Anmerkung der Redaktion: Die Rezensentin bezieht sich in ihrer Rezension auf den Originaltext der neuen Gesamtausgabe aus dem Jahr 2019, die Übersetzerin hat jedoch die Ausgabe von 1923 genutzt, in der die in dieser Rezension als willkürlich hinzugefügt dargestellten Teilsätze im Gegensatz zur Gesamtausgabe zu finden sind. Die Übersetzerin hat dem Ausgangstext in ihrer Übersetzung somit keine Textstellen hinzugefügt.
Ich kenne keinen überzeugenderen literaturtheoretischen Aufsatz als Viktor Šklovskijs „Искусство как приём“ („Die Kunst als Verfahren“) von 1917. Er proklamiert die Funktionsweise künstlerischer Texte als eine „Bremsung der automatisierten Wahrnehmung“ und stellt quasi den Anfang der modernen Literaturwissenschaft dar. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zitiere und verschicke ich diesen Text (in der zweisprachigen Ausgabe von Jurij Striedter1) und habe Šklovskij in erster Linie stets für einen Vertreter der „formalistischen Schule“ Sankt Petersburgs gehalten – bis ich ihn durch die neuübersetzte Brieferzählung „Zoo. Письма не о любви или Третья Элоиза“ (1923) zudem als einen Literaten kennenlernte.
Dieser ungewöhnlich dichte, mit Genres spielende Text erschien vor kurzem im Guggolz Verlag unter dem Titel „Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die dritte Heloise“ in der Übersetzung von Olga Radetzkaja. Er stellt die Korrespondenz des unglücklich verliebten Ich-Erzählers (eines nach Berlin emigrierten Schriftstellers) und seiner Angebeteten Alja Anfang der 1920er Jahre dar. Doch gibt es nicht „die“ Brieferzählung oder „den“ Text, denn seine zahlreichen Ausgaben (von 1923, 1924/29, 1964/66, 1973), die zu Lebzeiten des Autors erschienen, unterscheiden sich hinsichtlich gestrichener, hinzugefügter Namen, Vorworte, Passagen und ganzer Briefe teils massiv voneinander. Die Änderungen, die dieser Text erfahren hat, sind nicht nur not- und zensurbedingte Anpassungen des Autors, sondern führen die Widersprüche der sowjetischen Epochen vor Augen. Als Zeitdokument nicht nur auf der inhaltlichen Ebene (er bildet einen Querschnitt durch die Welt der emigrierten, befreundeten Intelligencija der 20er Jahre ab) entwickelt er im Kontext der staatlichen Anforderungen neue Brüche und Schwerpunkte, es ist ein Text im Wandel seiner Zeit. So wird etwa die Rückkehr des Ich-Erzählers nach Russland am Ende der ersten Fassung mit einer tragischen Kapitulation gleichgesetzt, in der Ausgabe der 60er Jahre bekommt das gekürzte Bittschreiben an das Zentrale Exekutivkomitee eine verlegene Note, und in seinem nunmehr vierten Vorwort erklärt der greise Autor, sich seinerzeit nach Berlin „verirrt“, einen Fehler begangen zu haben. Auch die formalistische Schule und die vielfältige, experimentierfreudige Literaturlandschaft (das sogenannte „silberne Zeitalter“ der russischen Literatur) wurden unter dem stalinistischen Regime zerschlagen und vom Sozialistischen Realismus abgelöst. Trotzdem verlieren die späteren Fassungen, die auch Olga Radetzkaja in ihrer Übersetzung im Anhang anführt, nicht ihre künstlerische Qualität; ihnen gehören einige der lakonischsten Stellen an, die mir in Erinnerung geblieben sind, etwa:
Hätte ich einen zweiten Anzug, ich wüsste nicht, was Kummer ist.
Man kommt nach Hause, zieht sich um, richtet sich auf – und schon ist man ein anderer.
Frauen bedienen sich dieser Möglichkeit mehrmals am Tag. Was auch immer Sie einer Frau sagen, bestehen Sie darauf, dass sie sofort antwortet, sonst nimmt sie ein heißes Bad, schlüpft in ein anderes Kleid, und Sie müssen noch einmal von vorn anfangen.
oder die parallele Liebesgeschichte eines Japaners und eines russischen Dienstmädchens:
Tarazuki liebte Mascha 1914, 1915, 1916, 1917 und 1918.
