Herzlichen Glückwunsch zu dem Preis der Leipziger Buchmesse! Wie hat es sich für Sie angefühlt, den Preis in der Kategorie Sachbuch zu erhalten?
Allein die Nominierung war schon eine große Überraschung und eine große Ehre. Die Kategorie Sachbuch ist zwar schon auf Essayistik ausgeweitet worden – aber dass ein Buch über Gedichte, Übersetzung und Mehrsprachigkeit nominiert und dann auch noch ausgezeichnet wird, hat mich wahnsinnig überrascht und bestärkt zugleich. Ich habe die Juryentscheidung auch als eine Art Gesamtkomposition wahrgenommen, wie es auch bei TraLaLit beschrieben wurde.
Welche Gefühle und Gedanken hatten Sie bei der Bekanntgabe, dass die Leipziger Buchmesse erneut abgesagt wird?
Mich hat die Absage sehr enttäuscht, auch weil gleichzeitig große Veranstaltungen mit sehr vielen Menschen stattfanden. Es ist so unglaublich wichtig, die Bücher an die Menschen zu bringen, die Autor:innen, die Leser:innen und die Verleger:innen zu verbinden. Ich war wirklich froh, dass sich so viele Verleger:innen zusammengetan haben, um diese Pop-up-Messe stattfinden zu lassen, die ich auch am Freitag besucht habe. Das war eine sehr schöne kleine Messe. Man hat gesehen, wie notwendig es war, dass Menschen sich endlich wieder treffen und miteinander über Bücher ins Gespräch kommen.
Sie haben mit Ihrem Band „Etymologischer Gossip“ den Preis in der Kategorie Sachbuch gewonnen. Wie sind Sie bei der Auswahl der Essays und Reden für das Buch vorgegangen?
Während der Zusammenstellung, des Komponierens der Essays der letzten 14 Jahre, ist mir erst so richtig klar geworden, welche Themen sich durchziehen und wie ich sie von meinem jetzigen Standpunkt aus bewerte. Der Titel „Etymologischer Gossip“ stammt aus dem allerspätesten Essay. Ich habe gemerkt, dass ich damit einen spielerischen Begriff gefunden habe, der meine Sprachsuche und meine Überlegungen zum lyrischen Übersetzen ganz gut bündelt. Es war auch klar, dass ich den allerersten Text, den ich je zum Übersetzen geschrieben habe, übernehmen würde: Landschaft, Luftburg, Gedicht. Das war eine Initialzündung, sowohl was das Nachdenken über Übersetzen angeht, als auch das Essayschreiben. Es war mir auch ganz wichtig, in diesem Band zu zeigen, wie sehr ich auch immer mit der Form gerungen habe. Ich habe nicht aus einer Sicherheit heraus geschrieben, sondern stand jedes Mal wieder vor der Frage: Was ist das? Und wie bringe ich meine verschiedenen Sprachen als Literaturwissenschaftlerin, als Übersetzerin, als Lyrikerin und als Leserin zusammen in so ein Gebilde?
In Ihrem Text Landschaft, Luftburg, Gedicht beschreiben Sie ein ganz überzeugendes Bild für die Übersetzung von Gedichten: das Gleichnis vom Herumspringen in einer Hüpfburg. So wird es für die Leserschaft ganz plastisch und fast körperlich erfahrbar. Außerdem verwenden Sie den sogenannten Emlen-Trichter, eine Vorrichtung zur Messung der Zugunruhe bei Vögeln, um Übersetzungsprozesse zu beschreiben. Wie stoßen Sie auf diese Gleichnisse?
Wenn ich versuche über Lyrik oder übers Übersetzen zu schreiben, bin ich in dem Dilemma, dass ich eine plastische, konkrete Sprache finden möchte. Der abstrakte, theoretische Diskurs befriedigt mich nicht. Ich lese dann sehr wild und unsystematisch herum, lasse auch Zufallsfunde einfließen, weil ich denke, dass das Denken Umwege braucht, um wieder bei sich anzukommen. Das ist nicht nur eine poetologische Position, sondern auch eine praktische, weil ich das Denken so gegenständlich wie möglich darstellen möchte.
Yoko Tawada, liest man bei Ihnen, sagt: „…, wenn man nicht in der Muttersprache oder in einer poetischen Sprache arbeitet, dann ist es, als ob man einen Heftklammerentferner hat, bei dem die Dinge auseinandergenommen werden und man so wieder Raum bekommt, um wieder neu zu sehen.“
Yoko Tawadas wahnsinnig gegenständliche Art über Sprachdenken zu schreiben ist unglaublich erkenntnisfördernd und witzig zugleich. Wie sie in dem Text die Muttersprache umdreht und die Schreibmaschine zur Sprachmutter werden lässt, sagt in dem Bild so viel aus, genau wie der Heftklammerentferner.
