Bei mir zu Hause gibt es sie auch. Staubfänger können Stellen in der Wohnung sein, an denen sich schnell Staub ansammelt. Der Staubfänger ist aber auch ein Wort für einen Gegenstand, der die meiste Zeit unnütz herumsteht. Irgendwann gab es einen Grund, warum man sich ihn angeschafft hat, doch mit jeder weiteren Schicht Staub, die sich auf ihn legt, verblasst die Erinnerung daran, was er eigentlich einmal bedeutete. Im Roman Staubfänger (Lapači prachu, 2017), dem hervorragenden Debüt der tschechischen Schriftstellerin Lucie Faulerová, wird die Staubschicht auf den zahlreichen Gegenständen in der Wohnung sogar zu einem Schutz davor, die Vergangenheit als Teil der Gegenwart zu sehen. Die deutsche Übersetzung von Julia Miesenböck ist 2020 im homunculus verlag erschienen. Laut Selbstdarstellung legt der Verlag einen Schwerpunkt auf „interkulturelle Aspekte“ und verfügt über eine Reihe namens lit*europe, ein „Line Up für europäische Literatur in Übersetzung. Der Fokus liegt auf den europäischen Kulturräumen von den Skanden bis zum Balkan, vornehmlich Mittel- und Südosteuropa“. Auch fällt sofort auf, dass die Namen der Übersetzerinnen und Übersetzer auf den Buchdeckel aufgedruckt sind. Es gibt also ein Interesse für die Kunst des Übersetzens.
In diesem Line Up sind bislang acht Titel erschienen, und man darf gespannt auf Weitere sein. Die Entscheidung für Faulerová, höchstwahrscheinlich auf Vorschlag von Julia Miesenböck, ist überzeugend. Beim Lesen des Romans wird man zunächst in eine Art Strom von Gedanken und Szenen geworfen. Die Hauptfigur Anna arbeitet lustlos in einem Callcenter, unternimmt wenig. Sie trifft sich ungefähr einmal die Woche mit ihrer Schwester Dana, der sie aber möglichst nichts aus ihrem Leben erzählen will. Im Kontakt der beiden wird das manipulierende Element in Annas Erzählen deutlich, einem Erzählen, mit dem sie zu verhindern scheint, tatsächlich etwas zu erzählen. Anna wirft ihrer Schwester vor, sie sei mit einem gewalttätigen Mann zusammen, und dann habe sie auch noch Kinder mit ihm.
Überhaupt stellt sich Anna gegen Normvorstellungen, was bisweilen wie eine selbstbewusste Kritik unserer Gegenwart wirkt. Doch vor allem ihr eigenes Leben ist ihr zuwider, „über mich gibt es nichts zu erzählen“. Von Anfang an macht sie deutlich, wie unerträglich ihr alles ist: „Das war der schlimmste Moment meines Lebens, bis auf all die anderen.“ Diese Wendung taucht in unterschiedlichen Spielarten immer wieder auf. Ihre Sprache ist oft hart, zu sich und zu anderen, es geht um Gewalt und Ausweglosigkeit. Sie lügt und stiehlt. Eine vergangene Liebesbeziehung mit Jakub spielt eine Rolle, jedoch ist nicht klar, welche der widersprüchlichen Dinge, die sie von ihm erzählt, wirklich stimmen. Wenn sie Sex schildert, stellt sie sich ihn vor oder erinnert sich, wobei dieses Erinnern immer mehr infrage steht. Sie eröffnet sogar, sie habe wegen Jakub angefangen „Sex eigentlich zu hassen“. Doch obwohl sie sich alle Mühe gibt, keinerlei ernsthaftes Interesse an ihrer Umwelt zu haben, taucht ein Rätsel auf, dem sie nachgeht und mit dem sie ringt. Wiederholungen von zunächst scheinbar bedeutungslosen Sätzen, die sich durch die Kapitel ziehen, fügen sich schließlich doch in einen Zusammenhang, es steckt noch etwas hinter ihnen. Man erfährt etwas über die Mutter, zu der Anna aber keinen Kontakt will. So schält sich eine fast krimiartige Nachforschung aus dem über weite Strecken dahinströmenden Selbstgespräch-Zustand heraus. Und darin geht es erstaunlicherweise insbesondere um Annas Schwierigkeiten mit der Erinnerung.
Die charakteristische Erzählweise bezieht sich nicht nur auf die unzuverlässige Erzählerin, die sich in den Fakten oft so sehr widerspricht, dass ihr nicht recht zu trauen ist und die Leserin unwillkürlich nach vertrauenswürdigeren Akteurinnen und Akteuren sucht. Neben der Ich-Erzählerin gibt es auch einen „Erzähler“ („vypravěč“) als Figur, der sich immer wieder versucht einzumischen und anders zu formulieren, der sogar manches Mal in Annas Geschichte irgendwo herumsteht, und den Anna bisweilen kommentiert:
Neskonale tichá one woman show začíná být nudná za hranici trapnosti, neskonale tichý život, neskonale nudná já, o které není co vyprávět, no vážně, vypravěč čeká se založenýma rukama a dolévá mi portské, ať může můj odchod do limbu urychlit. Nudí se.