Fünf Jahre lang.
Einmal kam er zu ihr und sagte: „Hör zu, Mascha!“
Ich habe eine Großmutter, die lebt auf dem großen Berg Fujiyama, umgeben von einem Garten.
Sie ist sehr vornehm und liebt mich, und außerdem läuft in dem Garten ihr weißer Lieblingsaffe herum.
(Wundern Sie sich nicht über Tarazukis Stil, er hat sein Russisch schließlich von mir gelernt.)
Welcher „Text“ wird nun überhaupt übersetzt (denn bei dieser lyrischen Dichte erweist sich jede der zahlreichen Überarbeitungen als schwerwiegend), nach welchen Kriterien kann eine Fassung präferiert bzw. wie kann die Vielstimmigkeit und Wandelbarkeit des Textmaterials möglichst leserfreundlich wiedergegeben werden?
Olga Radetzkaja entscheidet sich, im Gegensatz zu den vorangegangenen deutschen Übersetzungen aus den 1960-er und 1970-er Jahren, für die erste Fassung: „Heute, 99 Jahre nach der Erstausgabe, fällt die Entscheidung klar für den dunkleren, spannungsvolleren Text von 1923. In ihm ist die Möglichkeit des völligen Scheiterns und des gewaltsamen Todes gewissermaßen die Kehrseite der Sehnsucht nach Gemeinschaft.“ Diese Entscheidung, die zwangsläufig getroffen werden muss – außer es handelt sich um eine akademisch-kritische Ausgabe, die eine Geschichte des Textes in eine Gleichzeitigkeit überführt, allerdings auf eine spezielle Leserschaft zugeschnitten ist – hat über geschmackliche Vorlieben hinaus zweifellos theoretische und politische Aspekte. Bildet die erste publizierte Fassung eines Textes den gewichtigeren Kern der nachfolgenden Variationen? Oder ist der Grund entscheidend, aus dem heraus der Autor seinen Text geändert hat (und muss es der Autor gewesen sein)?
Die letzteren Fragen beziehen sich eher auf die Genese eines literarischen Textes und gehören der alten Schule an, von der sich die ersten Formalisten, unter ihnen Šklovskij, distanziert haben. Sollten die Gründe, die in der Person des Autors liegen, eher als literaturbetriebliche oder regierungskonforme Anpassungen respektiert werden, und ist diese Trennung überhaupt möglich? Es sind schwierige Fragen, die sich lange diskutieren ließen. Fakt ist – Olga Radetzkaja bietet nicht nur die erste Textversion von 1923 an, sondern ermöglicht in einem Anhang, der etwa ein Drittel des gesamten Buches einnimmt, einen Einblick in die späteren Vorworte, Einleitungen, Briefe und skizziert in einem Nachwort die Entwicklung des „Zoos“ innerhalb von fünfzig Jahren (1923 bis zur ersten Gesamtausgabe von 1973). Auch finden sich auf einundzwanzig Seiten Anmerkungen in Form von Fußnoten, die intertextuelle Verweise und kulturgeschichtliche Kontexte erläutern.
