Bei Teneriffa denkt man an Urlaub, Sonne, Strand, doch schon auf den ersten Seiten von So forsch, so furchtlos werden Leserinnen und Leser mit einer völlig anderen Lebensrealität konfrontiert. Sie bekommen von der jugendlichen Erzählstimme ein Inselleben präsentiert, das in keinem Reiseführer beschrieben wird: Der Vater arbeitet im Bau, die Mutter putzt den Touristen hinterher, und über den abergläubischen Dorfbewohnern liegt eine Traurigkeit, „wie Wolken […], die oben am Hinterkopf [hängen].“ Die Ich-Erzählerin und ihre Freundin Isora träumen oft vom Strand, doch sie leben im Landesinneren, am Fuße des Vulkans und nicht nur räumlich weit weg von allen Urlaubsfantasien.
Noch tiefer als in das dörfliche Teneriffa tauchen Leserinnen und Leser in die Gefühlswelt der jungen Erzählerin ein, auch wenn sie diese Gefühle mitunter selbst noch nicht versteht. Die Ich-Erzählerin, von ihrer Freundin „Shit“ genannt, himmelt Isora an, denn die ist furchtlos und forsch, rechthaberisch und rüpelhaft und traut sich so ziemlich alles. In einer Mischung aus Ehrfurcht, Eifersucht und Bewunderung für die reifere Freundin muss sich die Ich-Erzählerin auf eine vorpubertären Achterbahn der Gefühle zwischen Barbies und Erwachsenwerden einlassen, bei der ihr „kleines Herz […] wie in alle Richtungen zerfetzt.“
Mit diesem Buch, das wie aus dem Bauch heraus geschrieben wirkt, hat die junge Autorin Andrea Abreu ihre Übersetzerin Christiane Quandt vor eine große Herausforderung gestellt. Diese lässt sich wiederum voll und ganz auf die experimentelle, bildhafte und vulgäre Sprache der jungen Protagonistinnen ein. In dem Gewirr langer verschnörkelter Sätze, ganzer Kapitel ohne Satzzeichen und jeder Menge Verweise sowie Realia dürfte die größte Schwierigkeit gewesen sein, den Ton der Erzählerin zwischen kindlicher Ehrlichkeit und gnadenloser Ernsthaftigkeit auf Deutsch zu finden, was meist sehr gut gelungen ist. Und auch wenn die eingestreuten Songtexte von Bachata-Liedern auf Deutsch deutlich blumiger als auf Spanisch klingen, bieten die starken Bilder und das Spiel mit Sprache ein mitreißendes, oft unangenehm berührendes Leseerlebnis. – Freyja Melsted
Andrea Abreu/Christiane Quandt: So forsch, so furchtlos (Panza de burro), Kiepenheuer & Wietsch 2022, 180 Seiten, 20 Euro
Eine Zeit lang war Potosí der Nabel des Universums: Vom 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert war die Stadt in den bolivianischen Anden eine der größten Metropolen der Welt, von der aus Unmengen an Silber nach Spanien und um den ganzen Globus verschifft wurden. „Valer un Potosí“ hieß damals „ein Vermögen wert sein.“ Potosí heißt nun auch das Buch des spanischen Journalisten Ander Izagirre, das unter dem Titel Der Berg, der Menschen frisst in der Übersetzung von Grit Weirauch bei Rotpunkt erschienen ist. Doch das Potosí, das Izagirre in seinem Buch beschreibt, ist von dem einstmaligen Reichtum weit entfernt: Die Stadt zu Füßen des Cerro Rico – des „reiche[n] Hügels“, dem die spanische Krone ihr Silber und die deutsche Übersetzung ihren Titel verdankt – ist mittlerweile die Ärmste des ganzen Landes.
Auf dem Cerro Rico trifft Izagirre die vierzehnjährige Bergarbeiterin Alicia. Obwohl Minderjährigen die schwere körperliche Arbeit in den Minen eigentlich verboten ist, schiebt sie Loren, seit sie zwölf ist – nachts, damit sie tagsüber zur Schule gehen kann. Anhand von Alicia, ihrer Familie und den anderen Menschen, die Izagirre auf dem Cerro Rico trifft, zeichnet er die Geschichte des Erzabbaus in Bolivien nach: Von der spanischen Kolonialherrschaft über die steuerflüchtigen Bergbauoligarchen des 19. und 20. Jahrhunderts und die CIA-gestützten Militärdiktaturen bis in die Jetztzeit beschreibt er die komplexen Umstände, die dafür sorgen, dass der Rohstoffreichtum des Landes der allgemeinen Bevölkerung nie zugute gekommen ist und die den Cerro Rico noch heute zu einem Berg machen, der Menschen „frisst“: durch Unfälle in der Mine, Silikose, Armut, Alkoholismus und Gewalt.
