Andre­as Tret­ner: der Wunderbare

Glück und Kummer, Pathos und Gezeter liegen in Hamid Ismailovs atomarer Erzählung „Wunderkind Erjan“ nah beieinander. Andreas Tretner ist mit seiner Übersetzung aus dem Russischen für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 nominiert. Von

Andreas Tretner ©Carmen Laux, Literaturhaus Leipzig

Am 17. März wer­den die Prei­se der Leip­zi­ger Buch­mes­se ver­ge­ben, unter ande­rem in der Kate­go­rie Über­set­zen. Auf TraLaLit stel­len wir die Nomi­nier­ten vor. Alle Bei­trä­ge der Rei­he sind hier zu finden.


Das Buch

Auf einer Zug­fahrt durch die Wei­ten der kasa­chi­schen Step­pe trifft der Ich-Erzäh­ler auf Erjan, der Ayran ver­kauft, die Rei­sen­den mit vir­tuo­sem Gei­gen­spiel ent­zückt und um schnod­de­ri­ge Ant­wor­ten nicht ver­le­gen ist. Der Wun­der­kna­be sieht aus wie zwölf, ist aber in Wahr­heit (die in die­sem Text öfter zur Debat­te steht) ein erwach­se­ner Mann. Auf der Wei­ter­rei­se erzählt Erjan sei­ne Lebensgeschichte:

Er wächst abge­schie­den in einer win­zi­gen Eisen­bah­ner­sied­lung bei sei­ner Mut­ter, sei­nen Groß­el­tern und sei­nem Onkel Kepek auf. Um den feh­len­den Vater rankt sich ein wüten­des, von unver­ständ­li­chen Andeu­tun­gen durch­bro­che­nes Schwei­gen, die Mut­ter ist seit der Schwan­ger­schaft ver­stummt. Und doch ist der Jun­ge glück­lich in sei­ner klei­nen Welt: Sein Groß­va­ter Dau­let musi­ziert mit ihm auf der tra­di­tio­nel­len Dom­bıra, sei­ne Groß­mutter Ulb­arsın ver­strickt ihn in kasa­chi­sche Sagen, wäh­rend er ihr die gicht­kno­ti­gen Bei­ne mas­siert, und die schöns­te Braut der Gegend hat er sich schon im Sand­kas­ten­al­ter reser­viert – die nied­li­che Aysulu aus dem Nach­bar­haus, „der er das Ohr ange­knab­bert hat­te zum Zei­chen eines frü­hen Ver­löb­nis­ses“. Der Fern­se­her, den Aysulus Vater Shaken eines Tages aus der Stadt anschleppt, wei­tet Erjans bis dato über­schau­ba­ren Kos­mos eben­so wie sein bul­ga­ri­scher Gei­gen­leh­rer Pet­ko, der ihn in die frem­de Welt von Brahms und Mozart entführt.

Ein fried­li­ches Leben – wäre da nicht die stän­di­ge Furcht vor den wie­der­keh­ren­den, uner­klär­li­chen Explo­sio­nen, nach denen man tage­lang drin­nen blei­ben muss, der Urin sich rot färbt und den Tie­ren die Haa­re aus­fal­len. Von 1949 bis 1989 wur­den auf dem kasa­chi­schen Atom­waf­fen­test­ge­län­de Semi­pa­la­tinsk fast 500 Kern­ex­plo­sio­nen aus­ge­löst, davon über 100 ober­ir­disch. Ins­ge­samt über­traf die Spreng­kraft allein der in besie­del­ten Gebie­ten durch­ge­führ­ten ober­ir­di­schen Kern­tests die der Atom­bom­be von Hiro­shi­ma um das 2500fache.

