Schreibt eigentlich jemand Geschichtsbücher des Übersetzens? Spätestens jetzt bräuchte man sie, denn der 17. März 2022 muss irgendwo eingehen können als der Tag, an dem die Übersetzerinnen den Preis der Leipziger Buchmesse kaperten.
In dem Jahr, in dem zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder ein europäischer Staat einen Angriffskrieg vom Zaun brach, in dem Nationalisten buchstäblich und metaphorisch auf dem Vormarsch sind, brach die Leipziger Jury mit drei selbstbewussten und eigensinnigen Entscheidungen eine Lanze für Offenheit und Freimütigkeit, für die Überschreitung von Kategorien und Grenzen.
Denn dass in allen drei Kategorien dieses wichtigsten Preises des literarischen Frühjahrs Übersetzerinnen ausgezeichnet werden, das gab es noch nie. Und wenn – wie in diesem Fall – alle drei Bücher auch noch um das Übersetzen und seine unverzichtbare sprachliche und kulturelle Bedeutung kreisen, dann kann man die Preiskonstellation selbst geradezu als Kunstwerk begreifen.
Das Mitwirken der Übersetzerin Anne Birkenhauer an dem Preisträgerbuch in der Kategorie Belletristik, Tomer Gardis Eine runde Sache, bildet sicherlich die erstaunlichste und ungewöhnlichste Konstellation dieses Preisjahres. Vielleicht waren die Diskussionen, die es im Vorfeld hier und da über die Zulässigkeit einer solchen Nominierung gegeben hatte, auch der Grund dafür, dass Birkenhauers Anteil an diesem Buch bei der Preisverleihung eher am Rande vorkam.
Diese Ungleichbehandlung war vielleicht erwartbar, erstaunt aber im Kontext einer sonst für ihre Übersetzerfreundlichkeit bekannten Veranstaltung umso mehr. Schließlich hing von Birkenhauers Arbeit die gesamte Konstruktion von Gardis Buch ab, eines Buches, das laut Titelei „zur Hälfte“, de facto aber auf 150 von 250 Seiten aus ihrer Arbeit besteht.
Mehr noch: Die Übersetzungsarbeit ist bei Gardi nicht nur Dienstleistung, sondern essentieller Bestandteil seines auf Vielsprachlichkeit und ‑stimmigkeit ausgerichteten künstlerischen Gesamtkonzepts. „Ich [habe] ein Idee für eine Geschichte […], weiß aber nicht, ob ich es auf Hebräisch schreiben soll, oder auf meinem Deutsch. Verstähst du was ich meine? Jeder Stimme wird ja […] andere und unterschiedliche Fantasien entwickeln, von andere und unterschiedliche Lebenserfahrungen erzählen können“, klagt die ebenfalls Tomer Gardi genannte Romanfigur zu Beginn von Eine runde Sache. Der reale Tomer Gardi hat sich dafür entschieden, einfach beide Geschichten zu erzählen.
Diese zweigeteilte Form von Eine runde Sache macht den Roman nicht nur zu einem „Schelmenstück“, wie es in der Begründung der Jury heißt, sondern spiegelt auch die Themen, die hier – wie bei allen drei nominierten Büchern – im Zentrum stehen: Erfolg und Scheitern zwischensprachlicher Kommunikation und die Möglichkeiten, die ein polyglotter Zugang zur Welt bietet.
Im ersten Teil von Eine runde Sache erzählt Gardi in seinem „Broken German“, mit dem er 2016 die Jury des Bachmannpreises überforderte, eine komisch-groteske Parabel, zu deren Beginn ein sprachliches Missverständnis steht: Eine vermeintliche Spritztour auf einer Yacht entpuppt sich als Jagd. Die Beute? Der fiktive Tomer Gardi. Dieser trifft auf seiner Flucht nicht nur den sprechenden Schäferhund Rex (dem genialerweise eine „portabel Vagina“ als Maulkorb anlegt), sondern auch den Erlkönig, der natürlich kein gebrochenes Deutsch, sondern astreine Reime spricht.
