
In der Rubrik „Meisterwerk“ stellen Gastautorinnen und Gastautoren ihre Lieblingsübersetzung vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier nachzulesen.
Es ist als Autor*in nicht leicht, dem Genre der gesellschaftskritischen Dystopie beizukommen, denn sie darf sich nicht zu sehr der moralischen Intention ergeben, die doch aber meist ihr Ausgangspunkt ist. „Seht, das steht uns bevor, wenn wir den Tendenzen, die momentan in unserer Gesellschaft wirken, nicht entgegentreten“, ruft sie implizit aus, aber wenn es bei diesem Ausruf bleibt, ist das darstellerische Potential der Erzählung, des Romans oder des Films schnell erschöpft. Um dies zu verhindern, bedarf es einer gewissen Faszination, einer mindestens ambivalenten Lust an der Gestaltung der schlimmen Welt. Für einen literarischen Text ist es am interessantesten, wenn der Baustoff der neuen Welt das eigene Medium, also die Sprache ist. Und für die Übersetzerin bietet es die spannendste Herausforderung.
Der ungarische Autor, Journalist und Übersetzer Lajos Parti Nagy hat 2000 mit Meines Helden Platz einen Roman mit einer ganz einfachen, warnenden Handlung geschrieben: Tauben übernehmen die Macht. Sie sind eine Allegorie für die nackte Gewaltherrschaft, ihr Machtanspruch ist die pure Herrscherlust und das Mittel dazu ist politischer Terrorismus. Die Tauben arbeiten an einer „Superrasse“ – sie versuchen, den Menschen zu taubifizieren. Der Ich-Erzähler des Romans wird zum Prototyp, an ihm wird zum ersten Mal erfolgreich die Transplantation von Flügeln und Schnabel sowie das Fliegenlernen ausprobiert.
Aus diesem Handlungsentwurf heraus könnte man sich eine kühle, düstere Dystopie ausmalen. Ihre Warnung läge auf der Hand, die Faszination ließe sich in den technischen und medizinischen Vorgängen verorten. Aber Parti Nagy macht daraus etwas gänzlich anderes. Die Verwandlung von Mensch in Taube: Beiwerk und lediglich dramaturgisches Grundgerüst für eine irrsinnige, wahnwitzige, zum Brüllen komische und dadurch umso beängstigendere politische Satire. Denn vom Haupttäuberich Cäsar Tubitza bliebe wohl nicht mehr viel übrig, würde man ihn seiner Eitelkeit und seines Narzissmus berauben. Er ist der meisterhafte Inszenator eines Machtanspruchs, dessen Hohlheit beständiger Übersteigerung, sinnloser Pracht, brutaler Ideologie bedarf. Und wenn der Erzähler mal von den Besuchen und dem Selbstberauschungsgelaber Tubitzas verschont wird, ist er den Brunftüberfällen der First Lady ausgeliefert: hinreißende Szenen blindwütig verschrobener Geilheit.
Damit der Schrecken an dem terroristischen Potential bloßer Machtlust nicht nur Behauptung bleibt, muss er in die Dramaturgie der einzelnen Szenen einwandern. In Parti Nagys Roman ist nahezu jede Begegnung von Erzähler und Taube streng durchrhythmisiert und macht damit bereits auf dieser Ebene das Übersetzen zu einer hochreizvollen Nachdichtungsaufgabe für die Sprachkünstlerin Terézia Mora. Prahlerei, Einschüchterungsmimiken, Miniaturduelle, etwa beim gemeinsamen Kognakschlürfen von Mensch und Taube: All das lässt sich zwar auch konventionell beschreiben, gewinnt seine szenische Kraft aber nur in der Performance, in der Choreographie von Gerede, gezielt gesetzten Pausen, minutiös getakteten Kopfwacklern. Wenn das in der Übersetzung seine Wirkung nicht verlieren soll, muss die Übersetzerin über Freiheit und Präzision in gleichem (Über-)Maß verfügen können. Denn wenn in der Übersetzung beispielsweise ein Wort zu viele Silben bekäme, oder ein Quasselsatz zu wenig Nebensatzverschachtelungen, wenn die notwendige Pause nur mittels langweiliger Füllwörter bestritten würde, dann brächte das den Rhythmus der Szene zum Einsturz. Schon hier zeigt sich Moras große Kunst im rein Technischen.
Spektakulär in Parti Nagys Roman aber ist, wie solche Dramatisierungen im Sprachlichen allein, also in der Rede der Tauben geleistet werden. Das Hauptaugenmerk des Autors liegt auf der maximalen Entfaltung des Potentials von Sprache als Instrument für politischen Wahn und zur Darstellung narzisstischen Irrsinns. Der Schauder vor den faschistischen Umtrieben, die abzuschaffen unserer vermeintlich so aufgeklärten Gesellschaft immer noch nicht gelungen ist – die dunkle Faszination, wie eine lachhafte Bewegung zur terroristischen Macht wird: all das spielt sich in der Hauptsache im Erschrecken vor und im Spaß am Gequassel der Tauben ab, an den Kapriolen ihrer Rhetorik, an den Auswüchsen ihres Slangs, am Rhythmus ihres Unsinns-Sprechs. Womit der Roman endgültig zu einem Fest für die Übersetzerin wird.