Izagirre ist nah an den Menschen, über die er berichtet, und lässt seine eigenen Gedanken und Gefühle stetig mit in den Text einfließen. Diesen persönlichen Tonfall bringt Grit Weirauch zielsicher ins Deutsche. Besonders gelungen ist, dass auch in der Übersetzung einige Wörter aus dem Bergbaumilieu im bolivianischen Spanisch belassen wurden, z. B. copajira (der „Schweiß der Mine“, schwefelsäurehaltiges Sickerwasser) oder veinticuatrear („vierundzwanzigern“, eine Schicht von 24h unter Tage verbringen). Merkwürdig sind jedoch die Topikalisierungen, die in der Redewiedergabe häufig auftauchen („traurig ist unser Leben“, „alleine sind wir hier“, „einen schlimmen Traum hatte sie“) und im Deutschen eher gestelzt als mündlich wirken. Möglicherweise soll so eine bestimmte Art des Sprechens markiert werden, doch wäre dafür eine weniger antiquiert klingende Konstruktion zielführender. Auf den gesamten Text gesehen fallen diese Stellen nicht zu sehr ins Gewicht, sodass Der Berg, der Menschen frisst auch auf Deutsch eine eindringliche, wenn auch nicht immer einfache Lektüre bleibt. – Anna Pia Jordan-Bertinelli
Ander Izagirre/Grit Weirauch: Der Berg, der Menschen frisst (Potosí), Rotpunkt 2022, 224 Seiten, 25 Euro
Ich muss zugeben, dass ich noch nie ein Comic oder eine Graphic Novel gelesen habe. Ich habe es als Kind oft versucht, aber schon nach der zweiten Seite aufgeben. Heutzutage ist die Auswahl so überwältigend, dass ich es einfach nie gewagt habe, ein komplett neues Genre für mich zu erkunden. Daher war meine Motivation Núria Tamarits El enebro in Lea Hübners Übersetzung für Reprodukt zu lesen zwar groß, aber meine Bedenken auch: Wenn ich es schon als Kind nicht durch Asterix y Obelix geschafft habe, warum dann durch Vom Wacholderbaum?
El enebro ist Tamarits Graphic Novel des grimmschen Märchens „Von dem Machandelboom“, welches die klassisch brutale Geschichte einer Stiefmutter erzählt, die den Erstgeborenen ihres Mannes tötet, dann die Schuld auf die gemeinsame Tochter schiebt und dem Gatten auch noch den eigenen Sohn zum Abendessen serviert. Also keine leichte Kost, no pun intended. Tamarits Narrativ ist zwar märchenkonform grausam, aber überraschend witzig, ohne die Geschichte zu aktualisieren. Und so auch Hübners Übersetzung. Die Dialoge in El enebro wirken an manchen Stellen etwas volkstümlich und dies gelingt Hübner rückübersetzend ebenso. Wenn die Dialoge unerwartet einen umgangssprachlichen Ton annehmen wie bei der Figur des Todes oder des Teufels, ist dies in der deutschen Übersetzung auch gelungen. Die Übersetzung der Lautmalereien ist so leichtgängig, dass ich zuerst dachte, sie wären gar nicht übersetzt worden. Sie passen perfekt in Núria Tamarits hypnotisierende Illustrationen, welche zu einem perfekten Graphic-Novel-Erlebnis führen, auf das mit Sicherheit noch weitere folgen werden. – Susana Mogollón Guarín
Núria Tamarit/Lea Hübner: Vom Wachholderbaum (El enebro), Reprodukt 2022, 72 Seiten, 18 EUR
Vieles verbindet die beiden Hauptpersonen María und Alicia: das Leben in Madrid, das fehlende Geld, das Schuften für reichere Menschen, die Zerrüttung der Familie. Aber eines verbindet die beiden besonders: das Frausein. Sowohl María, die Ältere, als auch ihre Enkeltochter Alicia verkörpern unglaublich starke, selbstbestimmte Frauen und verfolgen einen ganz eigenen, für das Spanien der Siebziger Jahre und der Gegenwart untypischen Lebensentwurf.