Wie bekommen Sie „diesen Raum“, von dem Tawada spricht? Wie erzeugen Sie diese Fremdheit? Gibt es dafür Techniken, Aktivitäten, hilfreiche Stimmungen oder Umgebungen?
Mir selbst ist der durch verschiedene Umstände gegeben, nehme ich an. Aber eine Aufgeschlossenheit gegenüber dem Zufall und eine positive Einstellung gegenüber der Unsicherheit halte ich für wichtig. Dabei wird die Unsicherheit zum Erkenntnismotor. Man sollte Blinzeln, um verschwommen zu sehen. Abwechseln zwischen bewusst dezentriert sehen und dann wieder ganz genau hinschauen. Pendeln zwischen Spiel und Strenge.
Übersetzen sei die „intensivste Form des Lesens“ haben Sie mal gesagt, vielleicht auch des Lebens?
Ja, das würde ich absolut unterschreiben. Man kann es auch umdrehen: Leben ist eine intensive Form des Übersetzens. Wir übersetzen uns ständig miteinander, in der eigenen Sprache, in jeder Situation. Das sagt auch Schleiermacher am Anfang seines berühmten Vortrags über die Methoden des Übersetzens: Wir übersetzen uns alle die ganze Zeit. Damit meint er nicht nur Dialekte, sondern die eigene Sprache. In allen Situationen steckt eine Mittelbarkeit, alles ist durch Sprache und Strukturen vermittelt und verändert sich ständig.
Sie sprechen beim Übersetzen wiederholt von dem „Fehler als poetischem Zünder“, plädieren für die Akzeptanz des Unperfekten. Kann man das auf das tägliche Leben, außerhalb der Arbeitsprozesse, übertragen? Kann man annehmen, dass Sie auch in anderen Lebensbereichen eher gelassen sind?
Diese Gelassenheit ist schwer errungen und dem „struggle“ mit dem Fehler geschuldet. Und eigentlich gibt es zwei Möglichkeiten, das zu beantworten. Einerseits schreibe bzw. führe ich tatsächlich immer wieder jeden Text, jedes Gedicht, jedes Interview, jedes Gespräch aus einer großen Unsicherheit heraus. Das hat zum Teil vielleicht mit dem sogenannten Impostor-Syndrom zu tun. Und die zweite Antwort ist, dass ich eigentlich von Natur aus ein etwas tollpatschiger Mensch bin. Das heißt, mein Körper hat eine Beziehung zum Raum, die oft „fehlerhaft“ ist. Seitdem ich Mutter bin, habe ich das öfter analysiert. Wer mich länger kennt, bemerkt, dass ich Gläser umwerfe, mit der Schulter gegen den Türrahmen stoße. Ich habe also eine grundexistenzielle Erfahrung von „mis-take“, I am always missing something, den richtigen Winkel oder die richtige Entfernung, die richtige Geschwindigkeit. Das ist so eine Grunderfahrung im Körper, weswegen für mich das Übersetzen und das Schreiben und auch poetische Fehler sehr körperliche Erfahrungen sind, nicht nur eine intellektuelle Position, sondern eine Art in der Welt zu sein. Dem versuche ich auch poetisch auf die Spur zu kommen.
Den „Fehler als poetischen Zünder“ haben wir bis jetzt sowohl für den Prozess des Übersetzens, als auch für den Prozess des Schreibens verwendet. Welche Beziehung haben diese beiden literarischen Identitäten bei der Betrachtung Ihrer Entwicklung als Lyrikerin und als Übersetzerin?
Die spielerische Beschäftigung mit der Sprache durch Fremdsprechen sozusagen, Fremdsprachen sprechen. Das hat mich zu Beginn vielleicht zum Schreiben gebracht. In meiner Herkunftsfamilie waren Sprachen sehr präsent. Für mich war diese Reibung der eigenen Sprache an einer anderen sehr früh ein Selbstverständnis. Erst später wurde das zum nicht Selbstverständlichen. Die Übersetzerin kam tatsächlich erst später dazu.
Wie kam das?
