Es gibt etwa 7000 Sprachen auf der Welt, doch nur ein winziger Bruchteil davon wird ins Deutsche übersetzt. Wir interviewen Menschen, die Meisterwerke aus unterrepräsentierten und ungewöhnlichen Sprachen übersetzen und uns so Zugang zu wenig erkundeten Welten verschaffen. Alle Beiträge der Rubrik findet ihr hier.
Wie haben Sie Isländisch gelernt?
Ich war nach dem Abitur 1987 mit einer Austauschorganisation ein Jahr in Island und habe dort Land und Leute kennengelernt. Bei meiner Arbeit auf einem Bauernhof mit Milchkühen, Schafen und Pferden, in einer Fischfabrik, einem Heim für Menschen mit Behinderung und einer Druckerei habe ich die Sprache nebenbei aufgeschnappt. Ich konnte mich einigermaßen verständigen, war aber weit von korrekter Grammatik und Aussprache entfernt. Nach diesem Jahr war für mich als Großstadtkind klar: Ich will mehr von dieser grandiosen Landschaft, aber auch mehr über die Sprache und Kultur erfahren. Deshalb habe ich begonnen, in Köln Skandinavistik zu studieren, und noch einmal intensiv zwei Jahre an der Uni in Reykjavík Isländisch gelernt. Der Studiengang hieß damals noch Íslenska fyrir erlenda stúdenta (Isländisch für ausländische Studenten) und heißt heute Íslenska sem annað mál (Isländisch als Fremdsprache). Meine Abschlussarbeit war eine Übersetzungsanalyse; das Thema Übersetzen hat mich schon immer fasziniert. Erste praktische Übersetzungserfahrungen konnte ich bei einem Lyrik-Symposium mit skandinavischen Dichterinnen an der Uni Köln sammeln, aber dass ich später einmal hauptberuflich isländische Literatur übersetzen würde, kam mir damals ziemlich abwegig vor.
Wie sieht die isländische Literaturszene aus?
Sehr vielfältig! Literatur hat einen großen Stellenwert in Island, was sich schon an der Zahl der Neuerscheinungen ablesen lässt: etwa 1.500 Titel pro Jahr bei einer Einwohnerzahl von 360.000. Eine Besonderheit ist die starke Konzentration auf das Weihnachtsgeschäft, die sogenannte jólabókaflóð (Weihnachtsbücherflut). Mitte November wird eine Broschüre mit allen Neuerscheinungen an die Haushalte verteilt und ist natürlich auch online verfügbar. In der Adventszeit finden überall Lesungen statt, und an Weihnachten gehört das Verschenken von Büchern für viele Isländer immer noch zur Tradition.
Die literarischen Themen sind so vielschichtig und individuell wie das Land und seine Autorinnen und Autoren. Hervorzuheben ist die breite, junge und sehr lebendige Lyrikszene. Viele etablierte Schriftsteller haben mit Lyrik begonnen und kehren immer wieder zu ihr zurück. Durch die isolierte Insellage am Rande der bewohnten Welt einerseits und die globale Vernetzung andererseits haben isländische Autorinnen oftmals einen sehr eigenen, unverstellten Blick auf die Welt. Es herrscht ein reger kreativer Austausch zwischen den Kunstsparten, oft sind Schreibende auch in der bildenden Kunst oder Musik aktiv. Kunst und Kultur werden staatlich gefördert, beispielsweise durch monatliche Künstlergehälter, auf die man sich bewerben kann. Das literarische Leben spielt sich zwar größtenteils in der Hauptstadt Reykjavík ab, wo es ein renommiertes Literaturfestival (Reykjavík International Literary Festival), ein Krimi-Festival (Iceland Noir), eine Buchmesse und einen Studiengang Literarisches Schreiben gibt, aber auch in kleineren Orten finden auf Initiative engagierter Menschen erstaunlich viele Kulturevents statt.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Das ist natürlich Geschmackssache, und es fällt mir schwer, einzelne Titel hervorzuheben. Mein Lieblingswerk von Halldór Laxness, dem bisher einzigen isländischen Literaturnobelpreisträger, ist der Roman Sein eigener Herr (zuletzt übersetzt von Hubert Seelow) über den starrsinnigen Schafbauern Bjartur, der Anfang des 20. Jahrhunderts seine Autarkie so vehement verfolgt, dass er sich und seine Familie ins Verderben stürzt. Laxness ironisiert die Tradition des Bauernromans und hat mit Bjartur einen unvergesslichen Protagonisten erschaffen. Zu den Klassikern zählen auch Laxness‘ Zeitgenossen Gunnar Gunnarsson, der allerdings überwiegend auf Dänisch schrieb (beispielsweise Schwarze Vögel, übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig), und der geniale Exzentriker Þórbergur Þórðarson, von dem leider bisher nur ein einziges Werk auf Deutsch vorliegt (Islands Adel, übersetzt von Kristof Magnusson). Seit Island 2011 Gastland der Frankfurter Buchmesse war, wird relativ viel zeitgenössische Literatur ins Deutsche übersetzt, auch dank der großzügigen Übersetzungsförderung durch das Icelandic Literature Center.
