Mein ers­tes Mal: Karin Betz

Für manche ist die erste literarische Übersetzung ein Spaziergang – für andere eine Zumutung. Die Sinologin Karin Betz blickt zurück auf ihre Anfänge als Übersetzerin. Von

Karin Betz und Mo Yan auf der Frankfurter Buchmesse 2009 (c) privat

In der Rei­he „Mein ers­tes Mal“ berich­ten Übersetzer:innen von ihrer ers­ten lite­ra­ri­schen Über­set­zung. Sie plau­dern aus dem Näh­käst­chen, berich­ten von den Lei­den des jun­gen Übersetzer:innenlebens und ver­ra­ten, in wel­che Fal­le man als Anfänger:in bloß nicht tap­pen soll­te. Alle Bei­trä­ge der Rei­he sind hier nachzulesen.


Mei­ne ers­te bezahl­te Über­set­zung war gleich eine Übung im Lek­to­rat des Ori­gi­nals. Ich muss etwa fünf­zehn gewe­sen sein, als ich für eine Nach­ba­rin, die kein Wort Eng­lisch sprach, aber als Tages­mut­ter für die Kin­der von Ange­hö­ri­gen der US-Army arbei­te­te, ab und zu Brie­fe an die Adres­se der Eltern ins Eng­li­sche über­setz­te. Das schrift­li­che Deutsch der Nach­ba­rin fiel lei­der auch recht beschei­den aus, so dass ich mich schon damals dar­in übte, ihrem Brief­stil ein wenig Schliff zu geben – wobei mein Eng­lisch damals garan­tiert auch noch gehö­rig Schliff benö­tig­te. Zehn Mark gab’s pro Brief und ich bin mir sicher, dass die Ergeb­nis­se zusam­men mit einem Hau­fen Pam­pers im Müll der Geschich­te gelan­det sind.

Es folg­ten wäh­rend mei­nes Sino­lo­gie-Stu­di­ums phi­lo­lo­gisch genaue Über­set­zun­gen klas­si­scher chi­ne­si­scher Gedich­te und Phi­lo­so­phie, stun­den­lan­ge Dis­kus­sio­nen dar­über, ob 道可道非常道 dao ke dao fei chang dao (dao/sagen/Weg kön­nen dao/sagen/Weg nicht gewöhnlich/häufig/beständig dao/sagen/Weg) nun z.B., „Das Dao, das man benen­nen kann, ist nicht das gewöhn­li­che Dao“ hei­ßen muss oder „Der Weg, den man gehen kann, ist kein bestän­di­ger Weg“ (mög­lich, aber weder sinn­voll noch meta­phy­sisch) oder wie der Schrei eines chi­ne­si­schen Fisch­rei­hers klingt („guan guan“?). 

Span­nen­der wur­de es, als ich aus Chi­na Unter­grund­zeit­schrif­ten mit Gedich­ten jun­ger Dich­ter der soge­nann­ten post-obsku­ren Lyrik mit­brach­te und mit zwei Stu­di­en­freun­den unse­ren eige­nen klei­nen Über­set­zungs­kreis bil­de­te, um alles zu über­set­zen, was uns dar­aus gefiel. Trotz gro­ßer Plä­ne hat kei­nes unse­rer Ergeb­nis­se damals den Weg in den Druck gefun­den (oder gesucht), sie lie­gen aber heu­te noch in mei­ner Schub­la­de. Und über­haupt – Über­set­ze­rin woll­te ich ohne­hin nicht wer­den und habe mir vor­erst auf ande­ren Pfa­den mei­nen Weg gesucht. Mein Sprung­brett in die Ver­lags­welt waren schließ­lich Liao Yiwus Gesprä­che mit Men­schen am Ran­de der chi­ne­si­schen Gesell­schaft und Essays von Yang Lian für die Zeit­schrift Lett­re Inter­na­tio­nal. Eines Tages rief dann über­ra­schend ein jun­ger Lek­tor des Suhr­kamp-Ver­lags bei mir an, Ben­ja­min Specht, und gewann mich ziem­lich schnell dafür, Essays von Yang Lian für einen Band zu übersetzen.

