Ihr seid jetzt seit einem Jahr Vorsitzende des VdÜ (Verband deutschsprachiger Übersetzer:innen), und dieses Jahr war kein ganz normales. Die Corona-Pandemie bestimmt weiterhin unser aller Leben. Wie war es, in einer solchen Situation ein neues Amt anzutreten?
Marieke Heimburger: Die digitale Mitgliederversammlung im vergangenen Jahr war für mich sehr ungewöhnlich. Ganz alleine zu Hause zu sitzen, wenn man gerade in ein so hohes Amt gewählt wird, und mit niemandem anstoßen zu können, ist eine merkwürdige Erfahrung. Wir mussten einige Abstriche machen, aber so waren nun mal die Zeiten.
Ingo Herzke: Wir vom zu wählenden Vorstand hatten uns davor tatsächlich schon ein paarmal getroffen. Die Arbeit vorher war zwar aufregend, aber die eigentliche Versammlung dann gar nicht so sehr. Wir hatten ja auch alle schon Erfahrung mit digitalen Veranstaltungen gesammelt.
Zu Beginn der Pandemie herrschte in der Buchbranche insgesamt und auch unter Übersetzer:innen – Stichwort: Soloselbstständige – große Aufregung und Unsicherheit. Wie schätzt ihr die Lage heute, nach zwei Jahren Pandemie, ein?
I.H.: Bei mir persönlich war es so, dass sich im Herbst 2020 eine kleine Delle auftat. Da bekam ich schon ein bisschen Panik, weil ich es nach zwanzig Jahren in dem Beruf gar nicht mehr gewohnt bin, dass ich keinen Plan für die nächsten zwölf Monate habe. Aber zumindest in meinem Fall hat sich das dann alles wieder gefügt und normalisiert.
Und insgesamt?
M.H.: Wir haben da im Moment noch keinen fundierten Überblick, da unsere Mitgliedschaft sehr bunt ist. Manch einer hat vielleicht kaum Einbußen gehabt, aber es gibt bestimmt auch negative Einzelschicksale. Die Honorarkommission des VdÜ wird im Sommer eine Sozialumfrage durchführen. Die soll auch Zahlen dazu liefern, ob und inwieweit Übersetzer:innen staatliche Hilfen in Anspruch genommen haben, wie leicht diese zu kriegen und ob sie wirklich hilfreich waren.
Welche Bedeutung hatte das Förderprogramm „Neustart Kultur“, das buchstäblich Millionen in die Kasse des Deutschen Übersetzerfonds gespült hat?
I.H.: Das war wirklich ein großer Faktor. Ich selbst habe in einer von vielen Jurys gesessen, die Stipendien verteilt haben – sowohl von „Neustart Kultur“ als auch vom DÜF und der VG Wort. Teilweise gab es Probleme, das Geld loszuwerden, weil Stipendien nicht abgerufen wurden. Ich glaube, wer wollte, konnte da eine ganze Menge Unterstützung bekommen.
M.H.: Ich finde es großartig, in was für einem Tempo in letzter Zeit neue Projekte auf die Beine gestellt wurden.
Ist das denn auch nachhaltig?
I.H.: Wenn ein Topf mit fünf Millionen bereitgestellt wird, können wir den natürlich nicht ablehnen. Aber die Frage ist berechtigt. Ein Beispiel: Nachdem der vom Außenministerium finanzierte Weltempfang gestrichen wurde, finanzieren wir mit dem Geld von „Neustart Kultur“ das neue Übersetzerzentrum auf der Frankfurter Buchmesse. Diese Förderung läuft aber in diesem Jahr aus. Deshalb ist es dringend notwendig, dass uns das Bundesministerium für Kultur in den nächsten Jahren weiter bezuschusst, damit die Veranstaltungen weiterhin stattfinden können. Bei der MV des DÜF konnte ich das zumindest schon im Ministerium anregen.
M.H.: Nachhaltig vielleicht in dem Sinne, dass wir an das Kulturstaatsministerium zurückmelden können, dass a) das Geld wirklich bei den Menschen angekommen ist, und b) die vielen Ideen, die sprießen konnten, zeigen, wie viel mehr Potenzial wir hätten, mit wie viel mehr wir die Gesellschaft bereichern könnten, wenn wir angemessen vergütet würden. Bei einer ersten Gelegenheit neulich in Berlin habe ich das bereits angesprochen, da wurde grundsätzlich über verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen für Kreative geredet.