Damit den Tauben das Maximum an Gequassel zur Verfügung steht, muss Sprache zunächst entfesselt werden. Ob Kalauer („Fickzion“ als Vorwurf an den Fiktion schaffenden Ich-Erzähler), Wortneuschöpfungen, Jargon, Dia- und Soziolekte – die Tauben wandern mühe- und rücksichtslos von Charlie Chaplins Hynkel-Rede (Schtonk) über Anthony Burgess’ Brutalojugendslang (horrorshow) bis zu Wolf Haas’ Laberkumpanei („Das glaubst du nicht, was jetzt wieder passiert ist“), manchmal innerhalb eines Satzes.
Dieses Erzeugen sprachlichen Reichtums wird aber benutzt, um darzustellen, was für ein Unterwerfungsapparat Sprache ist. Denn das Gequassel ist nicht anarchisch. Es ist der mentale Motor für den Terror, den die Tauben aufbauen. Die Entfesselung des Sprachlichen vom bloß Konventionellen dient dazu, die Palette anzureichern, um die Grässlichkeit, die Brutalität von sprachlichen Floskeln noch drastischer malen zu können.
Man mache die Probe aufs Exempel und interviewe Menschen in der Fußgängerzone mit der folgenden Unsinnsfrage: „Was sagen Sie dazu, dass es nun tatsächlich mit dieser Welt nun schon so weit gekommen ist: auf den Telegraphenstangen sitzen die Kühe und spielen Schach?“ Wahrscheinlich bekommt man öfter, als einem lieb ist, eine Bestätigung zu hören und weitere Beispiele dafür, wie weit es mit der Welt gekommen sei. Man reagiert auf das Muster, das diese semantisch unsinnigen Sätze des Dadaisten Richard Huelsenbeck aus seinem Gedicht Ende der Welt ausprägen: eine Art Stammtisch-Lamento, Struktur als Floskel.
Das ist der beständige Unterstrom der Taubenrede. Darauf bauen sich die jeweiligen Syntaxen auf, je nachdem, wer in welcher Situation spricht. Da gibt es zum Beispiel das subalterne Behördensprech mit der angestrengt inkorrekten Kausalverknüpfung: „Das hätte man aber anmelden müssen, weil das ist eine Luftraumaktivität.“ (Was dann zu großem Pathos anschwellen kann, wenn der Haupttäuberich einen Anrufer wie folgt abwimmelt: „Laßt mich jetzt, weil ich rede jetzt mit einem mutigen Menschen.“)
Oft ist die Syntax weitaus verschachtelter. Nicht aus Gründen der Eleganz – denn die Gedanken der faschistoiden Tauben werden beim Reden nicht verfertigt, sondern gleich wieder dementiert. Meist ist das nächste Glied in der Gedankenkette nur dazu da, die Ungenauigkeit des letzten auszumerzen, aber dann wird es noch ungenauer, und manchmal muss dann auf etwas noch Früheres Bezug genommen werden und so weiter. Ein selbstverschuldetes Chaos, das manches Mal zur Selbstberauschung des Sprechers dient, in jedem Fall aber den Erzähler wie ein wirr gestricktes Lasso fängt. Ein beliebiges Beispiel:
’S knallt wie der Haiderdonner, aber darum geht’s jetzt nicht. Sondern darum, daß er gestern vom Ausland wiedergekommen ist, und ursprünglich habe er nur seine Dankbarkeit auch persönlich bekräftigen wollen, beziehungsweise seine Entschuldigung, denn ihm sei erst kurz vor seiner Dienstfahrt, sozusagen bereits in der Luft, zur Kenntnis gebracht worden, daß diese strichowiener turtur Hure so ein Ding von mir ausgeliehen hat, ein lebensmitteltechnisches, ja amtsärtzliches Gerät, und das als gelernte OP-Schwester, da bleibt einem ja die Spucke weg, ichkanndirsagen.
Das lebensmitteltechnische Ding ist eine Mikrowelle. Amtsärtzlich wird es, weil es der Beginn für den Alptraum der Taubenmenschproduktion ist. Im Verlauf wird der Erzähler operiert, Haut und Flügel werden ab- und antransplantatiert. Ein Gemetzel am aufgeschnittenen Körper, das Parti Nagy auch im Sprachlichen stattfinden lässt. Er schnibbelt an der Oberfläche des vermeintlich sprachlich Konventionellen herum, greift tief in die Eingeweide der Sprache, klebt Dinge aneinander, die eigentlich nicht zueinander passen, modelliert Monstren an Hohlsprech.
Um das in eine andere Sprache zu bringen, bedarf es einer Übersetzerin, die in diesem Modellieren in der Zielsprache trainiert ist. Was heißt trainiert? Deren ureigenstes Interesse in eben dieser Dehnung konventionell gewordener Sprache liegt, im Ausreizen ihrer Möglichkeiten, im Spiel mit ihren Abgründen. Die Worte und Satzmelodien finden, erfinden kann, die Schmäh und Befehl, die Verführung und Kommando zugleich sind. Für die Rhythmus und Syntax noch nie nur Bedingungen für Wohlklang und stilistische Eleganz waren, die stattdessen immer schon überprüft hat, wie sehr und auf welche Weise sie für Propaganda und Ideologie benutzt werden.
Terézia Mora arbeitet genau daran in der eigenen Prosa ihrer Romane und Erzählungen. Aber sie hätte sich wohl nie die Grellheit von sich aufplusternden, bedrohlichen weil operettenhaft lächerlichen Tauben als Stoff gesucht. Insofern ist ihre Arbeit an der Übersetzung von Parti Nagys Roman auch ein Glücksfall für eine sprachliche Entgrenzungsarbeit in einem Register, das man sonst nicht hätte bestaunen und beschaudern können.