Mei­ne gefühlt ers­te, ech­te lite­ra­ri­sche Über­set­zung folg­te für mich Ende 2008, als der­sel­be Lek­tor drin­gend nach einer Über­set­ze­rin für einen chi­ne­si­schen Roman such­te. Chi­na war 2009 umstrit­te­nes Gast­land der Frank­fur­ter Buch­mes­se und sämt­li­che erfah­re­nen Übersetzer*innen aus dem Chi­ne­si­schen waren aus­ge­bucht. Ich warf einen Blick in die bei­gefüg­te pdf-Datei des Ori­gi­nals – und lehn­te ab. Ein groß­ar­ti­ger his­to­ri­scher Roman war das, sti­lis­tisch kom­po­niert und auf­ge­baut wie eine tra­di­tio­nel­le Shan­don­ger Kat­zen­oper, mit Ari­en der Prot­ago­nis­ten und einem hoch­dra­ma­ti­schen Plot. Aber voll von Zita­ten aus klas­si­scher chi­ne­si­scher Lite­ra­tur, von Gedich­ten und his­to­ri­schen Details … wie soll­te ich Anfän­ge­rin in einem hal­ben Jahr die rund 650 Norm­sei­ten auf Deutsch hin­be­kom­men? Aber der Lek­tor ließ nicht locker, mach­te das freund­li­che Kom­pli­ment, dass er mir schon anhand des Stils mei­ner E‑Mails zutraue, die­ses Werk ange­mes­sen ins Deut­sche zu brin­gen und ver­sprach mir ein die Über­set­zung beglei­ten­des Lek­to­rat durch eine erfah­re­ne Sti­lis­tin. Schließ­lich wil­lig­te ich ein. Und litt. 

Fünf Prot­ago­nis­ten, ein eit­ler Fol­ter­meis­ter, ein gelehr­ter Prä­fekt, ein rau­bei­ni­ger Stra­ßen­opern­sän­ger, sei­ne klu­ge, akro­ba­ti­sche Toch­ter und ihr Ehe­mann, ein tum­ber Metz­ger­meis­ter. Für jeden brauch­te es eine eige­ne Stim­me. Geschrie­ben 2001, aber im Jahr 1900 spie­lend; das chi­ne­si­sche Kai­ser­reich ist dem Unter­gang geweiht, Anhän­ger der Reform­be­we­gung wer­den öffent­lich hin­ge­rich­tet, auch der Bru­der des Prä­fekts, des gelehr­ten Beam­ten, der ger­ne Kon­fu­zi­us zitiert und sei­ne Welt erschüt­tert sieht. Der Bru­der geht nach Japan an eine moder­ne Mili­tär­schu­le und for­dert, dass Chi­na sich erneu­ern muss, um den Kolo­ni­al­mäch­ten die Stirn zu bie­ten. Der Prä­fekt wie­der­um hat eine Affä­re mit der Toch­ter des Stra­ßen­opern­sän­gers, der gegen die deut­schen Kolo­ni­al­her­ren in Shan­dong rebel­liert. Nun soll aus­ge­rech­net der Prä­fekt ihren Vater hin­rich­ten las­sen, noch dazu for­dern die deut­schen Besat­zer, dass die Hin­rich­tung mög­lichst lang­sam und qual­voll sein möge. Die Aus­füh­rung der Stra­fe wird dem Fol­ter­meis­ter über­las­sen, der wie­der­um als jun­ger Mensch enger Freund eines Refor­m­an­hän­gers war, den er eigen­hän­dig köp­fen muss­te.  Auch his­to­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten tre­ten auf, die Kai­se­rin­wit­we Cixi oder Yuan Shi­kai. Star­ker Tobak? Aller­dings. Trotz viel Humor und einer poe­tisch-bild­rei­chen Spra­che ist die­ses Werk eine hand­fes­te Tra­gö­die, bei der es nur Ver­lie­rer gibt.

