Mein ers­tes Mal: Annet­te Kopetzki

Wie bringt man italienischen Stil elegant ins Deutsche? Die erste Bewährungsprobe für die renommierte Übersetzerin Annette Kopetzki war ein philosophischer Traktat - keine einfache Übung. Von

Die Übersetzerin Annette Kopetzki mit ihrem Erstling. Foto: privat

In der Rei­he „Mein ers­tes Mal“ berich­ten Übersetzer:innen von ihrer ers­ten lite­ra­ri­schen Über­set­zung. Sie plau­dern aus dem Näh­käst­chen, berich­ten von den Lei­den des jun­gen Übersetzer:innenlebens und ver­ra­ten, in wel­che Fal­le man als Anfänger:in bloß nicht tap­pen soll­te. Alle Bei­trä­ge der Rei­he sind hier nachzulesen.

Dass ich Über­set­ze­rin wur­de, war nicht vor­ge­se­hen. Ich habe Phi­lo­so­phie und Ger­ma­nis­tik auf Lehr­amt stu­diert und 1980 auch das Ers­te Staats­examen gemacht, aber der Pro­fes­sor, bei dem ich danach eine Assis­ten­ten­stel­le hat­te, dräng­te mich dazu, eine Dis­ser­ta­ti­on zu schrei­ben und im Grun­de gleich die Habi­li­ta­ti­on hin­ter­her. Wenn ich das gemacht hät­te, wäre ich heu­te wahr­schein­lich an der Uni in Ham­burg Pro­fes­so­rin. Das war mir viel zu stark vor­ge­zeich­net, ich dach­te nur: „Oh Gott, schnell weg hier!“

Also ging ich nach Ita­li­en, denn wäh­rend einer Klas­sen­rei­se nach Rom im letz­ten Schul­jahr hat­te ich mir geschwo­ren, hier noch ein­mal hin­zu­fah­ren. In Rom hat­te ich von Anfang an sehr viel Glück. Mein Vater war in einem katho­li­schen Aka­de­mi­ker­bund, und in des­sen Mit­glie­der­ver­zeich­nis fand ich einen Herrn Kusch in Rom. Herr Kusch, mit dem mein Vater sogleich Kon­takt auf­nahm, war Prä­si­dent der Stam­pa Este­ra, also der aus­län­di­schen Pres­se, und hat­te zufäl­lig eine Woh­nung frei, weil sei­ne Mut­ter gera­de ins Heim gekom­men war. Die­se Woh­nung in einem fan­tas­ti­schen Stadt­teil von Rom, auf einem der Hügel, dem Mon­te Mario, stell­te er mir miet­frei zur Verfügung.

Und nicht nur das: Ich wur­de auch gleich in die deut­schen Krei­se in Rom – eine deut­sche Frau­en­grup­pe, das Goe­the-Insti­tut, die Vil­la Mas­si­mo und die kunst­his­to­ri­sche Biblio­thek Hertzia­na – ein­ge­führt. Von die­sen Insti­tu­tio­nen habe ich dann ziem­lich schnell auch klei­ne Über­set­zungs­auf­trä­ge bekom­men. Viel­leicht erschien ich durch mein Ger­ma­nis­tik­stu­di­um fürs Über­set­zen qua­li­fi­ziert. Man frag­te mich, ob ich z.B. Tex­te für Pro­gramm­hef­te und Ein­la­dun­gen über­set­zen kön­ne, und ich wag­te den Ver­such. Im Grun­de waren das mei­ne „ers­ten Male“, aber natür­lich noch kei­ne lite­ra­ri­schen Übersetzungen.

Dabei konn­te ich zu dem Zeit­punkt noch kaum Ita­lie­nisch. Ich hat­te zu Hau­se in Ham­burg einen Kurs an der Uni gemacht und mir bes­se­re Kennt­nis­se durchs Spre­chen bzw. als Deutsch­leh­re­rin in Rom bei­gebracht. Natür­lich habe ich auch durch das Über­set­zen viel gelernt. 

Und so kam wohl auch Emi­lio Gar­ro­ni, Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor an der römi­schen Uni­ver­si­tät „La Sapi­en­za“, 1989 auf mich. Ich weiß nicht, wer mich ihm emp­foh­len hat, aber wahr­schein­lich hat er in all die­sen deut­schen Insti­tu­tio­nen her­um­ge­fragt. Jeden­falls mel­de­te er sich eines Tags bei mir und sag­te, er wür­de ger­ne sein Buch Sen­so e Para­do­s­so ins Deut­sche über­set­zen las­sen. Ob ich mir das zutrau­te? Er lud mich – er war damals schon betagt, aber noch nicht eme­ri­tiert, und er war ein außer­or­dent­lich freund­li­cher Mensch – in sei­ne Woh­nung in einem wun­der­schö­nen Vier­tel ein. Das hat mich wirk­lich beein­druckt. Ich habe nie wie­der so vie­le Kunst­wer­ke in einer Woh­nung gese­hen. In sei­nem Buch geht es um Ästhe­tik, und offen­bar war er auch pri­vat ein Kunstliebhaber.

