Wollte man in den letzten Jahren isländische Lyrik auf Deutsch lesen, so hat der Griff fast immer zu einem Buch aus dem Elif Verlag geführt, wo jedes Jahr 2–3 Bände isländischer Lyrik in der Übersetzung von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer erschienen sind. In diesem Frühjahr hat sich mit Dörlemann ein neuer Verlag und mit Kristof Magnusson ein neuer Übersetzer an isländische Lyrik herangewagt.
Nicht nur der Publikationsort ist neu, auch die Form, also Lyrik, ist für die Beteiligten Neuland: Nachtdämmern ist neben Jürg Halters Gemeinsame Sprache der einzige bei Dörlemann je erschienene Lyrikband und Magnusson hat außer einigen Gedichten in der Zeitschrift die horen bisher hauptsächlich Romane übersetzt. Steinunn Sigurðardóttir hingegen, ist respektive war, im deutschen Sprachraum relativ bekannt, sind ihre Werke – für isländische Verhältnisse – doch ziemlich breit übersetzt. Ihr erster Roman auf Deutsch (Der Zeitdieb, übers. Coletta Bürling) wurde 1997 noch im Amman Verlag veröffentlicht, später als Lizenzausgabe bei Rowohlt, wo seither ihre Romane in der Übersetzung von Coletta Bürling erschienen sind. Lieferbar ist mittlerweile aber nur noch der 2007 erschienene Roman Die Liebe der Fische. Anders schaut es bei den Gedichten aus, da gab es bisher nur einen Band (Sternenstaub auf den Fingerkuppen, Kleinheinrich Verlag, weiterhin lieferbar), der 2011 von Gert Kreutzer übersetzt wurde.
Nachtdämmern, immerhin der 10. Gedichtband von Sigurðardóttir, bietet also tatsächlich seit über einer Dekade wieder die erste Möglichkeit, Gedichte von ihr auf Deutsch zu lesen. Darin verarbeitet Sigurðardóttir das Verschwinden des Gletschers Vatnajökull, vor dessen Haustüre sie aufgewachsen ist. Die Autorin verwebt die eigene Kindheit mit dem Gletscher und erbaut daraus den sinnbildlichen Konflikt der Gedichte: Das kleine Mädchen, welches dem Gletscher zuerst in seiner Mächtigkeit ausgeliefert ist, danach aber tatenlos dessen Verschwinden betrachten muss. In einer Art Oral History versammelt Sigurðardóttir einerseits diese eigenen Eindrücke über die Kindheit im Schatten des Gletschers, andererseits auch Stimmen von Menschen, die in der Nähe des Gletschers leben. Umrahmt werden diese zweiseitigen Alltagsbeobachtungen von poetischen Abgesängen auf den Gletscher. Leider erschöpft sich der Gedichtband schnell in genau dieser Konstellation zwischen Abgesang und Erinnerung.
Auf andere Art formuliert: Man spürt, dass der Dichterin der Gletscher am Herzen liegt. Womit der Kern des Problems bereits gefunden wäre. Aktivistischer Eifer erzeugt selten gute Literatur. Die Sprachbilder sind häufig blass („Er geht und schatten kommen.“), getrieben von Wut („Durchsichtiges blut // das der mensch erhitzt im kessel seiner gier.“) und abgelutscht („Nichts hört man nur knarren und stimmen// Stimmen allein in der gletscherwelt.“). Es fehlt durchwegs an poetischer Verdichtung, an Vielschichtigkeit und am Spiel mit dem Untersuchungsgegenstand. Der Gletscher darf keine Projektionsfläche sein, sondern nur Faktum, dessen Verschwinden zu bedauern ist. Die moralisierende und offensichtliche Botschaft wird nicht verschleiert, sondern beherzt vorgetragen. Dass dabei der poetische Scharfsinn verloren geht, wird zur Nebensache.
