In der Reihe „Mein erstes Mal“ berichten Übersetzer:innen von ihrer ersten literarischen Übersetzung. Sie plaudern aus dem Nähkästchen, berichten von den Leiden des jungen Übersetzer:innenlebens und verraten, in welche Falle man als Anfänger:in bloß nicht tappen sollte. Alle Beiträge der Reihe sind hier nachzulesen.
Meine erste bezahlte Übersetzung war gleich eine Übung im Lektorat des Originals. Ich muss etwa fünfzehn gewesen sein, als ich für eine Nachbarin, die kein Wort Englisch sprach, aber als Tagesmutter für die Kinder von Angehörigen der US-Army arbeitete, ab und zu Briefe an die Adresse der Eltern ins Englische übersetzte. Das schriftliche Deutsch der Nachbarin fiel leider auch recht bescheiden aus, so dass ich mich schon damals darin übte, ihrem Briefstil ein wenig Schliff zu geben – wobei mein Englisch damals garantiert auch noch gehörig Schliff benötigte. Zehn Mark gab’s pro Brief und ich bin mir sicher, dass die Ergebnisse zusammen mit einem Haufen Pampers im Müll der Geschichte gelandet sind.
Es folgten während meines Sinologie-Studiums philologisch genaue Übersetzungen klassischer chinesischer Gedichte und Philosophie, stundenlange Diskussionen darüber, ob 道可道非常道 dao ke dao fei chang dao (dao/sagen/Weg können dao/sagen/Weg nicht gewöhnlich/häufig/beständig dao/sagen/Weg) nun z.B., „Das Dao, das man benennen kann, ist nicht das gewöhnliche Dao“ heißen muss oder „Der Weg, den man gehen kann, ist kein beständiger Weg“ (möglich, aber weder sinnvoll noch metaphysisch) oder wie der Schrei eines chinesischen Fischreihers klingt („guan guan“?).
Spannender wurde es, als ich aus China Untergrundzeitschriften mit Gedichten junger Dichter der sogenannten post-obskuren Lyrik mitbrachte und mit zwei Studienfreunden unseren eigenen kleinen Übersetzungskreis bildete, um alles zu übersetzen, was uns daraus gefiel. Trotz großer Pläne hat keines unserer Ergebnisse damals den Weg in den Druck gefunden (oder gesucht), sie liegen aber heute noch in meiner Schublade. Und überhaupt – Übersetzerin wollte ich ohnehin nicht werden und habe mir vorerst auf anderen Pfaden meinen Weg gesucht. Mein Sprungbrett in die Verlagswelt waren schließlich Liao Yiwus Gespräche mit Menschen am Rande der chinesischen Gesellschaft und Essays von Yang Lian für die Zeitschrift Lettre International. Eines Tages rief dann überraschend ein junger Lektor des Suhrkamp-Verlags bei mir an, Benjamin Specht, und gewann mich ziemlich schnell dafür, Essays von Yang Lian für einen Band zu übersetzen.
Meine gefühlt erste, echte literarische Übersetzung folgte für mich Ende 2008, als derselbe Lektor dringend nach einer Übersetzerin für einen chinesischen Roman suchte. China war 2009 umstrittenes Gastland der Frankfurter Buchmesse und sämtliche erfahrenen Übersetzer*innen aus dem Chinesischen waren ausgebucht. Ich warf einen Blick in die beigefügte pdf-Datei des Originals – und lehnte ab. Ein großartiger historischer Roman war das, stilistisch komponiert und aufgebaut wie eine traditionelle Shandonger Katzenoper, mit Arien der Protagonisten und einem hochdramatischen Plot. Aber voll von Zitaten aus klassischer chinesischer Literatur, von Gedichten und historischen Details … wie sollte ich Anfängerin in einem halben Jahr die rund 650 Normseiten auf Deutsch hinbekommen? Aber der Lektor ließ nicht locker, machte das freundliche Kompliment, dass er mir schon anhand des Stils meiner E‑Mails zutraue, dieses Werk angemessen ins Deutsche zu bringen und versprach mir ein die Übersetzung begleitendes Lektorat durch eine erfahrene Stilistin. Schließlich willigte ich ein. Und litt.