Die spanische Lyrikerin Elena Medel hat mit Die Wunder ein preisgekröntes Romandebüt veröffentlicht, in dem sie die Lebenswege der Großmutter María und der Enkeltochter Alicia einfühlsam und raffiniert zusammenführt. María, in einem Dorf aufgewachsen und früh unverheiratet schwanger geworden, wird von ihrer Familie nach der Geburt der Tochter nach Madrid geschickt, um dort Geld zu verdienen, und darf sich nicht an der Erziehung ihres Kindes beteiligen. Auch Alicias Leben wird von einer Tragödie bestimmt. Zwar sind die beiden Frauen nicht immer sympathisch, aber ihre Entscheidungen und ihre Entschlossenheit sind beeindruckend. Das eigene Geld, die eigene Wohnung, das eigene Leben bedeutet beiden alles, und als Pedro, der Freund von María, sie zu überreden versucht, in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, kommt sie zu dem Schluss: „Es geht nicht um Geld […], es geht um Macht. Darum, […] zu beweisen, dass er Macht über María hat.“ Und diese Macht wollen weder María noch Alicia der Männerwelt geben.
Dass Medel in der Poesie beheimatet ist, ist auch ihrem Romandebüt anzumerken. Die Sätze sind oft verschachtelt, mit unzähligen Einschüben versehen und teils wilden Perspektivwechseln ausgesetzt, auch fein gestreute Wiederholungen ziehen sich durch den Roman. Susanne Lange hat diese stilistischen Eigenheiten übernommen und führt die Leser:innen mit viel Sprachgefühl gekonnt durch die madrilenischen Wortlabyrinthe. Den eigensinnigen Stil Medels, der die eigensinnigen Charaktere widerspeigelt, hat die Übersetzerin fantastisch eingefangen. Die Wunder ist eine spanische Familiengeschichte, in der die Frauen die Hauptrollen spielen und das Heft nie aus der Hand geben. An solchen Frauen fehlt es in der Literatur noch viel zu oft – gut, dass es jetzt María und Alicia gibt. – Lisa Mensing
Elena Medel/Susanne Lange: Die Wunder (Las maravillas), Suhrkamp 2022, 221 Seiten, 23 Euro
Eine „spanische Pippi Langstrumpf“, ein „spanischer Harry Potter“ oder ein „spanischer kleiner Nick“ hat bisher nicht den Weg in deutsche Kinderzimmer gefunden – die iberische Halbinsel bildet geradezu einen blinden Fleck auf dem deutschen Jugendbuchmarkt. Ganze fünf Titel haben es seit 1956 auf die Auswahlliste des renommierten Deutschen Jugendliteraturpreises geschafft, zwischen unzähligen Büchern aus Frankreich, England, den Niederlanden und Skandinavien.
Diese – angesichts der lebendigen Kinderbuchszene in Spanien sehr bedauernswerte – Lücke hat leider auch der diesjährige Gastlandauftritt nicht geschlossen. Wie gut, dass mit Ella Piratella, der berühmtesten Piratin der sieben Weltmeere, nun immerhin eine Bilderbuchheldin den Weg aus Spanien zu uns gefunden hat, die das Zeug zum Superstar im Kinderzimmer hat.
Im ersten Band erobert Ella Piratella (die im Original Daniela Pirata heißt) zunächst das Oberkommando über das gefürchtete Seeräuberschiff Schwarze Mamba. Im zweiten Band jagt sie mit ihrer Crew der geheimnisvollen Bande der „Furchtlosen Piranhas“ hinterher. Die beiden Bände leben vor allem von den farbenfrohen, mitreißenden Bildern der Illustratorin Gómez. Ursula Bachhausens Übersetzung der knappen Erzähltexte (Original: Susanna Isern) liefert den passenden vorlesetauglichen, zielgruppengerechten Sound dazu, der Ella Piratella garantiert zum gefeierten Vorbild all jener machen wird, die von einer glanzvollen Karriere als Piratenkapitän*in träumen. – Felix Pütter
Susanna Isern/Ana Gómez/Ursula Bachhausen, Ella Piratella I & II (Daniela Pirata), Oetinger, 48 Seiten, 15 Euro
Ana ist eine junge okupa, die zusammen mit Gleichgesinnten im besetzten El Agujero in Madrid lebt und sich gegen die Übernahme des Viertels durch Hipster und Immobilienfirmen, gegen Polizeischikanen und Zwangsräumungen wehrt und den Aufstand gegen die Anderen ersehnt. Ihr Vater Aitor, angetrieben von Angst und Verzweiflung, versucht seine geliebte Tochter aufzuspüren und zurück nach Hause zu holen, in der Hoffnung, dass alles wieder wie früher wird, bevor er und seine Frau Isabel sich trennten und seine berufliche Laufbahn scheiterte. Die Beiden heuern einen Privatdetektiv an, der sie über den Aufenthalt und eventuelle illegale Tätigkeiten ihrer Tochter auf dem Laufenden halten soll. Doch die Überwachung verläuft anders als geplant …
Was wie ein Coming-of-Age-Roman daherkommt, entpuppt sich beim genaueren Lesen als gesellschaftskritische Erzählung, in der nicht die Jugend das Problem ist, sondern die Erwachsenengeneration, die den Missstand erst herbeigeführt hat. Die bis ins Detail beschriebene Gefühlswelt von Aitor offenbart seine Hilflosigkeit, sei es im Beruf, in der Erziehung oder im Alltag, und enttarnt die gelebte Doppelmoral. Der Lesende merkt, dass hier nicht die Kinder ihre Eltern brauchen, sondern umgekehrt. In einer Welt der Krisen, ausgelöst durch Erwachsene und nur zu retten durch eine neue Generation, macht genau das diesen Roman hochaktuell.