Það líður hjá Það gengur yfir
Rigningarskúrin Barndómur Fyrri og síðari
Óendanlegir dómar Líka þeir Líða hjá
Veturinn, meiraðsegja fyrir norðan, gengur yfir –
og veturinn þar á eftir, þótt seint fari
Eins líður flensan hjá, ástsýki, hiksti
og það sem ótrúlegast er, Eilífðarfjallið mitt ljósa, líður líka hjá
Þessi eyja á eyjunni sekkur í Grjóthafið
Þessi kastali úr snjóhvítu rósunum þiðnar
og verður að rambandi haug
Það er Fullkomnað Endanlegt Eilífðarlok
Das geht vorbei Das vergeht
Die Regenwolke Kindheit Die frühe /und die späte
Das ewige bewertetwerden Auch das /Geht vorbei
Der winter, sogar im norden, geht vorbei –
und der nächste winter, wenn auch spät
Auch die grippe vergeht, liebeswahn, /schluckauf
und auch mein heller Ewigkeitsberg, das ist /das unglaublichste, vergeht
Die insel auf der insel versinkt in einem Meer /aus Geröll
Die burg aus schneeweißen rosen taut
und wird zu einer haltlosen halde
Das Vollbrachte Endgültige Ende der Ewigkeit
Eine Übersetzung, egal wie gut sie ist, wird Nachtdämmern also nicht retten können. Gemeinhin gelten Lyrik-Übersetzungen ja als schwierig und durch das mäßige Ausgangsmaterial wird die Aufgabe von Kristof Magnusson weiter erschwert. Schon allein die, freundlich formuliert, erratische Zeichensetzung, die jeder Lektor:in die Haare zu Berg getrieben hätte, macht es schwierig. Aber der Reihe nach.
Die Eigenheiten der Übersetzung von Kristof Magnusson lassen sich gut am ersten, oben zitierten Gedicht ablesen. Augenfällig ist da bereits die eigentümliche Groß-/Kleinschreibung. „winter“ etwa wird kleingeschrieben, „Ewigkeitsberg“ oder „Kindheit“ hingegen nicht. Auf den ersten Blick ist das sinnvoll: „veturinn“ wird im Original klein, „Eilífðarfjallið“ und „Barndómur“ großgeschrieben. Sigurðardóttirs Groß-/Kleinschreibung ist auch im Isländischen eigentümlich, dort wird normalerweise ähnlich wie im Englischen klein geschrieben; also alles klein außer Satzanfänge und Eigennamen.
Nun stellt sich aber bereits die Frage, ob damit die von der Autorin beabsichtigte Form übersetzt wird. Da in diesem ersten Gedicht die Satzzeichen fehlen (wie gesagt, erratische Zeichensetzung), wäre es zumindest ein Streitpunkt, ob die letzte Zeile beispielsweise nicht drei sehr kurze Sätze enthält und damit der korrekten isländischen Orthografie folgt. Schwierig wird es spätestens beim „winter“, der kommt nämlich im Original zweimal vor, einmal groß, einmal klein. Auf Deutsch wird daraus aber „Der winter“ und „der […] winter“. Die Nachahmung der isländischen Großschreibung wurde hier also im Deutschen durch den großgeschriebenen Satzanfang erwirkt, nicht durch die Großschreibung des Substantivs. Letztlich führt dieser Grundsatzentscheid zur Groß-/Kleinschreibung zu einem höchst unregelmäßigen Satzbild und einer unschlüssig wirkenden Orthografie. Das ist grundsätzlich, in der Nachahmung des Originals, nicht verkehrt, aber die dadurch erzielte Wirkung ist eigentümlicher als im Original. Hinzu kommt, dass es eben nicht konsequent ist.
Andernorts wiederum, entfernt sich der Text weiter weg vom Original. Die Wiederholung „gengur yfir“ am Zeilenende der Zeilen 1 und 4 wird im Deutschen gebrochen, es wird daraus „Das vergeht“ und „geht vorbei“. Dafür kommt die Wiederholung bei Zeile 3 und 4 mit „geht vorbei”. Dieses „geht vorbei“ ist denn auch ein eigentümlicher Fall: die Originalen „líður hjá“, „gengur yfir“ und „Líða hjá“ – die alle aus demselben, leicht melancholischen Register stammen – werden alle im gleichen Wortlaut übersetzt. Nun ist das inhaltlich nicht falsch, aber die von Sigurðardóttir angelegte Variation wird geschmälert. Die unterschiedlichen sprachlichen Varianten der Vergänglichkeit im Original werden im Deutschen reduziert.