Fünf Protagonisten, ein eitler Foltermeister, ein gelehrter Präfekt, ein raubeiniger Straßenopernsänger, seine kluge, akrobatische Tochter und ihr Ehemann, ein tumber Metzgermeister. Für jeden brauchte es eine eigene Stimme. Geschrieben 2001, aber im Jahr 1900 spielend; das chinesische Kaiserreich ist dem Untergang geweiht, Anhänger der Reformbewegung werden öffentlich hingerichtet, auch der Bruder des Präfekts, des gelehrten Beamten, der gerne Konfuzius zitiert und seine Welt erschüttert sieht. Der Bruder geht nach Japan an eine moderne Militärschule und fordert, dass China sich erneuern muss, um den Kolonialmächten die Stirn zu bieten. Der Präfekt wiederum hat eine Affäre mit der Tochter des Straßenopernsängers, der gegen die deutschen Kolonialherren in Shandong rebelliert. Nun soll ausgerechnet der Präfekt ihren Vater hinrichten lassen, noch dazu fordern die deutschen Besatzer, dass die Hinrichtung möglichst langsam und qualvoll sein möge. Die Ausführung der Strafe wird dem Foltermeister überlassen, der wiederum als junger Mensch enger Freund eines Reformanhängers war, den er eigenhändig köpfen musste. Auch historische Persönlichkeiten treten auf, die Kaiserinwitwe Cixi oder Yuan Shikai. Starker Tobak? Allerdings. Trotz viel Humor und einer poetisch-bildreichen Sprache ist dieses Werk eine handfeste Tragödie, bei der es nur Verlierer gibt.
Dass die Übersetzungsarbeit an dem unter anderem von ausgeklügelten Foltermethoden handelnden Roman keine reine Zumutung blieb, habe ich vor allem der (Außen-) Lektorin zu verdanken, der Autorin Susanne Röckel (Vergessene Museen, Der Vogelgott). Röckel hat einmal eine Weile in China gelebt, spricht aber so gut wie kein Chinesisch und schreibt dafür messerscharfes Deutsch. Anders als ich damals. Selten habe ich mich so gedemütigt gefühlt wie beim Durchsehen von Susanne Röckels Lektorat des ersten Kapitels (ca. 50 Normseiten) meiner Übersetzung. Sie bestand darauf, per Hand zu lektorieren. Meine ausgedruckte Übersetzung flatterte also per Post zurück zu mir ins Haus. Kein einziger Satz hatte vor dem Röckel’schen Rotstift Bestand gehabt („Sie müssen das natürlich nicht übernehmen.“) Aufgeben ging nicht. Also tief durchatmen und Satz für Satz noch einmal schreiben. Ärgern. Nachdenken. Fragen. Verstehen. Freuen. Ja, am Ende stand die Freude der Erkenntnis, die Dankbarkeit für so viel kluge Sorgfalt, so viel Mut zu völlig gerechtfertigten Kürzungen, so viel eleganteres, schmissiges Deutsch, das den Originaltext zum Leuchten brachte. So macht man das also. Nicht jedem Korrekturvorschlag bin ich gefolgt, aber gewiss den meisten. Ich übersetzte das nächste Kapitel mit neuem Schwung, mit emsig anhand des Dornseiff erschlossenem, stilistisch harmonischem und vielseitigem Vokabular, weg von der chinesischen, hin zur deutschen Syntax … „Vorröckeln“ nannte ich das für mich.