Gehen wir nochmal zurück zum Beginn eurer Amtszeit. Ein heiß diskutiertes Thema zu dieser Zeit war nicht nur die Pandemie, sondern die Kontroverse um die niederländische Übersetzung von Amanda Gormans Gedichtband „The Hill we Climb“. Das literarische Übersetzen war plötzlich großes Feuilleton-Thema. Wie schaut ihr mit einem Jahr Abstand auf diese Debatte?
I.H.: Einerseits war diese Feuilleton-Diskussion eine große Stellvertreterdebatte. Da ging es nicht so sehr um unsere Berufstätigkeit, sondern um angebliche Diskursvorschriften und Sprechverbote. Andererseits hat die Debatte innerhalb unseres Verbandes und auch innerhalb der Buchbranche einiges ausgelöst. Im Laufe des letzten Jahres ist es beispielsweise immer selbstverständlicher geworden, dass es bei bestimmten Arten von Texten so etwas wie ein Sensitivity Reading der Übersetzungen gibt.
Im Kern ging es ja um die Sichtbarkeit von People of Colour im Literaturbetrieb. Der VdÜ ist, vorsichtig gesagt, auch ein sehr Weißer Verein. Ist das ein Problem?
M.H.: Ich wurde im letzten Sommer von einem Verlag angeschrieben, der dezidiert eine nicht-Weiße Person für eine Übersetzung gesucht hat. Da musste ich feststellen, dass ich in der Tat niemanden kenne. Habe dann aber dennoch getan, was ich konnte, um zu vermitteln.
I.H.: Und ich war letztes Jahr bei einer Veranstaltung im Café Ü in Freiburg, die sich mit der Forderung danach beschäftigt hat, dass mehr People of Colour mit Übersetzungen betraut werden. Da stellte sich heraus, dass es tatsächlich einige gibt, die sich in unsere Zunft nicht hineintrauen und nicht wissen, wie sie überhaupt Fuß fassen können. Da liegt noch einiges an Arbeit vor uns, um Schwellen abzubauen.
Berufseinsteiger:innen haben es generell nicht leicht in der Übersetzungsbranche. Auch im VdÜ wirkten sie lange Zeit eher marginalisiert. Aber in letzter Zeit scheint sich das zu ändern. Wie wollt ihr junge Leute in Zukunft noch mehr in die Verbandsarbeit einbinden?
I.H.: Es ist tatsächlich auffällig, dass es in letzter Zeit viele junge Leute gibt, die Lust haben, sich einzubringen, obwohl sie gerade erst in den Verband eingetreten sind. Das begrüßen wir sehr.
M.H.: Die Gastdozenturen, die der DÜF im Zuge von „Neustart Kultur“ finanziert, sind eine einmalige Chance, in der Breite an den Nachwuchs heranzukommen, bevor er eigentlich konkreter Nachwuchs ist. Ingo und ich bringen uns da nach Kräften ein, weil uns das Thema sehr am Herzen liegt. Im Idealfall haben künftige Übersetzer:innen schon vom VdÜ gehört, bevor sie den ersten Vertrag bekommen. Insbesondere Berufsanfänger:innen bieten wir ja einige Vorteile. Je früher werdende Übersetzer:innen beitreten, desto besser sind sie informiert und agieren hoffentlich von Anfang an professionell.
Die Honorarsituation ist notorisch schlecht, nicht nur für Anfänger:innen, sondern eigentlich für alle Literaturübersetzer:innen. Das betont ihr ja auch immer wieder. Wie ist die Lage im Jahr 2022?
M.H.: Klar ist: Wenn wir alles immer schweigend hinnehmen, dann werden die Vertragsbedingungen stillschweigend immer schlechter. Aber in der Hinsicht scheinen unsere Appelle durchaus zu fruchten. Den berüchtigten Satz von der Verlagsseite – „Ich weiß nicht, was Sie wollen, unsere Übersetzer:innen beschweren sich nicht“ – hören wir inzwischen seltener. Der Ton hat sich also ein bisschen geändert. Und je mehr Leute ihre Verträge nicht einfach unterschreiben, sondern immer wieder Fragen stellen, desto größer der Druck aus der Mitgliedschaft auf die Verlage. Der Vorstand allein kann es halt auch nicht reißen.
