Mit den Worten des wohl bekanntesten japanischen Schriftstellers in Deutschland auf dem Buchcover wird den Lesern von Heaven (hevun ヘヴン) einiges versprochen: „Mieko Kawakami wächst und entwickelt sich unaufhörlich weiter“, urteilt Haruki Murakami. Es ist bekannt, dass die beiden Autoren sich gegenseitig bewundern, aber auch ihre schärfsten Kritiker sind. Kawakami stellt immer wieder, als weibliche Autorin und Feministin, Murakamis Frauenfiguren und deren Psychogramme infrage. Mit der Übersetzung von Heaven durch die erfahrene Übersetzerin und Japanologin Katja Busson ist dieses Werk nun auch im deutschsprachigen Raum zugänglich. Die Übersetzung ist u. a. auf der Litprom-Bestenliste „Weltempfänger Nr. 53“ vertreten. Mit dieser Bestenliste werden seit 2008 Neuübersetzungen und ihre deutschen Stimmgeber gewürdigt.
Heaven, das zweite Buch Kawakamis, fühlt sich gar nicht wie der Himmel an, eher wie die Hölle auf Erden. Diese Hölle erleben wir durch die Perspektive des 14-jährigen schielenden Protagonisten. Er beschreibt die brutalen Schikanen durch seine Mitschüler, insbesondere durch Ninomiya und Momose, die für die ganze Gruppe cooler Kids und Mobber stehen. Eines Tages findet der namenlose Protagonist einen kleinen Zettel, auf dem der Satz „Wir gehören zur selben Sorte“ steht. Perplex und voll Furcht vor einer weiteren Demütigung versucht er zunächst, die immer häufiger auftauchenden Briefchen zu ignorieren. Doch als ein Ort und eine Uhrzeit auf dem Stück Papier stehen, nimmt er allen Mut zusammen und geht zum vereinbarten Treffpunkt. In Erwartung seiner nächsten Peinigung trifft er jedoch auf jemand völlig Unerwarteten – seine ebenfalls von Ninomiya gemobbte Mitschülerin Kojima.
Nach dieser Begegnung entsteht ein geheimes und zartes Bündnis zwischen den beiden. Da sie Angst vor Ninomiya & Co. und den Konsequenzen ihrer Freundschaft haben, halten sie diese geheim und tun in der Schule so, als seien sie Fremde, während sie heimlich Nachrichten schreiben und nächste Treffen vereinbaren. Der Roman handelt also von zwei verlorenen Seelen, die sich im Dunklen zusammentun, um diese belastende Zeit der Mittelstufe irgendwie zu überstehen. Dabei lässt die Autorin immer wieder Hoffnung und Zuversicht aufkeimen, nur um diese gleich wieder in ihre Schranken zu verweisen und mit Füßen zu treten. Auch Zukunftsängste, Depressionen, Gewalt, zerrüttete Familienverhältnisse und permanente Hilflosigkeit lassen einen als Leser genauso emotional ins Schwimmen kommen wie die beiden Teenager, die versuchen, ihren Weg im Leben zu finden.
Das Buch erschien 2009 am Ende der sogenannten „zero nendai“ in Japan. Diese Zeit ist von den Ereignissen der 90er Jahre in Japan mit den Giftgasanschlägen der AUM-Sekte, dem Erdbeben von Kobe und dem Platzen der Immobilienspekulationsblase gekennzeichnet. All dies führte zu prekären Lebensumständen in Japan und die Gesellschaft erholte sich erst langsam davon. Dementsprechend düster, melancholisch oder auch rebellisch war die Literatur und Kunst. Da die Übersetzung erst 2021 auf Deutsch erschienen ist, hatte Katja Busson mit ganz anderen Herausforderungen zu kämpfen. Trotz der 12 Jahre zwischen dem Original und der Übersetzung ist der Inhalt von Heaven leider immer noch ein aktuelles Thema an Schulen und für Jugendliche.