Sen­so e Para­do­s­so ist ein sehr wich­ti­ges Buch für ihn gewe­sen, sein Opus Magnum, könn­te man sagen. Was er damit woll­te, ver­ste­he ich heu­te nicht mehr so genau.  Er ver­such­te, den Sinn der ästhe­ti­schen Erfah­rung tran­szen­den­tal zu begrün­den – also nach Kant die Bedin­gung der Mög­lich­keit für ästhe­ti­sche Erfah­rung her­aus­zu­ar­bei­ten. Aber wie er genau argu­men­tiert hat, weiß ich heu­te nicht mehr. 

Als ich den Auf­trag ange­nom­men hat­te, kam er mit einem der aller­ers­ten Apple- Com­pu­ter in mei­ne Woh­nung, stell­te ihn auf den Tisch und sag­te: „So, damit schreibst du.“ Für mich war bis dato eine elek­tri­sche Schreib­ma­schi­ne das höchs­te der Gefüh­le gewe­sen, aber er hat mich dann in die Arbeit mit einem Com­pu­ter ein­ge­führt. Damals war das aller­dings noch ein Aben­teu­er. Das gesam­te Betriebs­sys­tem befand sich auf einer Flop­py Disk. Weil der Spei­cher­platz des Com­pu­ters dafür nicht aus­reich­te, muss­te man es vor­her laden. Und man durf­te die­se Flop­py Disk nicht her­aus­zie­hen, ohne das Geschrie­be­ne vor­her zu spei­chern, sonst war alle Arbeit ver­lo­ren. Manch­mal hat mein Sohn, damals fünf Jah­re alt, an die­sem Com­pu­ter, des­sen Bild­schirm grü­ne Zei­chen auf schwar­zem Grund zeig­te, U‑Boot-Kapi­tän gespielt.

Aber das waren nur die tech­ni­schen Hard­ware-Her­aus­for­de­run­gen. Man muss sich vor­stel­len, das war Ende der 80er Jah­re, es gab kei­ne Recher­che­mög­lich­kei­ten im Inter­net. Und ich besaß noch kein gro­ßes ita­lie­nisch-deut­sches Wör­ter­buch, muss­te also mit Lis­ten der Wör­ter, die ich nicht kann­te, ins Goe­the-Insti­tut oder in die Natio­nal­bi­blio­thek gehen und dort recher­chie­ren. Gar­ro­ni zitiert in sei­nem Buch vie­le deut­sche und auch ame­ri­ka­ni­sche Phi­lo­so­phen. Da muss­te ich zum Teil in Ham­burg bei ehe­ma­li­gen Kom­mi­li­to­nen nach­fra­gen und um die Ori­gi­nal­zi­ta­te bit­ten. Das alles per Tele­fon oder Brief. Die schnells­te Ver­bin­dung wäre ein Fax­ge­rät gewe­sen, aber das hat­te ich nicht. Tech­nisch und orga­ni­sa­to­risch war das Gan­ze also ein ziem­li­cher Aufwand.

Aber für die Zeit der Über­set­zungs­ar­beit war das eben auch mein Job und kein Hob­by. Der Autor hat mich aus eige­ner Tasche bezahlt. Es waren unge­fähr eine Mil­li­on Lire im Monat, also ca. 1.000 Mark, aber davon konn­te man damals ganz gut leben. Von Norm­sei­ten und Recher­che­zu­schlä­gen hat­te ich natür­lich noch nichts gehört.

Das Schrei­ben selbst hat mir viel Spaß gemacht. Ich emp­fand es als sehr krea­tiv. Ich kann mich nicht ent­sin­nen, dass ich irgend­wann mal ver­zwei­felt wäre. Ich kam ja damals direkt aus dem Phi­lo­so­phie­stu­di­um, hat­te den gan­zen begriff­li­chen Appa­rat noch parat. Vor allem auch Kants Kri­tik der Urteils­kraft und Hegels Ästhe­tik um die es in dem Buch geht. Über­haupt hat­te mein Phi­lo­so­phie­stu­di­um unter dem Vor­zei­chen der Ästhe­tik gestan­den. Des­we­gen war das schon auf mich zugeschnitten.