(Ob man Gardis ‚gebrochenes Deutsch‘ wirklich als Kunstsprache kategorisieren muss, um zu rechtfertigen, dass ein nicht gänzlich Duden-konformer Text ausgezeichnet wurde, wäre allerdings eine Diskussion wert.)
Der zweite, von Anne Birkenhauer aus dem Hebräischen übersetzte Romanteil führt die Leser:innen ins 19. Jahrhundert. Diesmal ist die Hauptfigur der indonesische Maler Raden Saleh, der in jungen Jahren als Protegé der niederländischen Kolonialherren in Den Haag Malerei studiert, und anschließend als Hofmaler an sämtlichen Adelshäusern Europas zu Gast ist. Vordergründig eine historische Fiktion, hinter der aber nichts anderes steht als ein Spiel mit Fremdheitserfahrungen und den grenzüberschreitenden Möglichkeiten der Kunst.
Anne Birkenhauer stellt bei der Übertragung von Salehs Geschichte einmal mehr ihr übersetzerisches Können unter Beweis: Der Text fließt, jedes Wort sitzt, nirgends bleibt man an einem zu wörtlich übersetzen Idiom oder einer zu umständlichen Formulierung hängen. Dementsprechend lobten Besprechungen diesen zweiten Teil des Romans für seine sprachliche Eleganz – leider nicht immer mit dem Hinweis, dass dieses Leseerlebnis auch der Übersetzerin zu verdanken ist.
Bei Gardi und Birkenhauer sind Mehrsprachigkeit und das Übersetzen also stets präsent, aber das ist nichts gegen Nevermore, das Preisträgerbuch der Kategorie „Übersetzung“. Cécile Wajsbrot, selbst Übersetzerin, schreibt nämlich einen ganzen Roman auf Französisch über eine Übersetzerin aus dem Englischen, den Anne Weber wiederum ins Deutsche übersetzt – ein trilinguales Setup, bei dem einem schon mal schwindlig werden kann. Die Leserinnen und Lesern dürfen die Hauptfigur des Romans, eine Literaturübersetzerin, bei der Arbeit begleiten und bekommen so einen Einblick in ihre Gedanken beim Übersetzen von Virginia Woolfs To The Lighthouse. Satz für Satz erarbeitet sie eine (im Original eine französische, in Anne Webers Übersetzung eine deutsche) Übersetzung des Textes, recherchiert Hintergründe, probiert verschiedene Synonyme aus, verändert mit kleinsten Umstellungen des Satzbaus die Wirkung und nähert sich so einer neuen Fassung an. Was Übersetzer:innen halt so machen.
Dabei schlägt die Erzählerin Brücken zwischen auf den ersten Blick scheinbar unzusammenhängenden Handlungsebenen, die Anne Weber in all ihren Nuancen aufgefangen und ins Deutsche gebracht hat. Entstanden ist, wie die Jury schreibt, ein „‚Roman Noir‘ der Übersetzungskunst“; ein zugleich konkretes und metaphorisches Buch, das einen komplexen Prozess vielschichtiger behandelt als ein Handbuch für Übersetzung je könnte.
Die Grenzen zwischen den Kategorien verschwimmen: Wo Nevermore ein ziemlich essayistischer Roman ist, ist das Preisträgerbuch der Kategorie Sachbuch/Essayistik, Uljana Wolfs Etymologischer Gossip, eine ziemlich belletristische Essaysammlung. Das erkannte auch die Jury, die in ihrer Begründung zugab, Wolf hätte „in allen drei Kategorien für unseren Preis nominiert werden können”.
