sitzt jede Replik – bombenfest, möchte man fast sagen.
Erjan ist eine Art kasachischer Oskar Matzerath: nicht nur ewig Kind, sondern auch unzuverlässig als Erzähler – aber nicht weil er lügt, sondern weil vieles um ihn herum seinen kindlichen Horizont übersteigt. Wer ist sein Vater? Warum huscht die Mutter wie ein schweigendes Gespenst durchs Haus? Wer schleicht sich nachts in der kleinen Siedlung heimlich zu wem, und vor allem: Warum hat er aufgehört zu wachsen? Darauf gibt es keine oder höchstens halbe Antworten, mögliche Fakten vermischen sich in seinem Kopf mit kasachischer Folklore zu unausgegorenen Gedanken. Da er niemandem von seiner „Eskapade“ im Atomsee erzählt, bleibt sein Wachstumsstopp ein Rätsel, dem die Familie mit allen Mitteln abzuhelfen versucht. Seine Großmutter bringt ihn zwecks Austreibung des bösen Zwerggeistes zu einer Heilerin, Aysulus Vater Shaken lässt ihn röntgen, sein Großvater bindet ihn, in eine Decke gewickelt, an sein Pferd und zieht ihn hinter sich her – doch weder die Wissenschaft noch Schamanismus können helfen. Stattdessen verwirren sie den Jungen vollends: „Was an alledem wahr und was erfunden war, vermochte Erjan nicht auseinanderzuhalten.“
Vor dem Hintergrund dieses inneren Zwiespalts ist es schade, dass die Wahrheit im Anfangsdialog zwischen Erjan und dem Ich-Erzähler unter den Tisch fällt:
Мы зашли в купе за деньгами, и, поскольку старик напротив меня беспробудно спал, я предложил Ержану присесть: дескать, в ногах правды нет …
— А где она есть? — опять колюче вопросил он, причем вопрос, казалось, был обращен не ко мне, а к этому поезду, пилящему по степи, к этой степи, сгорающей на земле, к этой земле, скитающейся среди света и тьмы, к этой тьме, что …
Ich ging in mein Abteil, um das Geld zu holen, und weil der Alte in der Koje gegenüber schlief wie ein Bär, bot ich Erjan an, bis zum Aussteigen bei mir Platz zu nehmen: Stehen mache bekanntlich nicht klüger …
„Sondern?“, kam die Erwiderung, bissig wie zuvor; doch schien sie weniger an mich gerichtet als an den durch die Steppe jagenden Zug, an die auf Erden brutzelnde Steppe, an die zwischen Licht und Finsternis dümpelnde Erde, an die Finsternis …
Im Russischen bedeutet die scherzhafte Einladung zum Platznehmen wörtlich: „Die Wahrheit steckt nicht in den Beinen“, was auch Erjans überraschend heftig ausfallende Erwiderung „Und wo ist sie dann?“ erklärt. Tretner optiert mit „Stehen macht nicht klüger“ für eine idiomatischere Lösung. Wer die Wahrheit nicht findet, wird zwar auch nicht klüger, aber der Bezug zu Erjans persönlicher Situation wird doch etwas abgeschwächt.
Umso sprachmächtiger sind die Beschreibungen der Atomtests, die jederzeit ohne Vorwarnung über das Leben der Menschen hineinbrechen:
Земля начала трястись, раздались громовые раскаты. Ветер нес по степи горящие клубки перекати-поля, и вдруг в небо взметнулось еще одно солнце, и влекомый уже не умом, а инстинктом Ержан бросился в яму, под самый бетон, куда рухнул и его ослик. Скрипка хрустнула, издала последний визг, и свирепый вихрь воздуха с оглушительным гиком пронесся, сбривая все над ними, чтобы серый, пепельный свет встал над миром …
А потом пошел горячий слепой дождь …
Die Erde fing an zu beben, Donner grollten. Vom Wind getragen, rasten brennende Steppenroller wie Feuerräder vorüber, und plötzlich blitzte am Himmel eine zweite Sonne auf. Nicht der Verstand, der pure Instinkt war es, der Erjan dazu brachte, sich in die Grube am Fuß des Betonriesen zu werfen, sein Esel plumpste neben ihn. Er hörte die Geige knirschen, einen letzten kreischenden Ton von sich geben, dann ging ein wütender, ohrenbetäubender Wirbelsturm über sie hinweg, der die Erdoberfläche abzurasieren schien, und um sie war nichts als aschgraues Licht …
Danach fiel ein heißer, blinder Regen.
Passend zur atomaren Dauerbedrohung verringert sich die Halbwertzeit der Menschen mit jeder Generation. „Anscheinend bringen die Menschen verschieden lange damit zu, ihr Leben aufzubrauchen“, denkt Erjan. Während sein Großvater erst mit achtzig fast alle Familienmitglieder verliert, verwirkt seine Mutter bereits mit sechzehn ihre Jungfräulichkeit und damit ihre Aussichten auf ein glückliches Leben, und sein eigenes Leben scheint ihm schon mit zwölf vorbei. Doch das Leben geht weiter, wenn auch ganz anders als ursprünglich erwartet, erhofft und erträumt.
Hamid Ismailov und Andreas Tretner nehmen uns mit auf eine Reise durch die kasachische Steppe und zeigen eindrücklich, welches Unrecht ihren Bewohnern über Jahrzehnte hinweg widerfahren ist – ganz ohne erhobenen Zeigefinger, einzig durch geschicktes Verweben von Mythen und Alltagsbildern, wie es nur große Künstler können.
Lieblingsstelle
Wer nie in der Steppe gelebt hat, wird schwer begreifen, wie man es dort, in dieser vollkommenen Einöde, aushalten kann; doch die, die seit eh und je da zuhause sind, wissen, wie abwechslungsreich diese Steppe ist, wie vielfarbig fließend der Himmel über ihr, wie unstet und wechselhaft die Luft dazwischen, wie unendlich mannigfaltig ihre Flora, wie vielerlei Getier kreucht und fleucht.