Ich war damals weder Mitglied des VdÜ (ich wusste nichts von der Existenz des VdÜ), hatte eine einzige deutsch-chinesische Übersetzerwerkstatt besucht und wusste auch nichts vom DÜF, seinen Stipendien- und Fortbildungsprogrammen für Literaturübersetzer*innen. Von Kapitel zu Kapitel ging ich nun erstmal bei Susanne Röckel in die Lehre, erstellte Listen, probierte Wortspiele aus. Schrieb dem Autor, wenn ich Fragen hatte und stellte fest, dass seine Antworten, die schnell und freundlich per E‑Mail kamen, mir selten weiterhalfen. Telefonierte mit Susanne Röckel, um Missverständnisse zu klären oder Rat zu knackigen Reimen zu erhalten („Die Diener bringen ihre Schätze/während ich mein Messer wetze“). Und jedes Kapitel kam weniger rotstiftverwüstet zu mir zurück.
Als ich den letzten Satz tippte („Die Vorstellung ist zu Ende“ sagt der rebellische Held, nachdem er seine letzte trotzige Arie gesungen hat und stirbt; les jeux sont faits, dachte ich) hatte ich das Gefühl, mit der Arbeit an diesem Roman meiner eigenen Übersetzerinnenwerdung beigewohnt zu haben. Ausgelernt hatte ich damit noch lange – und bis heute – nicht. Bin aber sehr bald in den VdÜ eingetreten, Mitglied der Weltlesebühne geworden (die mich mit diesem Roman zu meiner ersten Übersetzerinnenlesung eingeladen hatte!) und danke bei jedem DÜF-Workshop, bei jedem Stipendium den ehrenwerten Menschen (wie Rosemarie Tietze!), die den DÜF ins Leben gerufen haben.
Bei dem Roman handelte es sich um Die Sandelholzstrafe des als Meister des chinesischen magischen Realismus gefeierten Autors Mo Yan. Erschienen ist er im Herbst 2009 im Insel Verlag. Drei Jahre später erhielt sein Verfasser überraschend den Nobelpreis für Literatur und ich war offenbar der einzige Mensch auf der Frankfurter Buchmesse, der mehr als Oberflächlichkeiten zu seinem Werk zu sagen hatte. Unversehens hatte ich meine Five Minutes of Fame, den ganzen Tag über reckten sich mir Mikrofone unter die Nase und ich flackerte mit meinen Statements kurz durch die Tagesschau. Wenig später ein Anruf aus Stockholm: Das Nobelpreiskomitee wünsche sich mich als Übersetzerin für die Nobel-Lecture Mo Yans am 10. Dezember. Die Geschichtenerzähler hatte er die Rede betitelt, in der er auf die Kritik an seiner Weigerung, vor der Presse politisch (gegen die Regierung der VR China) Stellung zu beziehen, mit einer Allegorie antwortet. Leider wollte der Suhrkamp Verlag wegen dieser Kritik an der Person Mo Yans ihn damals nicht weiter verlegen und ich verlor einen großen Autor, den ich eben erst gewonnen hatte und dessen Werk ich bis heute schätze.
Mo Yan mag öffentliche politische Stellungnahmen verweigern, aber seine Romane sind hochpolitisch; sie handeln von Ausbeutung, Rebellion, den ungehörten Stimmen der armen Bauern Chinas. Die Sandelholzstrafe ist mein Lieblingswerk Mo Yans; nicht, weil so viel persönliche Übersetzerverzweiflung und Übersetzerreifung darin stecken, sondern weil es sich um einen erstaunlichen Roman in einer Erzähltechnik handelt, die durch groteske, fantasievolle Zuspitzung selbst grausame Folterszenen zu einer poetisch-philosophischen Reflexion über die Absurdität von Herrschaft und Unterdrückung macht und Fragen nach Loyalität, gesellschaftlicher Erneuerung, Verlust der eigenen Geschichte stellt. Der Roman spielt in einer Zeit, in der China darum rang, ein modernes Land zu werden, ohne die eigene Tradition zu verleugnen und es immerhin schaffte, die grausamen Zwänge des Kolonialismus abzuschütteln. Dieses Ringen hat Mo Yan in Sprache übersetzt, in eine opernhafte Vielstimmigkeit und heute, wo die Qualen dieser Übersetzungsarbeit vergessen sind, bin ich stolz, dass meine Übersetzung diesen Chor auf Deutsch tönen lassen darf. Und Susanne Röckel für immer dankbar.