Der Legende nach wusste lange Zeit niemand, ob Marieke Lucas Rijneveld jemals lesen und schreiben lernen würde. Heute ist der Autor aus den Niederlanden ein gefeierter Literaturstar. In Deutschland ist er vor allem wegen seiner beiden Romane bekannt: Was man sät erschien 2019, drei Jahre später folgte mit Mein kleines Prachttier die zweite deutschsprachige Übersetzung. Jetzt ist mit Kalbskummer – Phantomstuten erstmals auch Lyrik von Rijneveld auf Deutsch erschienen.
Der Suhrkamp-Verlag holt mit der neuesten Übersetzung gleich zwei Lyrikbündel zu uns. Kalfvlies (Kalbskummer) war Rijnevelds erstes literarisches Werk überhaupt, mit Fantoommerrie (Phantomstuten) folgte einige Jahre später ein zweiter Gedichtband. Vermutlich will Suhrkamp dadurch einen gewissen Rückstand aufholen: Kalfvlies erschien schon vor sieben Jahren in den Niederlanden, Fantoommerrie kam 2019 heraus. Dieses Jahr hat Rijneveld übrigens schon den dritten Poesieband in den Niederlanden veröffentlicht.
Dass uns Marieke Lucas Rijneveld als Dichter präsentiert wird, ist aber nicht die einzige Neuigkeit, die die Veröffentlichung mit sich zieht. Mit Ruth Löbner ist auch eine neue Übersetzerin am Werk; die beiden Romane übersetzte Helga van Beuningen ins Deutsche. Damit tritt Löbner in große Fußstapfen. Als erfahrene Übersetzerin gelang es Van Beuningen, die Schonungslosigkeit beider Romane routiniert ins Deutsche zu übertragen. Und so viel sei schon einmal gesagt: Hinter dieser Leistung braucht sich Löbners Übersetzung nicht zu verstecken.
Keine Konventionen
Aber alles der Reihe nach. Bevor wir uns der Übersetzung widmen, schauen wir noch einmal kurz auf den 223 Seiten starken Gedichtband, den Suhrkamp Mitte August als zweisprachige Edition veröffentlicht hat. Fast genau in der Mitte, auf Seite 112, wechselt der Text von Kalbskummer hin zu Phantomstuten. Thematisch zieht sich allerdings ein roter Faden durch den Band. In der Einleitung heißt es:
„Marieke Lucas Rijnevelds lyrisches Universum ist unnachahmlich und doch so vertraut. Seine Gedichte sind bevölkert von Fröschen, Schmetterlingen und Seesternen, von Vätern, denen schwierige Fragen gestellt werden – ‚Woher kommen die Kinder, wenn Eltern sich gar nicht küssen?‘ –, von unsterblichen Großmüttern und Jugendlichen auf ihrem Weg zu einer belastbaren Identität.“
Damit reiht sich der Band thematisch in die klassischen Rijneveld-Sujets ein. Erwachsenwerden und die Suche nach dem eigenen Ich. Gender und Sexualität. Queerness mitten im niederländischen Calvinismus. Das raue Leben auf dem Land, umgeben von zahllosen Tieren.
Rijnevelds Gedichte sind frei komponiert, sie sind nicht gereimt und in kein starres Metrum gepresst. Mit ihrem prosaischen Stil gleichen sie vielmehr Romanfragmenten oder Stilübungen. Erst durch die besonders fantasievolle, bildhafte und dichte Sprache werden die Texte zu Lyrik. Darin wimmelt es geradezu von Vergleichen und Metaphern, besonders mit Bildern aus der Natur und dem Tierreich.
Ein zerbrechlicher Blick
Wie aber gibt Rijneveld seine Lyrik wieder? Erzählen lässt er seine Gedichte von einem lyrischen Ich, das einen unverstellten und unvoreingenommenen Blick auf die Welt wirft. Dadurch wirkt die Sprecherstimme direkt und schonungslos, aber auch jugendlich, zart, um nicht zu sagen: naiv.
Andererseits verwendet das lyrische Ich oft ein Register, das eher antiquiert daherkommt. Diese Kombination aus jugendlicher Sprecherstimme und teilweise angestaubtem Stil ist wohl eine der größten Herausforderungen, der sich Ruth Löbner bei der Übersetzung hat stellen müssen.
Und diese Aufgabe meistert sie souverän. Löbner zeigt, dass sie die Gegensätzlichkeit gekonnt ins Deutsche übertragen kann. Die Sprecherstimme kommt trotz des ungewöhnlich hohen Registers ebenso naiv-jugendlich daher wie im Original. Ein Beispiel findet sich im Gedicht Zeeland, das von einem Familienurlaub an der Küste handelt. Das lyrische Ich vergleicht darin die Seesterne im Meer mit Sternschnuppen und ihrer angeblichen Kraft, Wünsche zu erfüllen:
Je zegt dat zeesterren / van beneden naar de hemel zijn gevallen, op de bodem wachten totdat ze / in een schepnet belanden om iemands wens in vervulling te laten gaan
Du sagst, Seesterne seien / vom Himmel gefallen, warteten auf dem Boden darauf, in einem / Fischernetz zu landen und jemandem einen Wunsch zu erfüllen
Die indirekte Rede gibt Löbner dabei mit dem Konjunktiv I wieder. Das Niederländische kennt die Möglichkeitsform allerdings nicht, Rijneveld verwendet den Indikativ für die indirekte Rede. Kindern und Jugendlichen würde man den Konjunktiv nicht unbedingt in den Mund legen – und wenn, dann eher mit „würde“. Mit dem Konjunktiv I bringt Löbner den eigenwilligen Rijneveld-Stil allerdings überzeugend ins Deutsche. Gäbe es ihn im Niederländischen, nutzte Rijneveld ihn wahrscheinlich auch für jugendliche Protagonist:innen.