Dass die Über­set­zungs­ar­beit an dem unter ande­rem von aus­ge­klü­gel­ten Fol­ter­me­tho­den han­deln­den Roman kei­ne rei­ne Zumu­tung blieb, habe ich vor allem der (Außen-) Lek­to­rin zu ver­dan­ken, der Autorin Susan­ne Röckel (Ver­ges­se­ne Muse­en, Der Vogel­gott). Röckel hat ein­mal eine Wei­le in Chi­na gelebt, spricht aber so gut wie kein Chi­ne­sisch und schreibt dafür mes­ser­schar­fes Deutsch. Anders als ich damals. Sel­ten habe ich mich so gede­mü­tigt gefühlt wie beim Durch­se­hen von Susan­ne Röckels Lek­to­rat des ers­ten Kapi­tels (ca. 50 Norm­sei­ten) mei­ner Über­set­zung. Sie bestand dar­auf, per Hand zu lek­to­rie­ren. Mei­ne aus­ge­druck­te Über­set­zung flat­ter­te also per Post zurück zu mir ins Haus. Kein ein­zi­ger Satz hat­te vor dem Röckel’schen Rot­stift Bestand gehabt („Sie müs­sen das natür­lich nicht über­neh­men.“) Auf­ge­ben ging nicht. Also tief durch­at­men und Satz für Satz noch ein­mal schrei­ben. Ärgern. Nach­den­ken. Fra­gen. Ver­ste­hen. Freu­en. Ja, am Ende stand die Freu­de der Erkennt­nis, die Dank­bar­keit für so viel klu­ge Sorg­falt, so viel Mut zu völ­lig gerecht­fer­tig­ten Kür­zun­gen, so viel ele­gan­te­res, schmis­si­ges Deutsch, das den Ori­gi­nal­text zum Leuch­ten brach­te. So macht man das also. Nicht jedem Kor­rek­tur­vor­schlag bin ich gefolgt, aber gewiss den meis­ten. Ich über­setz­te das nächs­te Kapi­tel mit neu­em Schwung, mit emsig anhand des Dorn­seiff erschlos­se­nem, sti­lis­tisch har­mo­ni­schem und viel­sei­ti­gem Voka­bu­lar, weg von der chi­ne­si­schen, hin zur deut­schen Syn­tax … „Vor­rö­ckeln“ nann­te ich das für mich.

Ich war damals weder Mit­glied des VdÜ (ich wuss­te nichts von der Exis­tenz des VdÜ), hat­te eine ein­zi­ge deutsch-chi­ne­si­sche Über­setz­er­werk­statt besucht und wuss­te auch nichts vom DÜF, sei­nen Sti­pen­di­en- und Fort­bil­dungs­pro­gram­men für Literaturübersetzer*innen. Von Kapi­tel zu Kapi­tel ging ich nun erst­mal bei Susan­ne Röckel in die Leh­re, erstell­te Lis­ten, pro­bier­te Wort­spie­le aus. Schrieb dem Autor, wenn ich Fra­gen hat­te und stell­te fest, dass sei­ne Ant­wor­ten, die schnell und freund­lich per E‑Mail kamen, mir sel­ten wei­ter­hal­fen. Tele­fo­nier­te mit Susan­ne Röckel, um Miss­ver­ständ­nis­se zu klä­ren oder Rat zu kna­cki­gen Rei­men zu erhal­ten („Die Die­ner brin­gen ihre Schätze/während ich mein Mes­ser wet­ze“). Und jedes Kapi­tel kam weni­ger rot­stift­ver­wüs­tet zu mir zurück.

Als ich den letz­ten Satz tipp­te („Die Vor­stel­lung ist zu Ende“ sagt der rebel­li­sche Held, nach­dem er sei­ne letz­te trot­zi­ge Arie gesun­gen hat und stirbt; les jeux sont faits, dach­te ich) hat­te ich das Gefühl, mit der Arbeit an die­sem Roman mei­ner eige­nen Über­set­ze­rin­nen­wer­dung bei­gewohnt zu haben. Aus­ge­lernt hat­te ich damit noch lan­ge – und bis heu­te – nicht. Bin aber sehr bald in den VdÜ ein­ge­tre­ten, Mit­glied der Welt­le­se­büh­ne gewor­den (die mich mit die­sem Roman zu mei­ner ers­ten Über­set­ze­rin­nen­le­sung ein­ge­la­den hat­te!) und dan­ke bei jedem DÜF-Work­shop, bei jedem Sti­pen­di­um den ehren­wer­ten Men­schen (wie Rose­ma­rie Tiet­ze!), die den DÜF ins Leben geru­fen haben.