Was mich aller­dings befrem­det hat, war Gar­ro­n­is Stil. Ich habe mich über sei­nen Plau­der­ton gewun­dert, wenn er bei­spiels­wei­se schreibt:

Ci sia­mo subi­to imbat­tu­ti in una dif­fi­col­tà curio­sa. E, cer­to, non varr­eb­be la pena di per­der­ci trop­po tem­po die­tro, se essa fos­se sol­tan­to una dif­fi­col­tà ter­mi­no­lo­gi­ca-defi­ni­to­ria o psi­co­lo­gi­ca, atti­nen­te al modo di esser­si for­ma­ta di una cor­po­ra­zio­ne cul­tu­ra­le,  e in quan­to ques­ta dov­reb­be dar con­to del pro­prio sta­tu­to a chi non vi appar­tiene. Ma la dif­fi­col­tà è meno ester­na di quan­to non sia appar­so di rego­la fino­ra. ‚Di rego­la‘, ma non sen­za ecce­zio­ni e sug­ge­ri­men­ti più inter­ni: e anzi più vol­te ho ten­ta­to di far vede­re, come in tras­pa­ren­za, l’emergere di un non bana­le para­do­s­so dell’estetica.

Wir sind sofort auf eine selt­sa­me Schwie­rig­keit gesto­ßen. Und es wür­de sich sicher nicht loh­nen, all­zu viel Zeit damit zu ver­lie­ren, wenn es sich nur um eine ter­mi­no­lo­gisch-defi­ni­to­ri­sche oder psy­cho­lo­gi­sche Schwie­rig­keit han­deln wür­de, die zusam­men­hängt mit der Ent­ste­hungs­wei­se einer kul­tu­rel­len Kör­per­schaft und deren Pro­blem, Nicht-Mit­glie­dern über die eige­nen Sta­tu­ten Rechen­schaft abzu­le­gen. Die Schwie­rig­kei­ten sind jedoch weni­ger äußer­lich als sie in der Regel bis­her erschie­nen. ‚In der Regel‘, aber nicht ohne Aus­nah­men und Anre­gun­gen durch die Sache selbst. Ich habe sogar mehr­mals zu zei­gen ver­sucht, wie durch das Gesag­te hin­durch ein nicht bana­les Para­dox der Ästhe­tik hindurchscheint.

Damals dach­te ich, die­ses rhe­to­ri­sche Brim­bo­ri­um sei viel­leicht der Stil der ita­lie­ni­schen Phi­lo­so­phie. Inzwi­schen weiß ich: Das ist der ita­lie­ni­sche Stil über­haupt. Ich bin oft genug in Dis­kus­sio­nen gera­ten, in denen ich zu den ande­ren gesagt habe: „Sagt doch mal wirk­lich etwas, wozu ihr steht! Nicht nur immer die­ser rie­si­ge Flos­kel­ap­pa­rat!“ Die Reak­ti­on war dann oft: „Non fare la Teu­to­ni­ca!“ Aha, als Teu­to­nin nahm man mich wahr. Na gut, dann war ich eben teu­to­nisch. Man lernt auf jeden Fall das Eige­ne bes­ser ken­nen, wenn man län­ger dem Frem­den aus­ge­setzt ist.

Als Über­set­ze­rin wür­de ich heu­te anders mit dem Text umge­hen. Damals dach­te ich, es sei mei­ne Auf­ga­be, die­sen Stil zu bewah­ren. Es wäre mir auch über­haupt nicht in den Sinn gekom­men, dar­an etwas zu ändern.

Ich kann­te auch die idio­ma­ti­schen Wen­dun­gen im Ita­lie­ni­schen nicht genau genug. Wenn er zum Bei­spiel schreibt: „Ammes­so e non neces­sa­ria­men­te con­ces­so che la poe­sia sia una sor­ta di mis­te­ro lin­gu­i­sti­co“ – ganz wört­lich über­setzt: „Ange­nom­men, aber nicht zuge­ge­ben …“ -, dann ist das eine Flos­kel, die nichts ande­res besagt als ein­fach: „ange­nom­men“. Statt­des­sen schrieb ich: „Neh­men wir ein­mal an, ohne es damit unbe­dingt zuzu­ge­ben …“ Das ist noch schlim­mer als im Ori­gi­nal! Da bin selbst in Gar­ro­n­is Plau­der­ton hin­ein­ge­rutscht. Der Satz müss­te ein­fach lau­ten: „Neh­men wir ein­mal an, die Dich­tung sei eine Art sprach­li­ches Geheim­nis.“ So wür­de ich das heu­te übersetzen.