Die unendlich ruhige One-Woman-Show wird langsam langweilig und grenzt an Peinlichkeit, das unendlich ruhige Leben, ich, unendlich langweilig, über mich gibt es nichts zu erzählen, im Ernst, der Erzähler wartet mit verschränkten Händen oder schenkt mir Portwein nach, um meinen Abgang in den Limbus zu beschleunigen. Er langweilt sich.
Oder sie wird von ihm kommentiert:
Odhodím telefon, udělá na parketách přemet ke stínu v rohu místnosti, zřejmě k mému vypravěči, který si na mě ukazuje prstem a směje se, až se za břicho popadá. Fakt mi tě je líto, Anno, fakt jo.
Ich werfe das Telefon zu Boden; es schlittert über den Parkettboden bis zum Schatten in der Ecke des Zimmers, offensichtlich zu meinem Erzähler, der mit dem Finger auf mich zeigt und sich den Bauch vor Lachen hält. Echt, du tust mir leid, Anna, im Ernst.
Das Debüt ist in Tschechien positiv aufgenommen und für mehrere Preise nominiert worden. Die sprachliche Arbeit der Autorin, ihr Spielen mit den Implikationen von gewohnten erzählerischen Perspektiven ist außergewöhnlich. So handelt das Buch nicht zuletzt davon, den Zusammenhang von Erinnern und Erzählen zu erkunden.
Für die übersetzerische Arbeit ist die Erzählerin und Hauptfigur Anna eine spannende Herausforderung. Ihr Ton ist teilweise umgangssprachlich, düster und zugleich selbstbewusst, oft scharf und klar beobachtend, dabei aber auch tief sarkastisch und misanthropisch. Auf der Ebene der Satzstrukturen entsteht eine charakteristische Rhythmik und Melodik. Anna ist immer wieder knapp, macht nicht viele Umschweife, schnaubt statt Worten Geräusche aus: „Also: klirr, wumms und aus.“ – „Takže břink bác a nic“. Die Übersetzerin Julia Miesenböck fokussiert beim Arbeiten mit der Erzählerinnenstimme auf Semantiken und Assoziationen, die nah an der Wortbedeutung erhalten bleiben. Dabei findet sie witzige Entsprechungen und Neologismen, wie etwa in der Beschreibung des Psychologen, der eine mit Alkohol und Drogen zugedröhnte Anna vor dem Haus antrifft, indem er plötzlich „in seiner ganzen grashalmigen Schönheit“ dasteht. Auch Annas angewiderter Blick auf Kompromisse ist schön und bitter: „[…] bitte, nach dir, ich verzichte gern darauf, nein auf keinen Fall, ich verzichte, wir machen das so, wie du willst. Die beiden würden sich zu Tode kompromissieren“.
Jedoch findet die Übersetzerin keinen überzeugenden Umgang mit dem prägnanten Rhythmus und verpasst dadurch einen wichtigen Aspekt der Erzählstrategie. Denn in Bezug auf den Sprachfluss entscheidet sie oft so, dass das Tempo gedrosselt wird und manche Situationen und Sätze sich in die Länge ziehen. Zu wenig experimentiert sie mit der Zuspitzung von Situationen, lässt sich manchmal von der Langsamkeit überwältigen, die im Deutschen durch das Ausbuchstabieren von Wortbedeutungen entstehen kann. So gelingen ihr zu wenige klare rhythmische Entscheidungen. Das Durchhasten durch einen Alltag, den die Erzählerin Anna abstoßend findet und in dem sie auch mit dem Erzählen kämpft, reformuliert, weglässt, sich durchwindet, um zwischendurch ganz lakonisch messerscharfe Thesen aufzustellen – dieses Hin und Her und dieses Lebensgefühl stellen sich in der Übersetzung weniger kantig dar oder vermitteln sich nicht. Ein Beispiel:
Zbavila jsem se toho sajrajtu v puse a vydala se do ložnice, kde jsem ze sbírky černočerných nudných slušných kousavých šatů knihovnice po přechodu vybrala jeden kousek. Vlasy ulízla za uši. K snídani jsem si dala hořké kafé a cigáro. Kručení v žaludku mi ale poroučelo denní příjem koblihy.
Ich spuckte die Sauerei, die sich in meinem Mund angesammelt hatte, aus und machte mich auf den Weg ins Schlafzimmer, wo ich die Sammlung dunkelschwarzer, langweiliger, anständiger, beißender Kleider im Stil von Bibliothekarinnen in den Wechseljahren durchging und mir eins davon aussuchte. Die Haare hinter die Ohren gestrichen. Zum Frühstück hatte ich einen heißen Kaffee und eine Zigarette. Das Knurren im Magen gab mir den Befehl zur täglichen Aufnahme eines Krapfens.