Erjans bis­he­ri­ges Leben endet mit einem fata­len Schul­aus­flug zum Toten See. Das Was­ser die­ses Atom­sees auch nur zu berüh­ren ist lebens­ge­fähr­lich und strengs­tens ver­bo­ten. Doch der See wirkt so „mär­chen­haft schön“, dass Erjan in einem unbe­auf­sich­tig­ten Moment der über­wäl­ti­gen­den Ver­su­chung nicht wider­ste­hen kann und hin­ein­springt. Seit die­sem Tag wächst er kei­nen Mil­li­me­ter mehr, und eben­so wie alle ande­ren Kin­der über­ragt ihn auch sei­ne gro­ße Lie­be Aysulu schon bald. Gelähmt von Bit­ter­keit, Ohn­macht, Wut und Hass auf die ande­ren, die ihr Leben ganz nor­mal wei­ter­füh­ren kön­nen, wäh­rend das sei­ne zu Ende ist, zieht er sich zurück und ver­sucht, sei­ne Trau­er in Musik umzu­wan­deln. Doch nichts kann ver­hin­dern, dass alles um ihn her­um immer schnel­ler brö­ckelt, bricht und zerfällt.

Hamid Ismai­l­ov schil­dert in Wun­der­kind Erjan das Schick­sal der Men­schen, deren Hei­mat jahr­zehn­te­lang ver­seucht wur­de, auf poe­ti­sche, der­be und berüh­ren­de Wei­se. Sei­ne Erzäh­lung erschien zuerst 2011 in der rus­si­schen Zeit­schrift Druž­ba naro­dov und 2022 in deut­scher Erst­über­set­zung von Andre­as Tret­ner in der Frie­de­nau­er Pres­se.

Die Jury­be­grün­dung

Hamid Ismai­l­ov nimmt uns mit in eine apo­ka­lyp­ti­sche Land­schaft. Mit Gespür für seman­ti­sche und rhyth­mi­sche Details, für das Auf-und-Ab von mensch­li­chen Derb­hei­ten und Land­schafts­be­schrei­bun­gen unter dem Ein­druck stän­di­ger Atom­tests über­zeugt Andre­as Tret­ners Übersetzung.


Die Über­set­zung

Andre­as Tret­ner, der aus dem Rus­si­schen, Bul­ga­ri­schen und Tsche­chi­schen über­setzt und für sei­ne Arbeit vie­le Prei­se (u. a. Paul-Celan-Preis und Inter­na­tio­na­ler Lite­ra­tur­preis des Hau­ses der Kul­tu­ren der Welt) erhal­ten hat, ist mit sei­ner Über­set­zung von Wun­der­kind Erjan bereits zum vier­ten Mal für den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se nomi­niert (zuletzt 2020 für sei­ne Über­set­zung von Angel Igovs Die Sanft­mü­ti­gen aus dem Bulgarischen).

Sei­ne Über­set­zungs­kunst stellt er auch hier unter Beweis, beson­ders wenn die epi­sche Erzäh­lung auf die unver­blüm­te Spra­che der Step­pen­be­woh­ner trifft und so eine eige­ne Komik her­vor­bringt. Ein Run­ning Gag ist das Lebens­mot­to von Onkel Shaken, der im Ver­suchs­re­ak­tor arbei­tet und sein Cre­do „Die Ame­ri­ka­ner holen wir nicht bloß ein, die über­run­den wir!“ („Мы не только догоним, но и обгоним американцев!“) zu jeder pas­sen­den und unpas­sen­den Gele­gen­heit anbringt. Völ­lig ernst gemeint, doch rück­bli­ckend ange­sichts der wirt­schaft­li­chen Rück­stän­de der Sowjet­uni­on kaum mehr als ein bit­te­rer Witz.

Selbst von der unter­schwel­li­gen Dau­er­be­dro­hung durch den Drit­ten Welt­krieg lässt man sich den Spaß nicht ver­der­ben. Nach einem beson­ders ver­hee­ren­den Atom­test spie­len die bei­den Fami­li­en beim Essen ein Spiel, bei dem der Mann mit hin­ter dem Rücken ver­bun­de­nen Hän­den einen Ham­mel­kno­chen von den Knien der Frau holen muss, indem er sich mit gestreck­ten Bei­nen her­un­ter­beugt und die­sen mit den Zäh­nen ergreift. Als Erjan sich vor Aysulus Knien nie­der­beugt, ent­fährt ihm zur all­ge­mei­nen Erhei­te­rung ein gewal­ti­ger Furz.

«Бомба!» — кричал из-под морщин дед. «Атомная!» — добавлял ученый Шакен-коке и прибавлял: «Как пить дать не только догоним, но и обгоним американцев!» «Сейчас и ракета пойдет!» — не упускал своего шанса сострить и Кепек-нагаши.