Busson hat zuvor schon den globalen Bestseller Brüste und Eier von Mieko Kawakami übersetzt, daher ist ein fundiertes Sprachgefühl für die Autorin und ihren Stil vorhanden. Busson gelingt es zudem, Jugendsprache in ihrer Übersetzung zu verwenden, ohne dabei „cringe“ zu wirken. Oft wird Jugendsprache in Romanen kritisiert, wenn sie übertrieben oder deplatziert wirkt. Zum Großteil hat Busson aber den richtigen Ton getroffen. Beispielsweise direkt im ersten Kapitel mit der Verwendung des Wortes „creepy“, was ein häufig verwendetes Modewort unter Jugendlichen und in Deutschland ein bekannter Anglizismus ist:
「来ると思ってなかった」とコジマはたよりない顔で笑った。「気持ち悪いと思った?」とっさに言葉がでなかったので、僕は首を横にふった。しばらくふたりとも黙ったまま立っていた。
„Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst“, sagte sie und lachte zaghaft. „Fandest du die Briefe creepy?“ Ich schüttelte den Kopf, auf Anhieb brachte ich kein Wort heraus. Eine Weile verharrten wir schweigend.
Eine jugendliche Eigenschaft von Kojima ist es, sich immer wieder andere Begrüßungen in ihren Briefen einfallen zu lassen, die in der Übersetzung zuerst ein wenig an das hawaiianische „Aloha“ erinnern. Sie ist dabei recht kreativ. Es kommen viele verschiedene Begrüßungsvarianten vor, wie etwa „Loha“, „Lohaloha“ oder „Lohaliha“. Dabei handelt es sich in der deutschen Übersetzung vermutlich um Abwandlungen des Wortes „Hallo“ oder „Hallihallo“. Das Wort „Hallo“ gibt es auch im Japanischen als „ha ro“ ハロ mit gerolltem „r“ statt „l”. Hier werden jedoch die Wörter nicht einfach nur rückwärts gelesen, sondern die kompletten Silben getauscht. Dadurch erhält Kojima einen fröhlichen und jugendlichen Touch. Hier hält sich Katja Busson also an das japanische Original.
Der Protagonist hingegen, dessen Gedanken und Gefühlswelt uns durch den Roman führen, wirkt zuweilen kaum wie ein Teenager. Dies liegt nicht an seinem Verhalten, welches beim Lesen als plausibel und mitleiderregend empfunden werden kann, sondern an der Beobachterperspektive und stellenweise an der Wortwahl in der Übersetzung:
それはなんだかずいぶん昔のできごとのように思えたけれど、季節をひとつかふたつまたいだだけの時間しかたっていなかった。
Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dabei war seitdem erst eine Jahreszeit ins Land gegangen.
Oder:
わたしと君が、いまここでなにかがあって死ぬかなにかして、それでもう酷い目に遭わされることがなくなったとしても、いつだってどこかで、おなじようなことが起きてるんだよ。(…)」
„Selbst wenn irgendetwas passierte, wenn wir zum Beispiel stürben, du oder ich, und das Mobbing damit ein Ende hätte, würde sich nichts ändern. Die Schwachen würden weiter gequält.“
Dieser komplexe Satzbau vermittelt den Eindruck, dass der Protagonist sehr belesen und für sein Alter verhältnismäßig weitsichtig ist. Vor allem im Vergleich zu Kojima, Ninomiya und den anderen wirkt er unheimlich erwachsen. Auch wenn die hilflosen Gedankengänge, Wutausbrüche, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit des Erzählers zwischendurch eine andere Sprache sprechen. Nur an ein paar wenigen Stellen wundert man sich beim bewussten Lesen des Buches etwas über die gewählten Wort- und Zeitformen. Auch wenn das Japanische diese Verbform vorgibt, wäre es wohl im Sinne des Schreibstils und der Verbundenheit mit dem Protagonisten besser gewesen, hier etwas freier zu formulieren. An diesen Stellen wirken die sonst so jugendlichen und sprunghaften Charaktere etwas steif. So positiv wie die eingebaute Jugendsprache zuvor auffällt, begegnet dem Leser hier ein etwas holpriges „Hochdeutsch“. Denn kaum ein Teenager würde die Verbform „stürben“ für sterben nehmen. Wahrscheinlicher wäre wohl ein Anglizismus oder einfachere Sprache. Denn sonst fragt man sich als Leser, wer nun tatsächlich erzählt: die Autorin oder die 14-jährige Hauptfigur?
Es drängt sich der Gedanke auf, ob dies ein zusätzliches stilistisches Mittel Kawakamis war, um die Sonderstellung des Protagonisten als Außenseiter neben seinem beeinträchtigten Aussehen weiter zu verstärken. So wirkt es jedenfalls auf sprachlicher Ebene, unabhängig von der korrekten Übersetzung.