Diesen Zeitpunkt kann ich sehr genau markieren: das war eine deutsch-polnische Übersetzerwerkstatt in Berlin. Die meisten Autor:innen, die da waren, kannten die Sprache der jeweilig anderen nicht. Es gab Sprachmittler, die dann in den Gesprächen übersetzt haben und die Interlinearübersetzung angefertigt haben. Hier begann mein Eintritt ins Übersetzen. Das ist deshalb so wichtig, weil ich es als einen sozialen, gemeinschaftlichen Raum des Aushandelns wahrgenommen habe. Ich habe dann auch viele Übersetzungen gar nicht allein gemacht, sondern mit anderen Kollegen zusammen, wie Karla Reimert und Alexander Gumz. Da begann mein Interesse fürs Übersetzen und seitdem habe ich immer weiter übersetzt. Diese Dinge, die da zusammenkommen: kollektives Arbeiten, ein sozialer Raum, ein Gesprächsraum, Übersetzen als mehrsprachige Aktivität, die auch über Bande laufen kann und das Wahrnehmen der eigenen Sprache im Spiegel der anderen. Das alles hat mich sehr geprägt, so dass dann eigentlich das Übersetzen und das Schreiben Hand in Hand gingen.
Sie sind in Ost-Berlin geboren worden. Welche Rolle spielt der Mauerfall 1989 in Ihrer Biographie und gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser Erfahrung und Ihrem Schreiben und Übersetzen?
Die Wiedervereinigung war zwar ein deutscher Prozess in vermeintlicher Einsprachigkeit, aber tatsächlich ist ja in der Sprache ganz viel ausgehandelt worden. Die Sprache ist nicht mehr die gleiche gewesen. Es hat durchaus auch ein Sprachverlust stattgefunden und vielen Menschen ist sowohl in der Lebensrealität als auch der sprachlichen Realität der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Das wird in meinem Schreiben und in meinem Übersetzen auch grundlegend eine Rolle spielen.
Sie haben an einer Stelle gesagt, dass das Übersetzen politisch ist. Was genau meinen Sie damit?
Übersetzen ist ein sprachpolitischer, ein gesellschaftlicher Akt. Ich stelle eine Kontaktzone her zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen und Geschichten. Beim Herstellen dieses Kontaktes, bei jeder konkreten Übersetzungsentscheidung, bei jedem Wort gilt es ja zu beachten, was in dieser Zone passiert. Ich als Übersetzerin beeinflusse auch, was in dieser Kontaktzone passiert, indem ich mich entscheide, ob ich etwas erkläre, ob ich etwas zum Schweigen bringe, ob ich etwas austausche, verfremde oder zuspitze. Ich reflektiere jeweils die Machtkonstellation zwischen den Sprachen und das ist ein politisches Aushandeln.
Das Übersetzen als manipulativer Akt. Glauben Sie, es gibt ihn auch auf der poetischen Ebene, beim Übersetzen von Lyrik?
Ja, natürlich. Die Bewegungen des Domestizierens oder des Verfremdens können auch im Gedicht stattfinden. Ich kann ein Gedicht so übersetzen, dass ich es einglätte, rhetorische Kanten abschleife und damit in gewisser Weise ja auch die sprachliche Ebene manipuliere. Da im Gedicht die sprachliche Ebene immer auch die inhaltliche ist, manipuliere ich eben auch automatisch den Inhalt. Das klingt jetzt so furchtbar, natürlich würde man das nicht machen wollen, auf gar keinen Fall, aber wenn ich versuche ein schönes sprachliches Gebilde zu übersetzen, dann ist dieser Impuls durchaus da. Das, was man da also manipulativ nennen könnte ist, ist eigentlich etwas, das uns ständig begleitet, gerade beim Übersetzen von Gedichten.
Wenn Sie dem Eindruck zustimmen, dass Ihr Essayband als ein Plädoyer für eine polyglotte Lebensweise gelesen werden kann, welche Gedanken haben Sie bei der aktuellen weltpolitischen Entwicklung?
Krieg ist einfach schrecklich, die absolute Hölle. In dem Gefühl der Ohnmacht stellt man sich die Frage: was tue ich mit meinen Essays, mit meinen Gedichten, mit meinem Sprachwirken? Ich finde es wichtig, dass wir nicht in einen sprachlichen Essentialismus zurückfallen, der gerade in solchen Konflikt- und Kriegssituationen eine scheinbare Sicherheit gibt. Wir dürfen nicht sortieren, welche Sprache gut und welche schlecht ist, welche Autor:innen gut und welche schlecht sind. Ich finde es enorm wichtig, dass man nicht in einen Fundamentalismus abrutscht. Vielleicht müssen wir in Westeuropa auch aufmerksamer werden, was die sprachliche Vielfalt im osteuropäischen Raum angeht. Dort gibt es eine Tradition des sprachlichen Pluralismus, der Sprachwechsel, der Mehrsprachigkeit, der Mischsprachen, die uns zu selten bewusst ist.