Man hätte sogar eine vierte Kategorie „Buchgestaltung“ hinzufügen können, und auch hier wäre der Etymologische Gossip preisverdächtig gewesen. Denn die Gestaltung des Kookbooks-Verlegers Andreas Töpfer nimmt ganz direkt auf den Inhalt Bezug. Die Grafik auf dem Cover ist die optische Nachbildung des ersten Eintrags in dem Band. Wiederum ist dieser Eintrag von gerade mal sieben Zeilen ein Kondensat. Eine Miniatur, die abbildet, was dem Leser in den 24 Essays und Reden begegnen wird. In ihnen zeigt sich Uljana Wolfs Denk‑, Arbeits‑, und Lebenswelt, die von der Unsicherheit als kreativem Motor angetrieben wird und in der die Ungewissheit schöpferische Freiheit bedeutet.
Es ist nicht überliefert, ob Tomer Gardi Uljana Wolf gelesen hat, aber ihre Essays lesen sich stellenweise wie eine theoretische Begründung seines „Broken German”. Denn Wolf, die zusammen mit Christian Hawkey Ilse Aichingers Schlechte Wörter ins Englische – wie bei Gardi nicht ihre Muttersprache – übersetzt hat, nimmt sich nichts Geringeres vor, als das uralte Schleiermacher’sche Konzept der Muttersprache theoretisch in Frage zu stellen und in ihrer eigenen Praxis zu Widerlegen.
Die Bedeutung des Störfalls, der Fremdheit und Unzugehörigkeit, der „Fehler als poetischer Zünder“ rückt bei ihrer Arbeit ins Zentrum der Betrachtung und macht diesen Band damit so aktuell und gesellschaftspolitisch relevant. Ihre Essays sind ein Plädoyer für eine polyglotte Lebensart, in der Sprache nicht als Instrument der Ausgrenzung und Abwertung benutzt wird, sondern als unser aller gemeinsames Spielzeug. Und so ist sie als Lyrikerin und Übersetzerin mit ihrer Arbeit eine wichtige Stimme, die die Relevanz von Sprache und Literatur und eben vom Übersetzen proklamiert, immer gelehrt, mit viel Humor und dafür ohne den Duktus erhabener Gewissheit.
Eine Gewissheit, die wohl auch Tomer Gardi auszutreiben weiß. Auch bei ihm ist der Störfall poetisches Programm und man kommt um die Frage: „Wer darf was?“ nicht mehr herum. Beide Bücher hinterfragen elitäre Abkapselung und führen intellektuellen Snobismus vor. Aus der berühmten Komfortzone geschubst, ermöglicht die Lektüre dieser Bücher es, sich ehrlich selbst zu reflektieren und sogar mit einem Zugewinn an Empathie belohnt zu werden.
Sollte man alle drei Bücher gemeinsam lesen? Unbedingt! Beginnen Sie mit Nevermore, um Ihre übersetzerischen Sinne zu schärfen und sich in der Mehrsprachigkeit einzurichten. Uljana Wolfs Etymologischer Gossip flüstert uns zu, was darüber hinaus noch so möglich wäre, und das Duo Gardi/Birkenhauer zeigt in Eine runde Sache, welche künstlerischen Möglichkeiten sich der Literatur der Zukunft eröffnen, wenn sie sich auf die ganz eigene Denkweise der Übersetzung einlässt.
Die Jury unter dem Vorsitz der Literaturkritikerin Insa Wilke hat mit ihrer Dreifachentscheidung das Übersetzen als solches, das Überschreiten von Grenzen, prämiert. Vielleicht sind diese drei Bücher seelenverwandt, ein Triptychon. Zukunftsliteratur. Die künstlichen Grenzen, die Kulturverwalter zwischen den Sprachen, zwischen den Genres und zwischen den Preiskategorien ziehen möchten, sind seit dem 17. März 2022 jedenfalls ein ganzes Stück irrelevanter geworden.
Falls dieser 17. März der Beginn einer Revolution gewesen sein sollte: Wir wären dabei.