Die Übersetzerin Katja Busson bringt den Leser durch Wortwahl und Satzbau immer wieder zum Stolpern: aber gewollt. Denn der Leser weiß zu jeder Zeit nur so viel wie der Protagonist selbst und dieser wundert sich über bestimmte Worte oder versteht nicht auf Anhieb, was seine Kameradin im Schmerze (Kojima) ihm eigentlich genau sagen will.
「うれぱみん」とコジマは笑顔のまま、ためいきまじりにそう言って、自分の足もとを見た。うれ、なかで短く繰りかえし、なにを言ったのかききかえしたかったけれど、そういうことはとのタイミングでどんなふうにきけばいいのかわからなかったので、けっきょく黙ったままだった。
„Freumin“, seufzte Kojima immer noch lächelnd und sah zu Boden. Freu… wiederholte ich im Kopf und wollte fragen, was sie damit meine, aber da ich nie wusste, wann und wie man solche Fragen am besten stellte, blieb ich stumm.
Erst später versteht er, dass sie passend zu ihrer jeweiligen Stimmung Namen von Hormonen erfindet: Freumin, Deprimin und Einsamin.
Ein witziger Einfall seitens Busson ist auch die ironische Verwendung des Schimpfwortes „Hirnkaputtniks“ (nouten faraa 脳天ファラー) in Bezug auf die dementen Großeltern Kojimas. Die Autorin lässt Kojima ein Wort verwenden, das der Protagonist nicht kennt, und dadurch wirkt es noch ulkiger. Bussons Lösung ist amüsant und erfüllt den Zweck der Förderung der Interaktion zwischen den beiden Teenagern.
Immer wieder begegnet man beim Lesen der Formulierung „zur selben Sorte” (im Original: „nakama”):
わたしたちは仲間です〉と書かれてあった。うすい筆跡で魚の小骨みたいな字で、そのほかにはなにも書かれていなかった。
„Wir gehören zur selben Sorte“ stand mit Druckbleistift darauf geschrieben, mehr nicht. Die blassen Zeichen sahen aus wie Gräten.
„Nakama” ist ein starkes Wort, das mit Verbundenheit, Vertrautheit und Gemeinsamkeiten assoziiert wird. Es kann dabei die unterschiedlichsten Nuancen in der Bedeutung und somit auch in der Übersetzung annehmen. Normalerweise wird es als Kamerad, Gleichgesinnter, Freund oder Mitglied gelesen. Doch Busson hat sich hier für die biologische Definition „einer Spezies angehörend“ entschieden. Dies ist zum einen ein erweiterter Wirkungsbereich, der auf die Hauptfiguren und ihre Situation zutrifft. Sie sind wie zwei gleich geartete Wesen, die ihren Peinigern hilflos ausgeliefert sind. Auch wenn sich so etwas wie Freundschaft und tiefe Verbundenheit entwickeln kann, hat diese Form der Übersetzung von „nakama“ zum anderen eine breitere Bedeutung als die rein wörtliche „Kameradschaft“.
Diese wichtige Phrase, der Refrain des Textes, wenn man so will, verändert sich im Laufe der Geschichte. Durch die Ereignisse des gemeinsamen Jahres werden Entwicklungen im Erzähler und Kojima ausgelöst: „Aber. Seit dem Vorfall in der Turnhalle konnte ich ihr nicht mehr in die Augen sehen. Je mehr sie mich tröstete, je unbeirrter sie den Schikanen trotzte, desto weniger war ich in der Lage, ihr ins Gesicht zu sehen. Warum, wusste ich selber nicht. Wenn ich daran dachte, wie gut mir ihre frühere Unbeholfenheit getan hatte, ihr verschämtes Lachen, gab es mir einen Stich. Aber Kojima veränderte sich, und je mehr ich von dieser Veränderung wahrnahm, desto mehr verkrampfte ich. Irgendwann hatte diese Veränderung den, wenn auch kleinen hellen Fleck, den Kojima geschaffen hatte, überschattet und mich vertrieben.“
So zeigt sich auch sprachlich in der Übersetzung eine individuelle Weiterentwicklung und Distanzierung zwischen den beiden Hauptfiguren. Nach einem Streit sagt Kojima nämlich unter Tränen: „Ich dachte (…) Du und ich, wir sind aus demselben Holz“, anstatt das zuvor mehrfach verwendete „von derselben Sorte“.