„Die reins­te Bom­be!“, quiek­te es aus Groß­va­ters Run­zel­ge­sicht. „Atom­waf­fe!“, prä­zi­sier­te Shaken-Köke, in die­sen Din­gen bewan­dert, und füg­te an: „So über­ho­len wir die Amis unter Garan­tie!“ – „Jetzt klappt das auch mit der Rake­te!“, leg­te Kepek-Naǵas­hı noch eins drauf.

Erns­te Situa­tio­nen erfor­dern Gal­gen­hu­mor, und bei Tret­ner sitzt jede Replik – bom­ben­fest, möch­te man fast sagen.

Erjan ist eine Art kasa­chi­scher Oskar Mat­zer­ath: nicht nur ewig Kind, son­dern auch unzu­ver­läs­sig als Erzäh­ler – aber nicht weil er lügt, son­dern weil vie­les um ihn her­um sei­nen kind­li­chen Hori­zont über­steigt. Wer ist sein Vater? War­um huscht die Mut­ter wie ein schwei­gen­des Gespenst durchs Haus? Wer schleicht sich nachts in der klei­nen Sied­lung heim­lich zu wem, und vor allem: War­um hat er auf­ge­hört zu wach­sen? Dar­auf gibt es kei­ne oder höchs­tens hal­be Ant­wor­ten, mög­li­che Fak­ten ver­mi­schen sich in sei­nem Kopf mit kasa­chi­scher Folk­lo­re zu unaus­ge­go­re­nen Gedan­ken. Da er nie­man­dem von sei­ner „Eska­pa­de“ im Atom­see erzählt, bleibt sein Wachs­tums­stopp ein Rät­sel, dem die Fami­lie mit allen Mit­teln abzu­hel­fen ver­sucht. Sei­ne Groß­mutter bringt ihn zwecks Aus­trei­bung des bösen Zwerg­geis­tes zu einer Hei­le­rin, Aysulus Vater Shaken lässt ihn rönt­gen, sein Groß­va­ter bin­det ihn, in eine Decke gewi­ckelt, an sein Pferd und zieht ihn hin­ter sich her – doch weder die Wis­sen­schaft noch Scha­ma­nis­mus kön­nen hel­fen. Statt­des­sen ver­wir­ren sie den Jun­gen voll­ends: „Was an alle­dem wahr und was erfun­den war, ver­moch­te Erjan nicht auseinanderzuhalten.“

Vor dem Hin­ter­grund die­ses inne­ren Zwie­spalts ist es scha­de, dass die Wahr­heit im Anfangs­dia­log zwi­schen Erjan und dem Ich-Erzäh­ler unter den Tisch fällt:

Мы зашли в купе за деньгами, и, поскольку старик напротив меня беспробудно спал, я предложил Ержану присесть: дескать, в ногах правды нет …
— А где она есть? — опять колюче вопросил он, причем вопрос, казалось, был обращен не ко мне, а к этому поезду, пилящему по степи, к этой степи, сгорающей на земле, к этой земле, скитающейся среди света и тьмы, к этой тьме, что …

Ich ging in mein Abteil, um das Geld zu holen, und weil der Alte in der Koje gegen­über schlief wie ein Bär, bot ich Erjan an, bis zum Aus­stei­gen bei mir Platz zu neh­men: Ste­hen mache bekannt­lich nicht klü­ger …
„Son­dern?“, kam die Erwi­de­rung, bis­sig wie zuvor; doch schien sie weni­ger an mich gerich­tet als an den durch die Step­pe jagen­den Zug, an die auf Erden brut­zeln­de Step­pe, an die zwi­schen Licht und Fins­ter­nis düm­peln­de Erde, an die Finsternis …

Im Rus­si­schen bedeu­tet die scherz­haf­te Ein­la­dung zum Platz­neh­men wört­lich: „Die Wahr­heit steckt nicht in den Bei­nen“, was auch Erjans über­ra­schend hef­tig aus­fal­len­de Erwi­de­rung „Und wo ist sie dann?“ erklärt. Tret­ner optiert mit „Ste­hen macht nicht klü­ger“ für eine idio­ma­ti­sche­re Lösung. Wer die Wahr­heit nicht fin­det, wird zwar auch nicht klü­ger, aber der Bezug zu Erjans per­sön­li­cher Situa­ti­on wird doch etwas abgeschwächt.