Zu den inzwischen im deutschsprachigen Raum etablierten Autorinnen und Autoren zählen beispielsweise Einar Kárason, Hallgrímur Helgason, Jón Kalman Stefánsson, Steinunn Sigurðardóttir und Sjón. Viel zu entdecken gibt es auch bei Bergsveinn Birgisson, Guðrún Eva Mínervudóttir oder Sigríður Hagalín Björnsdóttir. Dazu kommen ein Vielzahl an Krimi-Autoren und in den letzten Jahren einige spannende Lyrikerinnen wie Linda Vilhjálmsdóttir, Ragnar Helgi Ólafsson und Fríða Ísberg.
Zwei Titel, die 2021 in meiner Übersetzung erschienen sind, möchte ich besonders empfehlen: Miss Island von Auður Ava Ólafsdóttir, das humorvolle, poetische, feministische Porträt einer angehenden Schriftstellerin in Reykjavík Anfang der 1960er Jahre, und Andri Snær Magnasons philosophisch-literarisches Sachbuch über den Klimawandel Wasser und Zeit.
Was ist noch nicht übersetzt?
Bei den Klassikern gäbe es sicher einiges nachzuholen, ebenso wie bei den Werken von Thor Vilhjálmsson, Guðbergur Bergsson und anderen Modernisten. Umso mehr freut es mich, dass der Guggolz Verlag die Gesammelten Erzählungen von Ásta Sigurðardóttir herausgeben wird, eine der wenigen weiblichen literarischen Stimmen im Island der 1950er Jahre, deren Texte großen Einfluss auf den Modernismus hatten.
Was die zeitgenössische Literatur betrifft, ist es meiner Erfahrung nach eher schwierig, Bücher bei deutschen Verlagen unterzubringen, die nicht so recht dem Island-Klischee entsprechen, also – überspitzt ausgedrückt – gänzlich ohne Schneestürme, trinkfeste Seemänner, skurrilen Humor oder übersinnliche Ereignisse auskommen. Ein fulminanter Debütroman wie Svínshöfuð (Schweinekopf, 2019) von Bergþóra Snæbjörnsdóttir hat somit leider (noch) keine Chance bekommen. Darin geht es um drei Außenseiter-Schicksale im heutigen Island: ein Mann mit einer Behinderung, der Schweinekopf genannt wird, eine junge, psychisch kranke Mutter und ein jugendlicher Einwanderer aus China. Mit psychologischer Tiefe, einem starken Empfinden für menschliche Schwächen und großer Empathie schildert die Autorin, wie Glaubenssätze, wiederkehrende Muster und Traumata von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden.
Gähnende Leere herrscht übrigens bei den Übersetzungen von Kinderbüchern, was ich nie richtig verstanden habe, denn isländische Kinderbuchautorinnen können es spielend mit ihren skandinavischen Kolleginnen aufnehmen.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Isländischen? Wie gehen Sie damit um?
Als germanische Sprache ist das Isländische dem Deutschen grammatikalisch ziemlich nah. Allerdings ist das moderne Isländisch noch fast identisch mit dem mittelalterlichen Altwestnordisch, was ihm manchmal einen altertümlichen Klang verleiht. Bei zeitgenössischen Texten, vor allem in der Unterhaltungsliteratur, muss man hier stilistisch schon mal etwas „runterschrauben“. Andererseits liegt gerade darin natürlich auch der Reiz der Sprache, zumal sie über einen sehr großen Wortschatz verfügt. Auf Schwierigkeiten stoße ich besonders beim kulturspezifischen Vokabular, etwa aus den Bereichen Fischfang, Nautik, Schafzucht, Wetterkunde, Geologie, Vulkanismus, Vogelkunde … Hier fehlt es leider an guten Wörterbüchern. Da in Island ein gewisser Sprachpurismus gepflegt wird (für technische Neuerungen und ausländische Produkte werden isländische Namen erfunden), gibt es kaum Lehn- und Fremdwörter, dafür aber sehr kreative Wortneuschöpfungen, die manchmal eine zeitaufwändige Recherche erfordern und in direkter Übersetzung mal poetisch, mal witzig klingen – wer vermutet hinter einem Kriechdrachen (skriðdreki) schon einen Panzer oder hinter einem cleveren Draht (snjallsími) ein Smartphone?
Zudem ist der Einfluss der altisländischen Literatur sehr präsent. Ich begegne ständig Zitaten aus den mittelalterlichen Sagas oder Bezügen zur nordischen Mythologie, die isländischen Lesern unmittelbar einen Resonanzraum für Assoziationen öffnen. Je nach Kontext füge ich hier manchmal einen Halbsatz hinzu. Sprechende Namen von Personen und Orten sind keine Seltenheit. Auch hier wäge ich ab, ob eine Bedeutungsebene verloren geht, wenn der Name unübersetzt bleibt, und versuche, eine Lösung zu finden. Hilfreich bei allen Textfragen ist immer der Kontakt zu den Autorinnen und Autoren, die in der Regel sehr gerne zu einem Austausch bereit sind – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sich ihre potenzielle Leserschaft durch die Übersetzung in eine andere Sprache um ein Vielfaches vergrößert.
Was kann Isländisch, was Deutsch nicht kann?
Isländisch kann sehr poetisch sein. Es kann flüstern und säuseln und wehen und stürmen und prasseln und ächzen und grollen, aber das kann Deutsch in einer guten Übersetzung auch.
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