Die deutschsprachige Ausgabe wird der Entwicklung der „Briefe“ gerecht und erinnert auch vom Format und von der feinen Gestaltung her an einen Lyrikband. Der „Zoo“ ist stilistisch verspielt, nicht nur intertextuell verflochten, auch voller selbstreferentieller Hinweise: „Wie gern würde ich einfach Gegenstände beschreiben, als hätte es nie eine Literatur gegeben, als könnte man noch literarisch schreiben.“ Ein eigentlich fast postmoderner Text, denn die Gattung des Liebes- und Briefromans wird unerbittlich parodiert, ausführliche Kommentare liefern absurdeste Zusammenfassungen der kurzen, jeweils folgenden Briefe (einer dieser Kommentare enthält z. B. gar ein Zitat, das kurz danach in gleicher Form in einem Brief folgt). Da schreibt jemand, der sich in der Literaturgeschichte auskennt und weiß, dass es genug ernste, sentimental-tragische Texte auf der Welt gibt („Man kann nicht mehr so schreiben wie früher“); gleichzeitig schwingt eine Schwermut mit, ein nostalgisches Warten eines Verliebten, Geflohenen und Vertriebenen zugleich. Alltägliche Details, an denen der Erzähler humorvoll die eigene Nichtzugehörigkeit in Deutschland bemerkt (die falsche Art, am Tisch zu essen, die fehlenden Bügelfalten an der Hose, die europäische „Kaufhauspsychologie“), verbinden sich mit alt- und neutestamentarischen Parallelen, mit Erinnerungen an verstorbene Freunde und Begegnungen mit anderen unsichtbaren Emigranten in der Nähe des Zoos: „In Berlin ist es unmöglich, es ist unhöflich, auf der Straße laut Russisch zu sprechen. Selbst die Deutschen flüstern ja fast. Hier wohnen darfst du, aber schweig.“ Die Geschichte dreht sich im Kreis, und wer weiß, vielleicht wird nun, hundert Jahre später, Berlin wieder zu der Stadt, in die sich Künstler und Literaten aus Russland zurückziehen, um angespannt, zwiespältig das Geschehen in der Heimat zu beobachten.
Obwohl Artikel und obligatorische Prädikate im Deutschen die Lakonie der Übersetzung erschweren, findet Olga Radetzkaja stets Wege, die syntaktische Leichtigkeit und den bitterheiteren Ton des Ausgangstextes wiederzugeben:
Клянусь тебе – брюки не должны иметь складки.
Брюки носят, чтобы не было холодно.
Спроси у „Серапионов“.
Наклоняться над пищей, может быть, и в самом деле нехорошо.
Ты говоришь о нас, что мы не умеем есть.
Мы слишком низко наклоняемся к тарелкам, а не несем пищу к себе.
Что же, будем удивляться друг на друга.
Многое для меня удивительно в этой стране, где брюки должны иметь спереди складку; те, кто бедней, кладут на ночь брюки свои под матрас.
В русской литературе этот способ известен, он применяется – у Куприна – профессиональными нищими из благородных.
Сердит меня здешний быт!
Так сердился Левин – „Анна Каренина“, – когда увидал, что в доме варят варенья не по левинскому способу, а по способу семьи Кити.2
Ich schwöre – eine Hose braucht keine Falte!
Hosen trägt man, damit einem nicht kalt ist.
Frag die „Serapionsbrüder“.
Sich übers Essen beugen ist vielleicht wirklich hässlich.
Du sagst, wir wüssten nicht, wie man richtig isst.
Wir beugen uns zu tief über die Teller, sagst du, statt das Essen zum Mund zu führen.
Meinetwegen, dann wundern wir uns eben übereinander.
Mich wundert vieles in diesem Land, wo eine Hose vorn eine Falte braucht und die ärmeren Leute ihre Hosen über Nacht unter die Matratze legen.
In der russischen Literatur ist diese Technik bekannt; angewendet wird sie – bei Kuprin zum Beispiel – von professionellen Bettlern aus höheren Kreisen.
Es ärgert mich, wie man hier lebt!
Denselben Ärger empfand Lewin (in „Anna Karenina“), als er sah, dass die Marmelade bei ihm zu Hause nicht auf die Lewinsche Art gekocht wurde, sondern nach dem Rezept seiner Schwiegermutter.
Olga Radetzkaja übersetzt relativ frei und klammert sich nicht an wortwörtliche Übersetzungen. An einigen Stellen wären sie aber angemessen; so bittet der Erzähler im vierten Brief seinen Dichterkollegen Velimir Chlebnikov um Verzeihung:
Климат, учитель, у нас континентальный.
Bei uns, Rabbuni, herrscht ein kontinentales Klima.