Das Tempo unterscheidet sich augenfällig, auch wenn man im Hinterkopf behält, dass eine deutsche Übersetzung gewöhnlich länger ausfällt als der dazugehörige tschechische Text. Die Sprache streckt sich, es entsteht ein anderes Bild von der Situation. Das Kleiderauswählen mitsamt dem Weg ins Schlafzimmer nimmt viel Platz ein, was der darunterliegenden Bedeutungslosigkeit – Auswählen aus lauter gleichen, stumpfen Stücken – rhythmisch entgegen steht. (Nebensächlich, dass es eigentlich ein „bitterer“, kein „heißer“ Kaffee ist.) Zudem ist ein Erklärungselement eingefügt, da die „Sauerei“ nicht einfach im Mund ist („v puse“), sondern sich dort mithilfe eines beigefügten Nebensatzes „in meinem Mund angesammelt“ hat. Aber welchen Grund gibt es, die Erzählerin hier mit so einer erläuternden Sorgfalt zu versehen?
In der deutschen Version erscheint die erzählende Anna dadurch beinahe als zuverlässigere Erzählerin als im Tschechischen. Und die Satzstrukturen verlieren immer wieder die innere Dramaturgie, wie z. B. bei der existentiellen Frage nach dem Sinn des Lebens:
Pro silné je tu Darwin, pro slabé Ježíš. Bůh, co nás přesahuje, jak dokonalá výmluva, jak dokonalý argument, protože jak žít s tím, že se věci dějí jen tak bez důvodů?
Für die Starken gibt es Darwin, für die Schwachen Jesus. Gott, der uns übertrifft, wie eine vollkommene Ausrede, wie ein vollkommenes Argument, denn wie lebt es sich mit der Vorstellung, dass die Sachen einfach so, ohne Grund, passieren?
Zum einen kommt das Deutsche „wie lebt es sich“ („jak žít“) nicht an die Problematik – dass man damit nicht leben kann – heran, zum anderen kommt der Satzbau dem Rhythmus nicht zugute. Die Übersetzung bleibt dem „Satz als Bühne“ (wie Kristina Kallert die Mikrodramaturgie genannt hat) nicht treu, denn die innere Spannung des Satzes zerfällt, und die besonders wichtige letzte Stelle verpufft, indem das „passieren“ wie plätschernd zum Ende absinkt, obgleich das Gewicht des Satzes doch die Grundlosigkeit ist („bez důvodů“), im Deutschen zwischen Kommata verschoben. Müsste sie nicht der Höhepunkt sein, auf den der Satz langsam zurollt und schließlich auftrifft?
Insgesamt werden Stimmungen und Zustände mit einem Fokus auf der Wortbedeutung wiedergegeben, Assoziationsfelder und Ebenen funktionieren, die Geschichte, die sich herausschält, ist spannend. Lautlich ist das Konzept der Übersetzung jedoch undurchsichtig. Der Rhythmus tritt in den Hintergrund, verliert sein mitreißendes Tempo. Das Lesen hat eine zeitliche Abfolge, wie die Übersetzerin Kristina Kallert wunderbar beschrieben und demonstriert hat: „Denn ein Satz ist eine Bühne, er stellt die Aktanten auf, lässt Spannungsbögen wachsen, verzögert sich, explodiert, verhallt, er lenkt den Blick des Lesers – oder sollte es besser heißen: des Zuschauers? –, weckt Erwartungen, Emotionen, mit denen er spielt, ja, er verrät uns Geheimes, Nichtausgesprochenes über die Figuren, indem wir mit ihren Augen das Geschehen verfolgen. Ein Satz selbst ist ein Geschehen.“ 1 Die Entscheidung für eine bestimmte Stellung der Wörter formt das Geschehen.
Vielleicht sollten die übersetzten Staubfänger mit Absicht zu etwas Anderem werden. Ein Staubfänger ist nicht nur etwas beinahe Vergessenes, er ist auch starr, wird über lange Zeit nicht bewegt, kann also für Stillstand stehen. Dieses Verständnis vom Staubfänger wäre ein Argument für ein verlangsamtes Erzählen. Umständlichkeit kann ein Gefühl der Enge herstellen, ein Eingesperrtsein in einen Alltag, aus dem man nicht entkommt. Vielleicht legte sich die Übersetzerin diese Haltung also bewusst für ihre Textarbeit zugrunde. Allerdings ist diese als übersetzerisches Konzept nicht ganz rund und entfernt sich von der Poetik im Tschechischen, zumindest von dem Biss, dem Rhythmus, dem Tempo von Faulerovás Erzählen.