Kritik an der Übersetzung an einem so dichten, kurzen Text wie einem Gedicht ist oft unfair oder kleinkariert. Weil die Übersetzung eines Gedichts nie alles mitübersetzen kann, nie die gesamte Variation und Wortspielerei des ursprünglichen Textes mitnehmen kann, was auch mitunter ein Grund ist, warum Lyrikübersetzungen meistens zweisprachig erscheinen. So lassen sich viele im Gedicht angelegte Doppelbödigkeiten und Variationen zumindest erahnen (vorausgesetzt man kann das Schriftsystem der Ursprungssprache lesen). Leider wurde bei Nachtdämmern auf diese Möglichkeit verzichtet.
Und wie zuvor erwähnt, die Aufgabe von Magnusson war nicht einfach. Die Zeichensetzung beispielsweise wurde – analog zur Groß-/Kleinschreibung – übernommen. Mal haben die Gedichte keine Satzzeichen, mal nur Punkte am Zeilenende, mal mitten in den Zeilen, zuweilen auch Punkte und Kommas, aber nur einige Kommas, nicht alle etc. Wie gesagt: erratisch. Und dies lässt sich auch in einer Übersetzung nicht ausbessern, ohne mit starken Eingriffen die Gedichte zu verändern. Magnusson hat mit viel poetischem Sinn gearbeitet, wo es diesen im Original zu holen gab. Seien dies nun die erbaulichen Neuschöpfungen „mooslavagipfel“, das „kaltschöne meer“ oder etwa die nachgeahmte und ausgebaute Alliteration in der letzten Zeile „Endgültige Ende der Ewigkeit“. Aber im Großen und Ganzen scheint mir die Kritik der Übersetzung grundsätzlich müßig. Nachtdämmern krankt, nebst dem Inhalt, in der deutschen Version an etwas anderem: an der Typografie.
Sigurðardóttir schreibt in langen, unregelmäßigen Zeilen. Durch das schmale Format (und die relativ große und fette Schrift) werden in der deutschen Ausgabe die Zeilen viel zu häufig gebrochen (im oben zitierten Gedicht sind die Zeilenbrüche jeweils mit Schrägstrichen markiert). Im Original ist dies zwar auch mitunter nötig, aber selten, während es auf Deutsch bei praktisch jedem Gedicht mehrmals vorkommt. Vergleicht man etwa das oben zitierte Gedicht in den beiden Ausgaben, wird im isländischen Original die Zeile nicht ein einziges Mal gebrochen, in der deutschen Version fünfmal.
Dadurch, dass Sigurðardóttir sowieso schon sehr luftig (also mit jeweils einer Leerzeile nach jeder Zeile) schreibt, wirkt das ganze Satzbild zerfahren und zerrissen. Das macht die Lektüre weder einfacher noch angenehmer. Dazu kommt eine schlechte (oder schlecht gesetzte) Schrift, die Großbuchstaben sind zum Beispiel zu klein etc. Aber lassen wir die Details und sagen dazu einfach, dass es garantiert besser geeignete Schriften gegeben hätte. Jetzt mag man das als Lappalie abtun – völlig klar, den meisten Leser:innen wird die Schrift resp. die typografische Gestaltung reichlich egal sein, solange der Text lesbar ist – für mich ist es aber Ausdruck von etwas anderem: fehlende Sorgfalt im Umgang mit dem Ausgangsmaterial. So bleibt der Band ein zweischneidiges Schwert, einerseits ist er ansprechend übersetzt, auch wenn man einzelne Entscheide der Übersetzung sicherlich bemängeln kann, andererseits überzeugt der Band, nebst der fehlenden Zweisprachigkeit, weder literarisch noch typografisch.