Das Buch ist 1991 in mei­ner Über­set­zung – übri­gens kom­plett unlek­to­riert – im Ver­lag Peter Lang erschie­nen. Das war also mein „ers­tes Mal“ – in vie­ler­lei Hin­sicht ein beson­de­res Debüt für eine Über­set­ze­rin. Einen Durch­bruch in Deutsch­land hat Gar­ro­ni damit nicht erzielt. Ein paar Kol­le­gen, deut­sche Phi­lo­so­phen, kann­ten ihn, aber bekannt ist er bis heu­te nur in Italien.

Für mich war das der Ein­stieg in einen Beruf, der damals noch immer nicht der mei­ne war. Ich habe das als Gele­gen­heits­ar­beit betrach­tet, der ich neben­bei nach­ge­hen konn­te, auch nach mei­ner Rück­kehr nach Deutsch­land. Zurück in Ham­burg bin ich in ein Gra­du­ier­ten­kol­leg ein­ge­tre­ten, um doch noch mei­ne Pro­mo­ti­on zu schrei­ben. Pas­sen­der­wei­se trug die­ses Gra­du­ier­ten­kol­leg den Titel „Ästhe­ti­sche Erfah­rung”. Und mei­ne Pro­mo­ti­on hat­te den Titel „Beim Wort neh­men. Sprach­phi­lo­so­phi­sche und ästhe­ti­sche Pro­ble­me der lite­ra­ri­schen Über­set­zung“. Da hat­te ich also schon Feu­er gefangen.

Aber mei­ne beruf­li­che Zukunft sah ich immer noch in der aka­de­mi­schen Welt. Wäre eine mei­ner zahl­rei­chen Bewer­bun­gen auf Habi­li­ta­ti­ons­stel­len erfolg­reich gewe­sen, dann wäre ich wohl nie in den VdÜ ein­ge­tre­ten und nie haupt­be­ruf­li­che Über­set­ze­rin gewor­den. Aber 1998 erhielt ich den Über­set­zungs­preis der Ham­bur­ger Kul­tur­be­hör­de, und da dach­te ich mir, so schlecht kön­ne ich als Über­set­ze­rin wohl nicht sein. Zwi­schen mei­nem „ers­ten Mal“ und dem Ein­stieg in das Über­set­zen als Haupt­be­ruf lagen also zehn Jah­re, aller­dings auch schon eine Rei­he Übersetzungen.

2024 ist Ita­li­en wie­der Gast­land der Frank­fur­ter Buch­mes­se – zum ers­ten Mal seit 1988, als ich mei­ne ers­ten Über­set­zungs­auf­trä­ge bekam. Jetzt habe ich alle Hän­de voll zu tun. Aber bald ist es auch mal gut. Ich über­set­ze seit über drei­ßig Jah­ren, inzwi­schen um die 100 Bücher, und bekom­me 466 Euro Ren­te im Monat. Die Arbeit der Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer wird nicht ange­mes­sen bezahlt – das kann man gar nicht oft genug betonen.

Zum Abschluss viel­leicht ein Tipp für alle, die mit Sach­buch­über­set­zun­gen in den Beruf ein­stei­gen wol­len: Löst euch unbe­dingt vom Ori­gi­nal! Auch vom Satz­bau. Bei Sach­bü­chern geht es dar­um, die Idee, den Gedan­ken, der im Satz steckt, zu erfas­sen und in ein gutes, les­ba­res Deutsch zu brin­gen. Wenn man einen Satz nicht gelöst kriegt, wenn da unüber­wind­li­che Über­set­zungs­pro­ble­me auf­tau­chen, dann steckt meis­tens ein Denk­feh­ler im Satz des Ori­gi­nals. Da ist dann Inter­pre­ta­ti­on gefragt.


Annet­te Kopetzki


Annet­te Kopetz­ki leb­te nach ihrem Stu­di­um in Ham­burg 12 Jah­re in Rom, wo sie als Lek­to­rin an der Uni­ver­si­tät und als Dozen­tin an einer Dol­met­scher­schu­le Deutsch unter­rich­te­te, für Zei­tun­gen in Deutsch­land schrieb und ihre ers­ten Über­set­zun­gen anfer­tig­te. Zurück in Ham­burg war sie Lehr­be­auf­trag­te an der Uni­ver­si­tät. Neben Über­set­zun­gen ita­lie­ni­scher Lite­ra­tur und Lyrik wid­met sie sich in Arti­keln und Work­shops der Über­set­zungs­theo­rie. Für die Welt­le­se­büh­ne und den VdÜ orga­ni­siert sie Ver­an­stal­tun­gen zur Über­set­zung. 2019 erhielt sie den Paul-Celan-Preis für Literaturübersetzung.

Sinn und Paradox

Im ita­lie­ni­schen Ori­gi­nal: Sen­so e Para­do­s­so

Peter Lang 1991 ⋅ 336 Sei­ten ⋅ anti­qua­risch erhältlich


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