Wohldosierte Eingriffe
Das bewegendste Gedicht im Doppelband trägt den Titel Kindersorgentelefon. Allein die Überschrift macht klar, dass auch dieses Gedicht wieder aus der Kinderperspektive erzählt wird. Es geht um einen Anruf bei der Nummer gegen Kummer, denn das lyrische Ich hadert mit seinem schwulen Begehren:
Alles wat overwoekert, is onkruid, probeerde daarom met iets / kleins te beginnen, over dat ik graag een kat of anders een cavia zou / willen, iets wat ik kan aaien als mijn hand de warmte van een lichaam / zoekt, dat ik soms zo slis dat niemand me wil verstaan, alsof ik in de / woestijn sta en roep om een glas water. Behalve als ik scheld met homo, / enkel om te verbloemen dat ik zelf stiekem van jongens met krullen houd, / nachtenlang voetbal ik met ze en denk aan tongen.
Alles Überwuchernde ist Unkraut, wollte deshalb erst mal mit was / Kleinerem anfangen: dass ich gern eine Katze hätte oder sonst ein Meerschweinchen, / etwas zum Streicheln, wenn meine Hand einen warmen Körper sucht, dass / mich manchmal niemand verstehen will, weil ich so lispele, als würde ich in der / Wüste um ein Glas Wasser betteln. Außer, wenn ich Schwuchtel schreie, bloß / um zu vertuschen, dass auch ich heimlich auf Jungs mit Locken stehe, ganze / Abende spiele ich Fußball mit ihnen und denke ans Knutschen.
Um die Mündlichkeit des Gedichts zu erhalten, behält Löbner die Ellipse im ersten Vers bei: „probeerde daarom met iets / kleins te beginnen“ übersetzt sie mit „wollte deshalb erst mal mit was / Kleinerem anfangen“. Außerdem ergänzt sie im Deutschen den Vers um die Partikel „erst mal“ und übersetzt „iets“ mit „was“ statt „etwas“. Auch dadurch wirkt das Gedicht mündlich erzählt und lebhaft; ohne die Ergänzung „erst mal“ würde der Übersetzung dieselbe Authentizität wie im Original fehlen.
Und dann sind da noch die Beleidigungen in dem Gedicht, mit denen sich das lyrische Ich selbst beschimpft: „Loser. Huilebalk. Homo. Apenkop. Halvegare.“ Daraus macht Löbner „Loser. Heulsuse. Schwuchtel. Sackgesicht. Vollidiot.“ Interessant ist hierbei die Übersetzung von „Apenkop“, wortwörtlich entspricht diese Beleidigung dem deutschen „Affenkopf“, idiomatisch würde man das wohl mit „Lausbub“ oder „Bengel“ übersetzen. Mit „Sackgesicht“ geht der Übersetzung zwar etwas Schelmisches verloren, das im Niederländischen mitschwingt. Allerdings passt „Sackgesicht“ in den Kontext, der von Selbsthass und Wut handelt.
Eine Spagatlösung
Im Gedicht Vorleseväter wird Löbner allerdings mit einem Problem konfrontiert, das bei Lyrikübersetzungen schwierig zu lösen ist: Realia. „Vorleseväter“, „Läusemütter“ und „Pipikette“ sind in den Niederlanden gebräuchliche Begriffe aus dem Schulalltag von Kindern. Auf Deutsch sind sie allerdings unverständlich, unter einem Vorlesevater kann man sich möglicherweise noch etwas vorstellen; unter einer Läusemutter und einer Pipikette aber nicht unbedingt.
In einer Prosa-Übersetzung würden diese Realia wahrscheinlich erläutert werden, wenn sich deren Bedeutung nicht durch den Kontext erschließt. Gedichte bieten dafür allerdings keinen Platz. Durch die wortwörtliche Übersetzung von „Luizenmoeder“ bleibt dann auch der Satz „Nicht Finger wie Kämme hatten sie dabei“ unverständlich; beim Lesen kommt man nicht darauf, dass Mütter in den Niederlanden den Schulkindern ehrenamtlich die Haare kämmen, um auf dem Kopf nach Läusen zu suchen. Aber wie sonst hätte man diesen kulturspezifischen Begriff in einem Gedicht übersetzen sollen?
Übersetzerin Ruth Löbner greift insgesamt wohldosiert in den Text ein. Dadurch schafft sie es, den jugendlich-frischen, aber auch ernst-antiquierten Rijneveld-Sound ins Deutsche zu transportieren, ohne dass die Gedichte an Authentizität verlieren. Im Gegenteil. Die Verse auf Deutsch zu lesen, löst dieselben Gefühle und Reaktionen aus wie das Original. Löbner gelingt ein Übersetzungsspagat. Und das ist angesichts des eigenwilligen Stils von Marieke Lucas Rijneveld eine beeindruckende Leistung.