José Ovejero, geboren 1958 in Madrid, ist Autor zahlreicher Romane, Kurzgeschichten, Essays, Theaterstücke und Gedichte. 2013 wurde er mit dem Premio Alfaguara de Novela ausgezeichnet. Seine Übersetzerin Patricia Hansel arbeitet in einem Buchverlag und übersetzt kürzere fiktionale und Sachtexte. Ovejeros Portrait einer jungen Generation in Spanien, die sich nicht länger damit abfinden will, das kapitalistische System hinzunehmen und die gleichen Fehler wie die eigenen Eltern zu machen, wird von einem treibenden Rhythmus getragen. In ihrer ersten Romanübersetzung gelingt es Hansel, den Rhythmus und die Gefühlswelt verschiedener Generationen anschaulich und einfühlsam zu übertragen. – Viktoria Wenker
José Ovejero/Patricia Hansel, Aufstand (Insurrección), Edition Nautilus, 328 Seiten, 26 Euro
Es gibt wohl kaum einen Ort, der unsere Zeit so sehr prägt wie das Büro. Und besonders in den Großstädten, wo viele remote oder flexibel arbeiten, werden Räume, die eigentlich anderen Zwecken dienen (Cafés) zu Arbeitsplätzen umfunktioniert. Das mag zunächst wenig poetisch klingen, doch die spanische Lyrikerin Erika Martínez hat diesem modernen Zwitter-Ort ein ganzes Gedicht gewidmet, in dem das „Tastengeklapper“ zum „Antrieb zur Konzentration“ wird. Im Mittelpunkt steht aber vor allem die Beobachtung des wuseligen Drumerherums – der Schachspieler, der schreibende Dichterkollege und der hochtrabende Manager liefern den eigentlichen Stoff für dieses Gedicht, das mit der lakonischen Erkenntnis „Jeder Friedhof ist eine WLAN-Zone“ endet.
In ihrem vierten Gedichtband Zusammenprallen stellt sich Erika Martínez thematisch breit auf. Neben ortsgebundenen Betrachtungen (es gibt auch Gedichte über Bibliotheken und Werkstätten) geht es in ihrer Dichtung vor allem um Natur, Geschlechterdifferenzen und das moderne Großstadtleben. Martínez ist eine von wenigen weiblichen spanischen Dichtern, deren Arbeiten regelmäßig in diversen Anthologien erscheinen. Ihre Ichs erkunden nicht selten eine spezifisch weibliche Erfahrungswelt; ihr Werk jedoch darauf zu limitieren, wäre fatal und dagegen sträubt sich Martínez in den spanischsprachigen Medien. Chocar con algo erschien bereits 2017, wurde jedoch erst jetzt von dem Dichter José F. A. Oliver für den Hochroth Verlag Heidelberg übersetzt.
Ihr Übersetzer hat zwar andalusische Wurzeln, aufgewachsen ist Oliver jedoch im Schwarzwald, wo er noch immer lebt. Die beiden Dichter formen ein interessantes Tandem, das in diesem zweisprachigen Gedichtband nebeneinander glänzen darf. Oliver lässt Martínez den Vortritt; die Übersetzung scheint zunächst nur komplementär zum Original zu sein. Aber bei der genaueren Betrachtung wird deutlich, dass Oliver eigene Akzente setzt und seine deutschsprachige Interpretation dort präzisiert, rhythmisiert und zuspitzt, wo es möglich ist. – Julia Rosche
Erika Martínez/José F. A. Oliver, Zusammenprallen (Chocar con algo), Hochroth Heidelberg, 48 Seiten, 8 Euro