Bei dem Roman han­del­te es sich um Die San­del­holz­stra­fe des als Meis­ter des chi­ne­si­schen magi­schen Rea­lis­mus gefei­er­ten Autors Mo Yan. Erschie­nen ist er im Herbst 2009 im Insel Ver­lag. Drei Jah­re spä­ter erhielt sein Ver­fas­ser über­ra­schend den Nobel­preis für Lite­ra­tur und ich war offen­bar der ein­zi­ge Mensch auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se, der mehr als Ober­fläch­lich­kei­ten zu sei­nem Werk zu sagen hat­te. Unver­se­hens hat­te ich mei­ne Five Minu­tes of Fame, den gan­zen Tag über reck­ten sich mir Mikro­fo­ne unter die Nase und ich fla­cker­te mit mei­nen State­ments kurz durch die Tages­schau. Wenig spä­ter ein Anruf aus Stock­holm: Das Nobel­preis­ko­mi­tee wün­sche sich mich als Über­set­ze­rin für die Nobel-Lec­tu­re Mo Yans am 10. Dezem­ber. Die Geschich­ten­er­zäh­ler hat­te er die Rede beti­telt, in der er auf die Kri­tik an sei­ner Wei­ge­rung, vor der Pres­se poli­tisch (gegen die Regie­rung der VR Chi­na) Stel­lung zu bezie­hen, mit einer Alle­go­rie ant­wor­tet. Lei­der woll­te der Suhr­kamp Ver­lag wegen die­ser Kri­tik an der Per­son Mo Yans ihn damals nicht wei­ter ver­le­gen und ich ver­lor einen gro­ßen Autor, den ich eben erst gewon­nen hat­te und des­sen Werk ich bis heu­te schätze.

Mo Yan mag öffent­li­che poli­ti­sche Stel­lung­nah­men ver­wei­gern, aber sei­ne Roma­ne sind hoch­po­li­tisch; sie han­deln von Aus­beu­tung, Rebel­li­on, den unge­hör­ten Stim­men der armen Bau­ern Chi­nas. Die San­del­holz­stra­fe ist mein Lieb­lings­werk Mo Yans; nicht, weil so viel per­sön­li­che Über­set­zer­ver­zweif­lung und Über­set­zer­rei­fung dar­in ste­cken, son­dern weil es sich um einen erstaun­li­chen Roman in einer Erzähl­tech­nik han­delt, die durch gro­tes­ke, fan­ta­sie­vol­le Zuspit­zung selbst grau­sa­me Fol­ter­sze­nen zu einer poe­tisch-phi­lo­so­phi­schen Refle­xi­on über die Absur­di­tät von Herr­schaft und Unter­drü­ckung macht und Fra­gen nach Loya­li­tät, gesell­schaft­li­cher Erneue­rung, Ver­lust der eige­nen Geschich­te stellt. Der Roman spielt in einer Zeit, in der Chi­na dar­um rang, ein moder­nes Land zu wer­den, ohne die eige­ne Tra­di­ti­on zu ver­leug­nen und es immer­hin schaff­te, die grau­sa­men Zwän­ge des Kolo­nia­lis­mus abzu­schüt­teln. Die­ses Rin­gen hat Mo Yan in Spra­che über­setzt, in eine opern­haf­te Viel­stim­mig­keit und heu­te, wo die Qua­len die­ser Über­set­zungs­ar­beit ver­ges­sen sind, bin ich stolz, dass mei­ne Über­set­zung die­sen Chor auf Deutsch tönen las­sen darf. Und Susan­ne Röckel für immer dankbar. 


Karin Betz


Karin Betz ist Sino­lo­gin, über­setzt chi­ne­si­sche und eng­li­sche Lite­ra­tur und arbei­tet auch als Kul­tur­ver­mitt­le­rin, Her­aus­ge­be­rin, Mode­ra­to­rin und DJ. Außer­dem schreibt sie Rezen­sio­nen und Arti­kel, vor allem über Lite­ra­tur und ihre Über­set­zung, über zeit­ge­nös­si­sche Lyrik, Text & Musik und Tan­go Argen­ti­no. Im WS 2021/22 war sie August-Wil­helm-von-Schle­gel-Gast­pro­fes­so­rin für Poe­tik der Über­set­zung an der FU Ber­lin. Sie lebt in Frank­furt am Main.


Die San­del­holz­stra­fe

Im chi­ne­si­schen Ori­gi­nal: Tanxiang xing

Insel 2009 ⋅651 Sei­ten ⋅ 29,80 Euro


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