Umso sprach­mäch­ti­ger sind die Beschrei­bun­gen der Atom­tests, die jeder­zeit ohne Vor­war­nung über das Leben der Men­schen hineinbrechen:

Земля начала трястись, раздались громовые раскаты. Ветер нес по степи горящие клубки перекати-поля, и вдруг в небо взметнулось еще одно солнце, и влекомый уже не умом, а инстинктом Ержан бросился в яму, под самый бетон, куда рухнул и его ослик. Скрипка хрустнула, издала последний визг, и свирепый вихрь воздуха с оглушительным гиком пронесся, сбривая все над ними, чтобы серый, пепельный свет встал над миром …
А потом пошел горячий слепой дождь …

Die Erde fing an zu beben, Don­ner groll­ten. Vom Wind getra­gen, ras­ten bren­nen­de Step­pen­rol­ler wie Feu­er­rä­der vor­über, und plötz­lich blitz­te am Him­mel eine zwei­te Son­ne auf. Nicht der Ver­stand, der pure Instinkt war es, der Erjan dazu brach­te, sich in die Gru­be am Fuß des Beton­rie­sen zu wer­fen, sein Esel plumps­te neben ihn. Er hör­te die Gei­ge knir­schen, einen letz­ten krei­schen­den Ton von sich geben, dann ging ein wüten­der, ohren­be­täu­ben­der Wir­bel­sturm über sie hin­weg, der die Erd­ober­flä­che abzu­ra­sie­ren schien, und um sie war nichts als asch­grau­es Licht …
Danach fiel ein hei­ßer, blin­der Regen.

Pas­send zur ato­ma­ren Dau­er­be­dro­hung ver­rin­gert sich die Halb­wert­zeit der Men­schen mit jeder Gene­ra­ti­on. „Anschei­nend brin­gen die Men­schen ver­schie­den lan­ge damit zu, ihr Leben auf­zu­brau­chen“, denkt Erjan. Wäh­rend sein Groß­va­ter erst mit acht­zig fast alle Fami­li­en­mit­glie­der ver­liert, ver­wirkt sei­ne Mut­ter bereits mit sech­zehn ihre Jung­fräu­lich­keit und damit ihre Aus­sich­ten auf ein glück­li­ches Leben, und sein eige­nes Leben scheint ihm schon mit zwölf vor­bei. Doch das Leben geht wei­ter, wenn auch ganz anders als ursprüng­lich erwar­tet, erhofft und erträumt.

Hamid Ismai­l­ov und Andre­as Tret­ner neh­men uns mit auf eine Rei­se durch die kasa­chi­sche Step­pe und zei­gen ein­drück­lich, wel­ches Unrecht ihren Bewoh­nern über Jahr­zehn­te hin­weg wider­fah­ren ist – ganz ohne erho­be­nen Zei­ge­fin­ger, ein­zig durch geschick­tes Ver­we­ben von Mythen und All­tags­bil­dern, wie es nur gro­ße Künst­ler können.

Lieb­lings­stel­le

Wer nie in der Step­pe gelebt hat, wird schwer begrei­fen, wie man es dort, in die­ser voll­kom­me­nen Ein­öde, aus­hal­ten kann; doch die, die seit eh und je da zuhau­se sind, wis­sen, wie abwechs­lungs­reich die­se Step­pe ist, wie viel­far­big flie­ßend der Him­mel über ihr, wie unstet und wech­sel­haft die Luft dazwi­schen, wie unend­lich man­nig­fal­tig ihre Flo­ra, wie vie­ler­lei Getier kreucht und fleucht.


Hamid Ismai­l­ov | Andre­as Tret­ner

Wun­der­kind Erjan

Im rus­si­schen Ori­gi­nal: Вундеркинд Ержан

Frie­de­nau­er Pres­se 2022 ⋅ 152 Sei­ten ⋅ 20 Euro


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