Was hat der Vorstand denn vor? Als Außenstehender hat man den Eindruck, die Verhandlungen der Honorarkommission liefen zuletzt darauf hinaus, dass man vor allem die Verlage erreicht, bei denen es ohnehin schon nicht schlecht läuft.
M.H.: Die dicken Bretter, die angebohrt sind, aber eben nicht durchgebohrt worden, wollen wir mehr oder weniger ruhen lassen und uns lieber auf andere Baustellen konzentrieren. Wir sind uns im Vorstand einig, dass wir Projekte, die wenig erfolgversprechend sind, nicht in Angriff nehmen möchten, weil in dieses Ehrenamt sehr viel Energie fließt.
I.H.: Im ersten Jahr hat sich auch herauskristallisiert, dass es nötig ist, einmal gezielt und strukturiert darüber nachzudenken, was wir in Bezug auf Honorare und unsere soziale Sicherung überhaupt erreichen wollen, und wie wir es erreichen können. Deswegen wollen wir im September einen Strategietag machen, zusammen mit Vertreter:innen von Ver.di, die auch Erfahrung damit haben, wie man politisch etwas bewegt.
M.H.: Daran knüpfen wir als Vorstand dann auch noch ein Jahrescoaching, um nochmal zu resümieren, was im ersten Jahr gewesen ist. Das ist ganz wichtig, damit uns auch die Lust daran, das alles zu machen, erhalten bleibt.
I.H.: Ich glaube, in den vorherigen Vorständen ist das Thema Self-Care eindeutig zu kurz gekommen. Und das ist nicht gut, wenn das Ehrenamt so sehr verschleißt. Dann wird es irgendwann niemand mehr machen wollen.
À propos: Ein anderer literarischer Verband macht gerade große Schlagzeilen. Seid ihr froh, dass es im VdÜ friedlicher zugeht, oder wünscht ihr euch die Aufmerksamkeit, die der PEN vor Kurzem auf sich gezogen hat, manchmal auch für den VdÜ?
I.H.: Der schöne Satz „There is no such thing as bad publicity“ gilt hier nicht, würde ich sagen. Es scheint doch eher so zu sein, dass es sich beim PEN um einen ziemlich vertrockneten, klüngelhaften Haufen alter Weißer Was-auch-immer handelt, der nicht so ganz weiß, was er will und wohin er will.
M.H.: Darum begrüßen wir auch die Neugründung des PEN Berlin, der sich sofort viel offener zeigte – schon allein dadurch, dass er eine ganze Reihe von Übersetzer:innen angesprochen hat, ob sie sich an der Gründung beteiligen wollen. Auch im VdÜ hat es in der Vergangenheit Grabenkämpfe gegeben, auch dort drohte eine Zeitlang eine Spaltung. Wir sind froh, dass diese Zeiten hinter uns liegen. Das heißt nicht, dass alle derselben Meinung sein müssen. Aber bei uns herrscht ein ordentlicher Ton.
I.H.: Bei Ver.di gilt der VdÜ als einer der aktivsten dieser kleinen Selbstständigen-Verbände. Denen haben wir fast schon zu viel am Laufen, weil wir immer irgendwelche Dinge anstoßen und hierfür Geld haben wollen und dafür Geld haben wollen. Aber natürlich werden Autor:innen-Verbände, gerade auch vom Feuilleton, immer stärker gefeaturet und wahrgenommen werden.
Wie geht es euch jetzt nach einem Jahr im Amt?
M.H.: Mir geht es gut, allerdings ist das Amt sehr zeitintensiv. Aber das Vorstandsteam ist super, und die Aufgaben sind toll. Es war sehr sinnvoll, dass wir die Aufgaben im Vorfeld schon transparenter gemacht und besser untereinander verteilt haben. Trotzdem muss jeder und jede für sich zu Hause immer die Entscheidung treffen, wie viel er oder sie jeweils leisten kann. Ich bin sehr gespannt auf Wolfenbüttel. Da werden wir ja zum ersten Mal live vor unserer Mitgliedschaft, zumindest einem nicht ganz kleinen Haufen davon stehen und so richtig …
I.H.: … mit Tomaten beworfen werden.
Angst?
I.H.: Nein, im Ernst: Ich freue mich auch wahnsinnig auf Wolfenbüttel. Nicht unbedingt darauf, dass ich da eine Rede halten soll, aber auf die Menschen, auf die Begegnungen und auf die Diskussionen.