「君は」しばらくしてからコジマは小さな声で言った。
「仲間だと思ってた」
「仲間だよ」と僕は言った。
「でも、違ったんだよ」
「違ってないよ」 僕の声に、コジマはゆっくりと首をふりつづけた。
„Ich dachte“, flüsterte Kojima endlich. „Du und ich, wir sind aus demselben Holz.“
„Sind wir doch auch“, sagte ich.
„Aber ich habe mich geirrt.“
„Du hast dich nicht geirrt.“
Kojima schüttelte den Kopf.
Es stellt sich nach diesen Beispielen die Frage (wie bei jedem Text): Was ist hier nun wichtiger? Die sprachliche Genauigkeit, gerade bei Mieko Kawakami, die unverblümt Probleme anspricht und damit einer Tabuisierung mit ihrem Schreibstil entgegenwirkt, oder die Wirkungsweise und Integration von Umschreibungen und Phrasen für eine moderne Leseerfahrung?
Aufgefallen ist außerdem, dass in den Erzählungen immer wieder japanspezifische Begriffe so übersetzt wurden, dass sie dem westlichen Leser nicht erst erklärt werden müssen. Zum Beispiel die Golden Week im Mai in Japan oder das Obon-Fest im August. Diese Ereignisse werden so in die Story eingebaut, dass sie ohne eine Transkription der Begriffe aus dem Japanischen auskommen, nämlich als „freie Woche“ oder dem auch im Westen bekannten (wenn auch im November gefeierten) Feiertag „Allerseelen“. So könnte man annehmen, dass die tragische Geschichte der beiden Teenager überall auf der Welt spielen könnte. Diese Entscheidung für eine globalere Sprache ist oft eine wichtige Frage, zum einen, um Japan nicht weiter zu orientalisieren, und zum anderen, wenn es „vernachlässigbare“ Elemente sind wie hier spezielle Feiertage, tut es dem Text und dem Leser und somit der Vermarktbarkeit des Buches gut, solche Begriffe nicht einfach aus der Ausgangssprache zu übernehmen. Schlussendlich ist so etwas oft eine Entscheidung des Lektorats. Wobei man hier am Beispiel der Feiertage auch argumentieren kann, dass sich die Eigenheiten und der Charakter des Textes inhaltlich verdünnen und ziemlich ähnlich klingende Massenliteratur veröffentlicht wird. Im oben genannten Beispiel geht es um die berühmte Golden Week in Japan. Es folgen mehrere Feiertage im Mai aufeinander und fast das ganze Land kann zu diesem Zeitpunkt eine ganze Woche am Stück, ohne Schuldgefühle dem Arbeitgeber oder Kollegen gegenüber, freinehmen. Dabei fällt auf, dass der Vater des Protagonisten zu dieser Zeit auch – mal wieder – nicht zu Hause ist, ein weiterer Hinweis auf die prekäre Lage der Familie, bestehend aus Vater, Sohn und Stiefmutter. Es liegt also nicht nur an der harten Arbeit, dass der Vater sich nie blicken lässt, sondern vielleicht steht eine Affäre oder ähnliches im Raum. Diese Anspielung geht etwas verloren, wenn man nicht weiß, welche Bedeutung die Golden Week in Japan hat.
Das titelgebende Wort „Heaven“ ist der Name des Lieblingsbildes Kojimas, welches sie dem Protagonisten während eines Ausflugs zeigen will. Doch ihr Abenteuer nimmt ein jähes Ende, ohne dass er oder wir das Bild gezeigt bekommen. An der wichtigen Bedeutung des Gemäldes für die Erzählung ändert dies jedoch nichts.
Für das Buch Heaven spreche ich eine deutliche Leseempfehlung aus. Kawakami bespricht prekäre Themen und die kleine große Welt von Mobbingopfern, die bis heute leider trauriger Schulalltag ist. Die durchdachte Übersetzung Bussons trägt dazu bei, dieses Frühwerk Mieko Kawakamis zeitlos zu konservieren und für westliche Leser fast vollumfänglich zugänglich zu machen. Dieses Buch trägt den Schmerz der Welt der Hauptfiguren in sich und sollte in einer guten emotionalen Verfassung gelesen werden, denn es ist sehr harte Kost. Stellt sich nur noch eine Frage: War man in der eigenen Schulzeit ein Mobber oder das Mobbingopfer?