Obwohl es sich um die Anspielung auf eine Bibelstelle handelt, konkreter, um die Verleugnung Christi durch seinen Jünger Petrus, und der „Lehrer“ („учитель“) dem hebr./aram. „Rabbi“ oder „Rabbuni“ entspricht, steht in Šklovskij Text nun mal das russische Wort für „Lehrer“. Ähnlich wird die Anspielung auf eine andere Bibelstelle (Math. 8:20, Luk. 9:58) wiedergegeben: „Der Fuchs hat seinen Bau, dem Häftling gibt man eine Pritsche, das Messer nächtigt in der Scheide, du aber hattest nicht, da du dein Haupt hinlegtest.“ (Ebd.) Warum nicht einfach – „du aber hattest keinen Ort, an dem du dein Haupt hinlegen konntest“?
Im gleichen Brief wird dem Satz „Прости нас за себя и за других.“ ein Relativsatz hinzugefügt: „Vergib uns für dich selbst und für die anderen, die wir noch umbringen werden.“ Im Ausgangstext bleibt es vage, wofür genau verziehen werden soll, „die wir noch umbringen werden“ ist meiner Ansicht nach eine zu spezifische Interpretation, die als ein Schlüsselsatz des Briefes gelesen werden könnte.3
Als der Dichter Chlebnikov erfährt, dass seine Angebetete, der er seine Texte vorgelesen hat, nun mit einem anderen Mann verheiratet ist, fragt er den befreundeten Erzähler:
Скажите, что им нужно? Что нужно женщинам от нас? Чего они хотят? Я сделал бы все. Я записал бы иначе. Может быть, нужна слава?
Was suchen sie bloß? Was suchen die Frauen bei uns? Was wollen sie? Ich hätte alles getan. Sogar anders geschrieben. Vielleicht suchen sie Ruhm?
„Записал“ ist im Russischen eine vollendete Verbform, dh. Chlebnikov erklärt, damals etwas Bestimmtes, irgendeinen abgeschlossenen Text, auf eine andere Weise geschrieben haben zu können. „Ich hätte sogar anders geschrieben“ weckt allerdings die Vorstellung, dass Chlebnikov bereit ist, sein ganzes Schreiben grundsätzlich an die Vorstellungen seiner Geliebten anzupassen. Gerade das ist aber die feine Pointe dieser Stelle – der in seinen Gefühlen verletzte Dichter bereut nämlich nicht sein ganzes Werk, er versucht lediglich den Zeitpunkt zu erraten, an dem er einen Fehler begangen haben könnte. Aus dem „sowjetischen Pass“ („советский паспорт“, später in einem bekannten Gedicht Majakovskijs aufgegriffen), der dem Autor Ėrenburg (zudem einem Juden, was die Situation zusätzlich erschwert) beneidenswerte Freiheiten ermöglicht, wird in der Übersetzung wiederum ein „Pass“ im Allgemeinen.4
Ein wenig stört das stets großgeschriebene Anredepronomen („Du“), das sowohl dem Ich-Erzähler als auch der Frau, Alja, eine allzu höfliche Distanzierung vom Gegenüber zuschreibt und, soweit ich es der neusten gesammelten Ausgabe entnehmen kann, nicht dem Ausgangstext entspricht.
Allerdings sind es Feinheiten, die kaum den angenehmen Gesamteindruck trüben. Die Beschäftigung mit Olga Radetzkajas Übersetzung bereitet Freude und motiviert dazu, weitere Texte von Šklovskij und seinen jungen literarischen Mitstreitern zu lesen (zahlreiche von ihnen kamen unter Stalin ums Leben) und wieder in die Welt der fabelhaften russischen Literatur der 20er Jahre einzutauchen. Unbedingt zu empfehlen!
Nach der Katastrophe
In eigenen Sphären
Verlorene Kindheit
Im Portrait: Thomas Weiler
Neues von der Meisterin des Minimalismus
„Die Systeme weisen den Menschen bestimmte Rollen zu, nicht umgekehrt“
- Striedter, Jurij (Hrsg.). Texte der russischen Formalisten. Band 1. München 1969.
- Šklovskij, Viktor. Sobranie sočinenij. Tom 2. Biografija. Moskva 2019, S. 209. [E‑book]
- Anm. d. Red.: Laut Übersetzerin gibt die neue Gesamtausgabe an dieser Stelle den Text von 1923 nicht korrekt wieder.
- Anm. d. Red.: Laut Übersetzerin gibt die neue Gesamtausgabe an dieser Stelle den Text von 1923 nicht korrekt wieder.